Materialien 1963
Der Weg zur Freiheit
„Wohlstand für alle“ – das ist seit Bestehen der Bundesrepublik ein oft gehörtes Schlagwort geworden. Aber auch die hartgesottensten Propagandisten, die Optimisten vom Dienst, haben inzwischen einsehen müssen, dass sich dieser Wohlstand mit den herkömmlichen Methoden nicht erreichen lässt. Im Gegenteil: nachdem der durch die Zerstörungen des letzten Krieges entstandene Nachholbedarf befriedigt und die Märkte gesättigt sind, steht man wieder vor dem Problem: wie sollen wir unsere Waren absetzen? Der Überfluss ist schon da, aber die Kaufkraft reicht nicht aus. Die Lohnforderungen der Menschen, die die Waren kaufen sollen, werden von den gleichen Unternehmern abgelehnt, die die Waren verkaufen wollen. Die Preise klettern immer höher. Trotzdem bekniet man uns noch: Haltet Maß! Wohin soll uns das führen? Wir haben genug von Hunger und Entbehrung, Geldentwertung und Arbeitslosigkeit, die wieder drohend auf uns zukommen. Sollen wir nicht rechtzeitig einen besseren Weg beschreiten, der den Überfluss der westlichen Welt endlich in den Wohlstand, die Sicherheit und die Lebensfreude für alle verwandelt? Sam Lilley, einer der angesehensten Gelehrten Englands, entwickelt in seinem leider vergriffenen Buch „Automation und sozialer Fortschritt“ (Globus Verlag, Wien 1956) bemerkenswerte Vorschläge zu diesem Menschheitsproblem. Da seine Gedanken nach unserer Meinung unsere augenblickliche Situation äußerst scharfsinnig charakterisieren, möchten wir einige Abschnitte aus dem Kapitel „Der Weg vorwärts“ zur Diskussion stellen.
Chronische Arbeitslosigkeit, außer in Zeiten des Krieges oder der Kriegsvorbereitung; Krisen von immer größerer Intensität; das Bestreben in jedem Land, selbst möglichst viel zu exportieren, aber die Importe zu beschränken, wodurch die Exporte anderer Länder verringert werden; Industrielle, die jeder für sich die Lohnkosten senken und so gemeinsam den Markt für ihre eigenen Waren einengen; einzelne Firmen, die versuchen, auf Kosten von anderen größer zu werden, ohne an die Wirtschaft als Ganzes zu denken; große Unternehmen, die die Kleinen auffressen und sich schließlich zu Monopolen entwickeln – alles das sind Dinge, die uns seit vielen Jahren vertraut sind. Und sie alle sind die Folge eines Wirtschaftssystems, dessen Grundlage darin besteht, dass die Produktion nur dem privaten Profit dienen muss. Sie sind die Folge davon, dass in einem solchen Wirtschaftssystem die Produktionskapazität unweigerlich rascher anwächst als die Kaufkraft der Konsumenten. Es ist auch nichts Neues an der Tendenz des Kapitalismus, die technische Entwicklung zu hemmen, noch auch an den verschiedenen Methoden, die man hierfür anwendet. Erst recht sind die Unzulänglichkeiten der Berufsausbildung nichts Neues in einer Wirtschaft, in der jene, die den Profit einstecken, mit jedem Groschen öffentlicher Ausgaben geizen.
Der Kapitalismus war in seinen Jugendtagen ein fortschrittliches System besser als irgend eines vor ihm. Einige seiner Schattenseiten waren wohl von Anfang an da, aber sie waren auf lange Sicht viel weniger bezeichnend als das Positive des Systems: Die Verwandlung einer Wirtschaftsordnung der Bauern und Handwerker in eine Wirtschaftsordnung der fabrikmäßigen Großproduktion, welche die Grundlage für eine Hebung des Lebensstandards bieten konnte. Aber trotz seiner energievollen und konstruktiven Jugendzeit ist der Kapitalismus auf seine alten Tage lahm geworden – er hinkt immer stärker, je mehr die Jahre vergehen.
Aber selbst in der Frühzeit des Kapitalismus erwies sich seine Unfähigkeit, den Arbeitern genügend Kaufkraft zu vermitteln, um das kaufen zu können, was sie erzeugen. Solange England die „Werkstätte der ganzen Welt“ war und selbst einige Zeit danach, als sich auch andere Länder hinzugesellt hatten, wurde man mit dem Problem leicht fertig, indem man riesige Mengen der erzeugten Waren an Länder verkaufte, die sich noch in einem früheren Stadium der Entwicklung befanden. Immer mehr Länder wurden jedoch industrialisiert, während jene, die bei der Industrialisierung zurückblieben, durch den ständigen Einkauf von Waren der exportierenden Nationen ihr traditionelles Wirtschaftssystem zerrütteten und Bankrott machten. Dadurch verschwand diese einfache Lösung des Marktproblems. Und von 1890 an werden wir Zeugen wachsender Schwierigkeiten des Kapitalismus – die Marktschwierigkeiten werden immer größer, ausgenommen, wenn die großen Kriege, durch sie hervorgerufen, vorübergehend „Erleichterung“ bringen; die Arbeitslosigkeit wächst; die Schwankungen zwischen Konjunktur und Krise werden immer heftiger; der technische Fortschritt geht zwar weiter, aber weniger rasch als vorher, weniger rasch, als es möglich wäre.
In seinem Aufstieg und seinem darauffolgenden Abstieg bietet der Kapitalismus eine Parallele zur Geschichte des Feudalismus oder der alten Sklavenwirtschaft oder des primitiven Wirtschaftssystems der Bronzezeit. Bisher jedenfalls waren diese Parallelen unverkennbar. Gibt es irgendeinen Grund, anzunehmen, dass die weitere Entwicklung anders verlaufen werde, dass der Kapitalismus, im Gegensatz zu allen früheren Formen der gesellschaftlichen Organisation, sich als fähig und würdig erweisen könnte, ewig zu währen?
Der Kapitalismus war ein ausgezeichnetes System für eine Welt, die sich trotz aller früheren Fortschritte immer noch am Rande der Bedürftigkeit befand. Es war das geeignete System, diese Welt an die Schwelle des Überflusses zu bringen. Solange der Mangel vorherrschend war, bereicherte der Appell an die Gier des Menschen nicht nur den Habgierigen selbst, sondern auch die meisten seiner Mitmenschen. Seit aber dieser Bereicherungsprozess in großem Maße vollzogen ist, erweist sich dieser gleiche Kapitalismus als unfähig, den Überfluss zu verwirklichen, für den er selbst die Voraussetzungen geschaffen hat. Die Aktien steigen, sobald an irgendetwas Mangel besteht; beim ersten Anzeichen, dass die Anlieferung den Bedarf befriedigen könnte, fallen sie. Wir werden jetzt neuerlich Zeugen einer Erscheinung, die uns in den Dreißigerjahren vertraut gewesen ist – amerikanische Farmer werden vom Staat dafür bezahlt, dass sie so freundlich sind, Nahrungsmittel und Baumwolle nicht anzubauen. Um nur eine Äußerung zu erwähnen, für die noch und noch gleichwertige gefunden werden können: ein Korrespondent der BIRMINGHAM POST schrieb am 6. August 1955, zweifelsohne mit mehr Ironie, als er selbst beabsichtigt hatte: „Nicht einmal die amerikanische Wirtschaft kann zu viel Konjunktur aushalten. Seit dem Krach von 1929 gab es ständig das ungute Gefühl und die Angst, dass ein zu großer Aufstieg automatisch zu einem neuen Tiefpunkt wie im Jahre 1933 führen könnte.“
Es kann jedoch keinen Zweifel darüber geben, dass derzeit der Ausgangspunkt aller Diskussionen über Wirtschaftssysteme das Bestreben sein muss, Überfluss für alle zu schaffen. Die wissenschaftlichen Entdeckungen der letzten fünfzig Jahre, einander hundertmal rascher folgend als je zuvor, haben uns in die Lage versetzt, innerhalb weniger Jahrzehnte alle Not aus dieser Welt zu verbannen. Jeder Einzelne könnte einen höheren Lebensstandard erreichen, als ihn heute irgend jemand – mit Ausnahme von Fabrikdirektoren und Großgrundbesitzern – genießt. Der Kapitalismus hat diese Entdeckungen ermöglicht. Aber so, wie Moses sich darauf beschränken musste, seinem Volk das gelobte Land nur zu zeigen, ist es auch dem Kapitalismus nicht gegönnt, uns den Rest des Weges zum Überfluss zu führen.
Ein Besucher vom Mars, der unsere historische Entwicklung nicht kennt, würde sich in unseren Verhältnissen schwer zurechtfinden. Wie sollte er auch ein System für möglich halten, in dem die Schwierigkeit nicht darin besteht, die Dinge zu erzeugen, die die Leute brauchen, sondern darin, Leute zu finden, die die erzeugten Dinge konsumieren? Ist es uns gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass dies bei uns wirklich so ist und zweifelt er nicht an unserer Zurechnungsfähigkeit, dann wird er versuchen, uns einen besseren Weg zu zeigen.
„Warum fangt ihr nicht damit an“, würde er sagen, „zunächst einmal herauszufinden, was die Leute brauchen? Wenn ihr dann feststellt, dass eure Produktionsmöglichkeiten ausreichen, um das alles zu liefern, dann erzeugt es und gebt es ihnen. Wenn eure Produktionskapazität sich als zu groß erweist, könntet ihr die Gelegenheit benutzen und die Arbeitszeit für jeden verkürzen. Wenn ihr aber – was viel wahrscheinlicher ist – herausfindet, dass ihr nicht imstande seid, all das zu erzeugen, was die Menschen brauchen, dann müsst ihr drei Dinge gleichzeitig tun: Ihr müsst die Errichtung neuer Fabriken und neuer Bergwerke planen und die wissenschaftliche Forschung zur Entwicklung produktiverer Arbeitsmethoden mit großer Energie betreiben, damit ihr schließlich imstande seid, alles herzustellen, was gebraucht wird. Ihr müsst sicherstellen, dass bis dahin jedermann von den unentbehrlichen Dingen wie Nahrung, Kleidung und Wohnung genügend erhält, ebenso auch ein Minimum kultureller Güter – die Anlagen, dis euch zur Verfügung stehen, werden dies sicher leisten können. Was die anderen Waren anbelangt, von denen ihr zur Zeit noch nicht genug für jeden herstellen könnt, müsst ihr zunächst eine Art Rationierungssystem ausarbeiten. Euer gegenwärtiges Geldsystem scheint mir diese Aufgabe der Rationierung erfüllen zu können.“
Hier werden wir einwerfen, dass unser gegenwärtiges Geldsystem eine sehr strenge Rationalisierung darstellt. Mag das wirkliche Bedürfnis für eine bestimmte Ware noch so stark sein, wir müssen immer feststellen, dass es nicht genug Geld gibt, um so viel davon zu kaufen, wie wir produzieren können. Dem wird Herr Marsler sicherlich entgegenhalten, dass das absurd ist – es kann doch keine Schwierigkeiten bereiten, die richtige Zahl dieser kleinen Stückchen bedruckten Papiers oder gepressten Metalls an die Menschen auszuteilen, um sie in die Lage zu versetzen, alle Waren, die vorhanden sind, zu kaufen, wie immer wir die Preise festlegen. „Das ist doch nur eine einfache Buchhaltungsaufgabe“, würde er sagen, „und soviel ich weiß, ist Buchhaltung eine eurer höchstentwickelten Fertigkeiten. Ihr setzt die Preise für alle die Dinge fest, die für den Verkauf zur Verfügung stehen. Ihr summiert sie alle. Und dann verteilt ihr die Gesamtsumme auf alle Leute nach der Methode, die euch unter den jeweiligen Umständen günstig erscheint. Ich nehme an, dass ihr es am zweckmäßigsten finden werdet, den Betrag, den jeder Einzelne bekommt, bis zu einem gewissen Grad davon abhängig zu machen, welche Arbeit er leistet.“
Hier wären wir jedenfalls gezwungen, zu erklären, warum unsere kleinen Stückchen Metall und Papier niemals eine genügend große Summe ergeben, um all das zu kaufen, was erzeugt wird. Wir müssen ihm erklären, wie die ganze Geschichte entsteht (wobei er immer wieder laut auflachen wird): Es ist bei uns Sitte, dass nichts erzeugt werden darf, wenn nicht eine Gruppe von Menschen, die mit der eigentlichen Produktion nichts zu tun haben und die wir „Aktionäre“ nennen, einen Anteil – Profit genannt – an diesen Stückchen Papier und Metall bekommen, die den erzeugten Waren entsprechen. Und der Herr Marsler würde uns durch seinen Unglauben zwingen, ihm den ganzen Vorgang ausführlich zu erklären.
Obwohl die Erklärung sehr lang wäre, kann die Antwort unseres Weltraumreisenden sehr kurz sein: „Wenn die Ursache eurer Schwierigkeiten in den Zahlungen liegt, die ihr an die Aktionäre leistet, um ihre Erlaubnis zur Produktion zu bekommen, dann ist es doch das Naheliegendste, die Aktionäre abzuschaffen.“
Nach einigen Versuchen unsererseits, ihm das auszureden und ihm etwa die Ansicht von der Unantastbarkeit des Privateigentums verständlich zu machen, wird es unser Gast sicherlich zweckmäßig finden, uns zu erklären, dass wir eigentlich zwei grundverschiedene Auffassungen von Eigentum miteinander vermischen. „Lasst doch jeden, der dazu Lust hat, ein eigenes Motorrad besitzen“, würde er vielleicht sagen. „Soll er jedem anderen verwehren, darauf zu fahren, wenn ihm das so gefällt. Lasst ihn ein eigenes Haus besitzen und die Türen, wenn er will, gegenüber jedem Besucher verbarrikadieren. Diese Art von Selbstsucht würde niemandem schaden, außer ihm selbst. Aber das ist etwas ganz anderes als eure Auffassungen über das Privateigentum in Form von Fabriken. Ihr könnt doch wirklich diesen Leuten, die ihr Aktionäre nennt, nicht gestatten, ihr Eigentum an den Fabriken so auszulegen, dass sie dem Rest der Bevölkerung sagen dürfen: ‚Wir erlauben euch nicht, an diesen Maschinen zu arbeiten und die Dinge herzustellen, die ihr braucht, wenn ihr uns nicht dafür einen entsprechenden Happen zuschanzt.’ Wenn es an bestimmten Waren noch Mangel gibt, wie das jetzt der Fall ist, dann ist es doch einleuchtend, dass ihr soviel wie möglich erzeugen wollt (und sogar die Aktionäre werden das sicher wollen); deshalb ist die Lösung des Problems, dass niemand das Recht haben darf, zu sagen: ,Diese Maschinen dürft ihr nicht verwenden.’ Niemand sollte die Fabriken besitzen. Oder, was auf dasselbe hinausläuft, jeder sollte die Fabriken besitzen. Denn da jeder Einzelne viel mehr will, als er jetzt bekommen kann, wird jeder Einzelne dafür sorgen, dass die Fabriken voll ausgenutzt sind.“
Es ist wirklich so einfach, wie es hier geschildert ist. Herr Marsler hat natürlich die Grundprinzipien des Sozialismus dargelegt:
1. Die Produktionsmittel müssen im Besitz des ganzen Volkes sein und für das ganze Volk ausgenutzt werden.
2. Die Produktion soll so geplant werden, dass die Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden, und sie soll nicht davon abhängen, dass jemand daran zu profitieren vermag.
3. Solange wir nicht genügend erzeugen können, um jedermann zufriedenzustellen, müssen wir ein Preis- und Lohnsystem haben, das von dem heutigen nicht sehr verschieden ist, aber wir müssen es so einrichten, dass genügend Löhne ausgezahlt werden, um das zu kaufen, was wir erzeugen.
Wie Herr Marsler ausgeführt hat, würde es unter diesen Umständen nicht möglich sein, dass der Markt langsamer wächst als die Produktion – Punkt 3 würde dafür sorgen. Daher gäbe es keine Arbeitslosigkeit und keine Krisen. Daher gäbe es auch keine der Besorgnisse, die uns gegenwärtig nur zögernd an die Einführung neuer technischer Methoden herangehen lassen.
Und wenn wir diesem Weisen aus einer anderen Welt von der Automation erzählen, dann werden seine Augen aufleuchten. „Nun, das ist die große Gelegenheit für euch“, wird er sagen. „Ihr werdet imstande sein, zweimal, fünfmal oder zwanzigmal mehr zu erzeugen, ohne schwerer arbeiten zu müssen. Wenn ihr das wirklich in Angriff nehmt, dann werdet ihr sehr bald so viel von allem erzeugen können, dass ihr dieses System der Rationierung mittels Papier- und Metallstückchen aufgeben könnt. Und ihr werdet darauf kommen, dass jeder von allem soviel haben kann, wie er will, als Gegenleistung für nur einige Stunden Arbeit in der Woche.“
Man könnte natürlich darauf hinweisen, dass die Ideen des Herrn Marsler sehr allgemein sind. Es gibt eine ganze Menge von Klippen, die er nicht beachtet hat. Wir könnten ihn auf die Meinung einiger Leute aufmerksam machen, dass ohne rivalisierende Gruppen von Aktionären, die einander den Profit streitig zu machen versuchen, sich niemand darum kümmern würde, die Fabriken zweckmäßig zu führen. Darauf könnte er antworten, dass wir in dieser Zeit der Monopole oft ohnedies keine rivalisierenden Gruppen von Aktionären haben – wir haben die Konkurrenz abgeschafft, aber völlig unlogischerweise haben wir die Aktionäre beibehalten. Er könnte sogar versucht sein, die Bemerkung zu machen, dass diese monopolistischen Aktionäre nicht selten feststellen, es sei in ihrem Interesse, ihren Betrieb unzweckmäßig zu führen. Demnach scheint der einzige Ausweg zu sein, die Leitung in die Hände jener zu legen, die wirklich mit einem möglichst geringen Aufwand so viel wie möglich produzieren wollen, nämlich in die Hände der Arbeiter, die auch die Konsumenten sind.
Rolf Gramke
Heute 4/1963, 8 ff.