Materialien 1991

„Aber essen müssen wir doch auch“

Wohnen ist teuer – so teuer, dass manche Arbeitnehmer im Westen Deutschlands einen Nebenjob annehmen müssen, um die Miete zu berappen. Die Lage auf dem Wohnungsmarkt wird noch angespannter, weil große Unternehmen sich aus ihrer Verantwortung stehlen. Beispiel München: Siemens verkauft den Bestand an werkseigenen Wohnungen und überlässt die Mieter den Wolfsgesetzen des Marktes. METALL berichtet.

Wenn für den Siemensarbeiter Mehmet K. (45) die Schicht an der Münchner Balanstraße zu Ende ist, nimmt er den Putzkübel und geht wieder rein ins Werk. Büros putzen, für 480 Mark im Monat. Gelöhnt von einer der Putzfirmen, denen Siemens seit einigen Jahren die Sauberkeit der Arbeitsplätze überlässt.

„Nicht nur ausländische Kollegen machen das“, weiß der Betriebsratsvorsitzende der Balanstraße, Metaller Adolf Bickel. „Die deutschen Kollegen machen nebenbei Malerarbeiten oder fahren Taxi. Anders kann man sich das Leben in München ja auch kaum leisten.“ Und Peter Bock, Betriebsratsvorsitzender vom benachbarten Werk Siemens-Matsushita, schätzt, dass mittlerweile ein Drittel der gewerblichen Arbeitnehmer solche Nebenjobs verrichten.

Dass Mehmet für diesen Artikel seinen Namen geändert und sein Gesicht nicht fotografiert haben will, liegt nicht an dem Nebenjob. Er möchte um keinen Preis unangenehm auffallen, weil er immer noch hofft, dass die Firma ihm in seiner Notlage hilft.

Mehmet hat seit Wochen einen Räumungsbescheid für die 67 Quadratmeter in einem der Wohnblocks, die ihm vor zehn Jahren von Siemens als Werkswohnung zugeteilt worden war. Doch mit den Wohnungsproblemen seiner Beschäftigten will Siemens sich mittlerweile nicht mehr belasten.

Tatsache ist: Bis zum Jahr 2000 wird der Konzern mehr als die Hälfte des Wohnungsbestands an den bayerischen Groß-Standorten München und Erlangen aus der Werksförderung entlassen. Die vor vielen Jahren geschlossenen Verträge mit Fremd-Bauherren laufen aus – und werden nicht verlängert. In Erlangen, wo rund 30.000 Siemensianer schaffen, werden 2.785 Wohnungen dieser Art wegfallen, in München mit rund 46.000 Siemensianern gehen 1.800 aus der Siemens-Bindung.

Mehmet hat die Folgen bereits zu spüren bekommen. Denn Siemens hat mit den Wohnblocks in der Nachbarschaft seines Werkes Balanstraße nichts mehr zu tun. Die Hausverwaltung darf frei nach den Wolfsgesetzen des Wohnungsmarkts schalten und walten. Mehmets Wohnung wurde verkauft. Der neue Eigentümer macht „Eigenbedarf“ geltend – so einfach geht das.

Ähnlich düstere Aussichten hat Ergün Tekin (24), IG Metall-Vertrauensmann am Standort Balanstraße. Vor einem Jahr wurde die Miete für die Ein-Zimmer-Wohnung, in der die vierköpfige Familie lebt, um satte 50 Prozent erhöht. „Und jetzt ist der Hausherr gekommen und hat gesagt, wenn ich nicht freiwillig mehr zahle, wird er mir kündigen, weil er die Wohnung selbst braucht.“ Ergün bekommt bei Siemens durchschnittlich 2.200 Mark netto im Monat. Schon jetzt geht mehr als ein Viertel davon für die Wohnung weg. Für eine andere Wohnung müsste er mindestens das Dreifache zahlen. Auf dem Münchner Wohnungsmarkt gibt es praktisch keine neue Wohnung unter 20 Mark pro Quadratmeter. „Aber essen müssen wir doch auch.“

Siemens wäscht seine Hände in Unschuld. Der fürs Wohnungswesen zuständige Fachabteilungsleiter im Zentralen Personalwesen (ZPS 35), Jürgen Schmieder, zu METALL: „Wir sind doch nicht für die Mietexplosion verantwortlich.“

Höhere Abgaben

Doch wenn’s ums Verdienen geht, ist Siemens dabei. Unter dem Vorwand, die Differenz der Werkswohnungen zur ortsüblichen Vergleichsmiete müsse als „geldwerter Vorteil“ versteuert werden, hatte die Siemens-Wohnungs-Gesellschaft (SiWoGe) im Januar 1991 sämtlichen Mietern mitgeteilt, die entsprechend höheren Abgaben (Steuer und Sozialversicherung) würden noch heuer abgezogen. Und langfristig wolle man die Mieten aufs ortsübliche Niveau „anpassen“, um die Besteuerung zu vermeiden. Der Gesamtbetriebsrat, erst im Nachgang eingeschaltet, verweigerte seine Zustimmung. Die IG Metall-Betriebsräte in München und Erlangen schlugen Alarm – und halfen den Mietern mit entsprechend vorformulierten Widerspruchsformularen.

Bei der Nachfrage im bayerischen Finanzministerium stieß METALL auf eine merkwürdige Ungereimtheit. „Bei keiner bayerischen Finanzbehörde gibt es einen Vorgang, der die Besteuerung der werksgeförderten Siemens-Wohnungen veranlassen könnte“, so die Auskunft des zuständigen Ministerialrats. Im Gegenteil: Das bayerische Finanzministerium hält den Mietspiegel des freien Wohnungsmarkts nicht für die richtige Meßlatte, um arbeitgebergeförderte Wohnungen zu bewerten. „Wir halten das Niveau der Sozialmieten für die richtige Vergleichsgröße.“ Und aus dem Unmut, dass Siemens sich für den Miet-Coup hinter den Finanzämtern verstecken wollte, macht man keinen Hehl: „Diese Art Missbrauch beobachten wir häufiger.“

Die SiWoGe musste inzwischen einen Rückzieher machen. Mit Schreiben vom 22. Mai wurden die Mieter informiert, dass die Nachversteuerung „zunächst ausgesetzt“ werde, weil Siemens die Finanzbehörden zu einer ,.erneuten Überprüfung“ habe bewegen können. Irgend jemand, so scheint’s, flunkert da.

Die merkwürdige Panne der SiWoGe, für die wieder Jürgen Schmieder verantwortlich zeichnet, ist nach Ansicht der Wohnungsexperten in den Betriebsräten allerdings nicht nur mit Inkompetenz zu erklären. Sie fürchten, dass Siemens sich auch von den vor Jahrzehnten gebauten Miethäusern trennen will, die unmittelbar Eigentum der SiWoGe sind.

Mehr Bewerber

„Auf jede Wohnung, die frei wird, kommen mindestens 30 Bewerber“, so Betriebsrat Horst Bergmann, Mitglied im Wohnungsausschuss bei Siemens-Hofmannstraße. Im Münchner Osten sieht es noch katastrophaler aus. „Vor fünf Jahren konnten wir noch 21 Wohnungen vergeben. 1990 waren es nur mehr elf. Gleichzeitig wächst die Zahl der Notfälle, die buchstäblich kein Dach überm Kopf mehr haben, weil sie aus ehemals werksgeförderten Wohnungen rausgeklagt werden“, so Peter Gebhardt, Betriebsrat an der Balanstraße. Notfälle, die Peter Bock so beschreibt: „Ein Kollege hat drei Wochen im Auto übernachtet. Eine alleinerziehende Mutter musste sich mit ihrem Kind monatelang bei verschiedenen Bekannten einquartieren. Von den 100 bei uns vorliegenden Wohnungsanträgen haben 40 vom Wohnungsamt die Dringlichkeitsstufe eins. Aber wenn keine erschwinglichen Wohnungen gebaut werden, nützt das auch nichts.“

Reinhard Wieczorek, seit wenigen Wochen Chef des neugeschaffenen Stadt-Referats „Arbeit und Wirtschaft“: „Die Entwicklung bei Siemens verschärft die unerträgliche Wohnungsnot in München. Ich werde versuchen, mit den Verantwortlichen darüber ins Gespräch zu kommen. Unmittelbare Einflussmöglichkeiten aber haben wir nicht. Uns bleibt nur der Appell.“

In der Lücke auf dem Wohnungsmarkt gedeihen die Doppelverdiener-Jobs. Nicht nur solche für Mehmet oder Franz oder Zenzi. Auch der fürs Wohnungswesen zuständige Jürgen Schmieder hat eine zweite Einkunftsquelle: Er ist Gesellschafter und Geschäftsführer der Firma „Wohnref GmbH“, die überall dort ihre Tätigkeit entfaltet, wo die Verwaltungsbüros für Wohnheime mangels Masse geschlossen wurden. „Die Firma zu gründen war allein meine Idee“, so Jürgen Schmieder gegenüber METALL. Siemens sei weder beteiligt noch habe seine Tätigkeit für die „Wohnref“ mit seinem Job bei Siemens was zu tun. „Das mache ich alles nach Feierabend.“ Lediglich einen Werksvertrag habe die Wohnref mit Siemens. Danach begnügt sich die Firma beim Vermitteln von Wohnungen für Siemens-Beschäftigte mit 1,5 Monatsmieten Maklergebühr. „Sonst muss man drei Monatsmieten zahlen.“

Rauer Markt

Wie hoch das Zubrot ist, das der leitende Angestellte damit verdient, wollte er nicht sagen. Genausowenig wie den Jahresumsatz seiner GmbH. Nur: „Viel ist es nicht. Denn die Firma hat einen weiteren Geschäftsführer und für die acht Mitarbeiter sind insgesamt drei Büros angemietet.“ Dass die alle in Siemens-Standorten sind, hält Jürgen Schmieder zumindest preislich nicht unbedingt für einen Vorteil: „Draußen würde ich weniger bezahlen.“ Und weil die Lücke am Markt auch anderswo wächst, wird die „Wohnref GmbH“ demnächst auch in Leipzig und Berlin ihre Dienste anbieten.

Ob Mehmet so geholfen werden kann, darf bezweifelt werden. Betriebsrat Adolf Bickel: „Ich lass mir regelmäßig das Angebot der Wohnref vorlegen. Die billigste Wohnung, die ich dort gesehen habe, hat 1.500 Mark gekostet. Das können sich vielleicht außertariflich bezahlte Angestellte leisten. Normalverdienern ist so nicht zu helfen.“

Hannelore Messow


Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 11 vom 31. Mai 1991, 8 f.