Flusslandschaft 1991

Psychiatrie

Arbeitsamtsärzte geben sicher ihr Bestes, allerdings für wen? Falsche Gutachten können Arbeitssuchende für geistig gestört befinden, sie zwangsverrenten und auf Sozialhilfe setzen. Ein Arbeitnehmer, der sich nicht alles gefallen lässt, kann so schnell zum Querulanten abgestempelt und psychiatrisiert werden. Bundesweit schreiben Arbeitsamtsärzte jedes Jahr 350.000 Gutachten. „… Fragwürdige ,Diagnosen’ von Arbeitsamtsärzten kommen in letzter Zeit häufiger vor. Rechtsanwalt Dr. Hartmut Spieß, der sich bei der Inneren Mission in München drei Jahre lang um Arbeitslose kümmerte, war beispielsweise ,immer wieder mit dem Problem zwangsweiser Verrentung von Arbeitslosen konfrontiert’. Einmal habe ein Gutachter des Arbeitsamts schon nach wenigen Fragen ,psychische Sperren gegen eine Erwerbsarbeit’ attestiert und einen verdutzten Metaller kurzerhand in Rente geschickt. Andere Arbeitslose, denen Spieß bei der Inneren Mission begegnet war, schalteten auf seinen Rat hin Rechtsanwälte ein. ,Bis auf eine einzige Ausnahme’, erinnert sich Spieß, waren die mir zur Kenntnis gebrachten Gutachten sehr oberflächlich und in der Bewertung der Arbeitslosen unerträglich vorschnell.’ Besonders heimtückisch gingen Ärzte des Münchner Arbeitsamts vor, als sie den 50jährigen Versicherungskaufmann Lothar Kaintzyk für geisteskrank und geschäftsunfähig erklärten. Dass der Leiter des ärztlichen Dienstes bei der Nürnberger Bundesanstalt, Dr. Georg Vetter, die Begutachtung persönlich vorangetrieben hat, macht den Fall besonders heikel. Ein Arbeitsvermittler hatte den Oberarzt in Nürnberg mobilisiert, als ihm bei Kaintzyk nach vierjähriger Arbeitslosigkeit manches spanisch vorkam. ,Klagt sein Leid über rechtsstaatliche Intrigen’, notierte er in seine Vermittlungskartei, ,Eigenbemühungen negativ’ … Vetter schaltete die arbeitsamtsärztliche ,Gutachterstelle für Hirnverletzte und psychisch Kranke’ ein und bat, ,anhand der Akte kurz Stellung zu nehmen, ob Herr K. psychisch krank ist. Ich meine’, deutete Vetter schon mal die Richtung an, ,dass gewisse Hinweise für ein Krankheitsgeschehen in der Akte zu finden sind.’ Prompt bescheinigte Psychiater Hans-Hermann Heinsohn ,den dringenden Verdacht auf eine paranoide Erlebnisentwicklung’. Außerdem läge eine Psychose mit Sinnestäuschung vor. Wenige Wochen später lockte die Münchner Arbeitsamtsärztin Dr. Kristina von Mickwitz-Elsen den ahnungslosen Kaintzyk mit einem scheinheiligen Brief (,Ich will Ihnen helfen’) ins Arbeitsamt … Ihrem Chef Vetter schrieb sie nach Nürnberg: ,Als Grund dieser Maßnahme werde ich „Prüfung der nervlichen Belastbarkeit nach langer Arbeitslosigkeit“ angeben. Der Einladungstermin ist so gelegt, dass am gleichen Tag unser Vertragspsychiater, ein ausgesprochen geschickter und routinierter Nervenarzt, anwesend ist und sich mit Herrn K. unterhalten kann.’ Die Unterhaltung dauerte zwei Minuten; das folgende Gutachten fiel um so ausführlicher aus. Auf neun Seiten wird ,außer Frage’ gestellt, ,dass bei Lothar K. ein abnormer geistiger Zustand vorliegt’, mit ‚Wahngedanken’ und ‚Querulantenwahn’ im Vordergrund. Als Therapie empfahl Loos ,stationäre psychiatrische Behandlung’ und ,Psychopharmaka’. Inzwischen wurde Kaintzyk rehabilitiert. Erst vom Münchner Sozialgericht, das sogar befand, dass der angeblich Wahnsinnige ,erstklassige Arbeit leisten’ kann. Dann auch vom Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags. Viel ist das nicht. Aber Kaintzyk, der zusammen mit seiner Lebensgefährtin und einer Tochter in einer winzigen Sozialwohnung hausen muss, wird auf diese Weise wenigstens finanziell entschädigt. ,Eine Bande gewissenloser Ferndiagnostiker’, klagt der Kaufmann, ,hat mein Leben zerstört’ …“1 Kritiker vermuten, dass diese Methoden die Arbeitslosenstatistik aufhübschen soll.

Die Veröffentlichung des Falls Kaitzyk veranlasst die Aufdeckung weiterer skandalöser Fälle: „… Fritz Kapeller war … 17 Jahre lang beim Münchner Arbeitsamt beschäftigt – bis ihn Vertragsarzt Dr. Rudolf Loos in die Mangel nahm. Grund waren interne Streitereien am Arbeitsplatz, wie sie gang und gäbe sind. Kapeller hielt sie nicht aus und erkrankte dabei. Prompt wurde der Ärztliche Dienst des Münchner Arbeitsamts aktiv. Vertragsmediziner Loos urteilte nur nach Aktenlage, kam aber dennoch zu einem Befund. ,An der Tatsache, dass es sich bei Herrn K. um einen schwerstgestörten, psychisch kranken Mann handelt, besteht kein Zweifel’, schrieb er an seinen Auftraggeber, ,man kann bei ihm keinesfalls ausschließen, dass er gegenüber Mitmenschen, vornehmlich Mitarbeitern oder Vorgesetzten in der Behörde, tätlich wird. Ich schließe gemeingefährliche Handlungen nicht aus.’ Vier Monate später schlug Loos noch einmal zu – diesmal urteilte er nach einem kurzen Gespräch. ,Der psychische Befund’, hielt er in seinem Gutachten für das Münchner Arbeitsamt fest, ,spricht eindeutig für eine abnorme, psychopathische Entwicklung bei vorgegebener Disposition … Von Haus aus ist Herr K. eine sogenannte paranoide Persönlichkeit … Diagnose: paranoide, fanatische Persönlichkeit, querulatorisch-paranoische, psychopathische Entwicklung bei vorgegebener Persönlichkeitsstruktur …’ Kapellers Zukunft wurde auf diese Weise jahrelang verbaut, eine Umschulung zum Sozialarbeiter unmöglich gemacht. Rechtsanwalt Axel Kampf, der die Schadenersatzklage vorbereitet: ,Der Vorgang erinnert mich an gewisse Zeiten unserer Vergangenheit.’ Auch der ,Pruva-Ausschuss’ hat im vergangenen Juni die Arbeit der BA-Vertragsärzte kritisiert und die ,drei- bis viermal höhere Fehlerquote in den Vertragsgutachten’ insbesondere als Folge unzulänglicher arbeitsmedizinischer Qualifikation angesehen. Um Abhilfe zu schaffen, hatte die BA-Selbstverwaltung für dieses Jahr insgesamt 132 zusätzliche Stellen für feste Arbeitsamtsärzte verlangt. Dem Bonner Arbeitsministerium ging der Schritt zu weit: statt 732 wurden lediglich 65 Stellen besetzt. Ob sich die zusätzliche Einstellung einiger Dutzend Arbeitsamtsärzte positiv auswirkt, darf zumindest bezweifelt werden. Denn auch neu eingestellten Ärzten fehlen der BA zufolge , in der Regel Kenntnisse in der Arbeitsmedizin, Berufs- und Arbeitsplatzkunde’. Zwar wird versucht, den Mangel über interne Fortbildungskurse zu beheben. Aber bei jährlich tausend zu erstellenden Gutachten Pro Arzt, fünf bis sechs am Tag, bleibt wenig Zeit … Georg Vetter, Chef des ärztlichen Dienstes und selbst in den Fall Kaintzyk verwickelt (METALL l/92), findet die erhobenen Vorwürfe ,völlig aus der Luft gegriffen’ und müssten ,auf das entschiedenste’ zurückgewiesen werden. Selbst Psychiater Loos, der Lothar Kaintzyk um ein Haar in die Irrenanstalt begutachtet hat, ist weiter im Geschäft. BA-Pressesprecher Eberhard Mann meint wider besseren Wissens aus seiner Behörde: ,Unsere Mitarbeiter haben sich nichts vorzuwerfen.’“2

Ein Ergebnis der Veröffentlichungen und Proteste: Die Arbeitsverwaltung kündigt den Vertrag mit Dr. Rudolf Loos, der „ab 1983 zwischen 4.000 und 5.000 Menschen begutachtet hat … Oberarzt Georg Vetter, der Chef des ärztlichen Dienstes, hat in Bonn schwarze Schafe in seiner Ärzteschaft ausgemacht. Da die BA unter öffentlichem Druck stehe und sich keine ,minderwertigen’ Gutachter leisten könne, würden sie innerhalb eines Monats aussortiert …“3

„METALL berichtete … Nr. 1/92 darüber, dass Arbeitsamtsärzte mit Falschgutachten Tausende Bundesbürger geschädigt haben, darunter den Münchner Kaufmann Lothar Kointzyk. Bei einer unangemeldeten Visite im Münchner Arbeitsamt haben Mitarbeiter der obersten Datenschutzbehörde erschreckende Gesetzesverstöße im ,Fall Kaintzyk’ entdeckt. Die ,hier praktizierte Erhebung der nervenärztlichen Befunddaten’ Kaintzyks seien zunächst ohne dessen Wissen, dann ,gegen dessen mehrfach ausdrücklich erklärten Willen’ erfolgt, sagten die Datenschützer. Eine Praxis, die weder mit dem ärztlichen Standesrecht noch mit den für die Bundesanstalt für Arbeit (BA) geltenden Rechtsvorschriften vereinbar sei. Außerdem ist für den Datenschutzbeauftragten der Bundesregierung, Alfred Einwag, ,kaum nachvollziehbar, wie der Ärztliche Dienst der BA zu der Annahme kommen konnte, bei Herrn K. handle es sich um einen psychisch Kranken’. BA-Präsident Franke wurde jetzt um Stellungnahme gebeten.“4


1 Fritz Arndt: „Diagnosen vom Fließband“ In: Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 1 vom 10. Januar 1992, 8 f.; vgl. dazu „Stasi-Methoden: Wer ohne Job ist, wird einfach für verrückt erklärt!“ In: tz vom 10. Januar 1992.

2 Fritz Arndt: „‚Ich komme mir vor wie ein Stück Vieh’ – Gutachter-Skandal der Nürnberger Bundesanstalt kommt vor den Bundestag“ In: Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 2 vom 24. Januar 1992, 9.

3 Fritz Arndt: „Hoffnung für die Opfer“ In: Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 3 vom 7. Februar 1992, 14.

4 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 23 vom 23. Oktober 1992, 30.

Überraschung

Jahr: 1991
Bereich: Psychiatrie