Materialien 1992
Bayerns Verfassungsschützer: „Wir bespitzeln weiter“
„Etikettenschwindel“ ist nach Ansicht des DGB die Art, wie das Land Bayern zum Jahresbeginn den Radikalenerlass bei Bewerbern zum öffentlichen Dienst offiziell abgeschafft und (als einziges Bundesland) durch einen Fragebogen zur Selbstauskunft ersetzt hat. Bei der Schnüffelpraxis gegenüber Arbeitnehmern der Privatwirtschaft halten die CSU-Verantwortlichen des Freistaats nicht mal eine Änderung des Etiketts für nötig.
Die „Regelanfrage“ für Bewerber in „sicherheitsrelevanten“ Produktionsbereichen, so erklärte der für den Verfassungsschutz im bayerischen Innenministerium zuständige Dr. Karl Schwindel gegenüber METALL, „läuft unverändert weiter“.
Während die Akten der ehemaligen „Stasi“ den Opfern inzwischen zugänglich sind, wurde speziell in Bayern ein Geflecht aus Spezialgesetzen und -verordnungen geknüpft, das den Anschein von Rechtsstaatlichkeit für die massenhafte Schnüffelei herstellen soll.
Beispiel: Alle Beschäftigten am Siemens-Standort München-Hofmannstraße, die in den Bereichen öffentliche Vermittlungssysteme, Übertragungssysteme und im Zentrallaboratorium arbeiten, müssen im Zuge einer „Sicherheitsüberprüfung“ durch den Verfassungsschutz ihr Vorleben (und das des Lebenspartners) beschnüffeln lassen – ohne die Chance, jemals über die Methoden, die trüben Quellen oder die Resultate der „Erkenntnissammler" informiert zu werden.
Der Betriebsrat des Standorts war bislang vergeblich bemüht (METALL berichtete), diese Praktiken mit rechtsstaatlichen Mitteln zu stoppen. Das Verfahren, in erster Instanz vom Betriebsrat gewonnen, hängt seit vier Jahren am Landesarbeitsgericht und wird verschleppt. Im letzten Dezember erst ließ Siemens vortragen, dass eine angebliche Grundlage für diese Schnüffelei, eine entsprechende Auflage des bayerischen Wirtschaftsministeriums, geheimhaltungspflichtig sei und deshalb dem Gericht trotz dessen Anforderung nicht vorgelegt werden könne.
Dass der „Feind im Osten“ nicht mehr vorhanden, die Bundespost ihre hoheitliche Telefonaufgabe inzwischen privatisiert hat – all das spielt weder für Siemens noch für die bayerischen Behörden eine Rolle. Nur die Begründungen für die angeblich bedrohte „Sicherheit“ werden immer waghalsiger. Beim Putschversuch in der Sowjetunion, so die jüngste Rechtfertigung fürs Ausschnüffeln der Siemens-Beschäftigten, habe sich gezeigt, wie hoch die Bedeutung der Nachrichtenübermittlung sei. Was der Siemens-Anwalt anscheinend übersah: Der KGB-Chef persönlich war am Abschalten der Telefonverbindungen beteiligt.
Hannelore Messow
Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 3 vom 7. Februar 1992, 19.