Materialien 1992

Leben gegen die Uhr

Millionen Beschäftigte müssen nachts arbeiten. Ihre Gesundheit ist dadurch gefährdet.

„Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich“, hat am 28. Januar 1992 das Bundesverfassungsgericht festgestellt, als es aus Gründen der Gleichberechtigung – das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen aufhob. Trotz des mahnenden Richterspruchs arbeiten immer mehr Menschen in der Bundesrepublik zu Zeiten, wo andere schlafen.

„Nein, wenn ich mich noch mal zu entscheiden hätte, würde ich nicht mehr in den Schichtdienst gehen“, sagt Rolf Diercks, 53, „man hat da einfach zu viele Entbehrungen.“ Rolf Diercks leidet unter Asthma und Allergien, hat Probleme mit dem Magen und der Wirbelsäule und kann schlecht schlafen. Sein Privatleben ist auf einen engen familiären Kreis beschränkt. „Mit Freunden und Bekannten geht fast gar nichts mehr.“

Seit 28 Jahren arbeitet Rolf Diercks als Meister in der Lackiererei bei BMW in München. Im Zwei-Schicht-Betrieb. Eine Woche von 5.55 bis 14.55 Uhr, die andere Woche von 14.55 bis 24 Uhr. Diercks ist einer von mindestens vier, wenn nicht sogar fünf oder sechs Millionen Menschen in der Bundesrepublik, die von Nachtarbeit betroffen sind.

Nachtarbeit ist ein schwieriges Thema, schon wenn es um schlichte Daten geht. Es gibt kaum gesicherte Zahlen. Der aktuellste Stand ist der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes vom April 1989. Danach waren mehr als 14 Prozent der 27,7 Millionen Arbeitnehmer in der alten Bundesrepublik von Nachtarbeit betroffen.

Generelles Verbot

Von diesen vier Millionen Beschäftigten verdienten sich 713.000 ständig, 1,6 Millionen regelmäßig und der Rest gelegentlich dann ihre Brötchen, wenn andere zu Hause im Bett liegen. Noch schlech-
ter sieht es mit statistischem Material für den Bereich der ehemaligen DDR aus. Die einzige verfüg-
bare Zahl: 1989 waren hier 26 Prozent aller Industriearbeiter im Drei-Schicht-System – rund 500.000 Menschen.

Aber es gibt Fakten zur Nachtarbeit, die national und international unumstritten sind: Nachts tätige Menschen bekommen zu wenig Schlaf, der Erholungswert ihres Tagesschlafes ist geringer, und daraus ergeben sich Kreislaufstörungen, Nervosität, Appetitlosigkeit und andere Beschwer-
den. Selbst bei regelmäßiger Nachtarbeit stellt sich der menschliche Biorhythmus nur teilweise um.

Beeinträchtigungen entstehen auch für das Beziehungs- und Familienleben und für das Leben
in der Gesellschaft überhaupt. Das Zusammensein von Mann und Frau, das Leben mit Kindern, Geselligkeit und politische oder kulturelle Aktivitäten sind nicht leicht zuregeln, oft zu kurz und mit physischen und psychischen Belastungen verbunden.

Kein Wunder also, dass ein generelles Verbot von Nachtarbeit – natürlich unter Ausschluss von nächtlicher Patientenversorgung im Krankenhaus oder anderen lebenswichtigen Tätigkeiten – seit mehr als 100 Jahren zu den Forderungen der internationalen Gewerkschaftsbewegung gehört.

Unternehmer dagegen hätten schon immer gern 24 Stunden arbeiten lassen. Sie sehen dann auch die zukünftige Arbeitswelt anders.

Alfred Wisskirchen, stellvertretender Leiter der Rechtsabteilung in der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände: „Der Trend geht hin zu einer Ausweitung der Nachtarbeit.“

Erhöhtes Infarktrisiko

„Wenn die Firma Nachtarbeit will, geht das nicht anders“, meint Sotireos Damaskinedes, der seit 28 Jahren Erfahrung mit Wechselschichten hat. Weil ein Kollege fehlt, arbeitet der 56jährige Grieche momentan sogar jede zweite Woche von 19 bis sechs Uhr als Werkzeugausgeber im Lagermagazin der Bayerischen Leichtmetallwerke (BLW) am Frankfurter Ring in München. Das bringt ihm 4.000 statt sonst 3.100 bis 3.200 Mark im Monat ein. „Ich sehe keine Nachteile in der Nachtschicht“, meint der Metaller. Auf sein künftiges Rentnerleben in der griechischen Heimat freut er sich schon jetzt mächtig.

Zwei Dinge seien typisch für Schicht- und Nachtarbeiter, berichtet der Arzt Jürgen Tempel; sie verdrängen ihre arbeitsbedingten Probleme und sind sich der Besonderheit ihrer beruflichen Tätigkeit mit einer Art Stolz bewusst. Der Allgemeinmediziner praktiziert seit 15 Jahren im Münchner Arbeiterstadtteil Milbertshofen und betreut viele Schichtler.

Rolf Diercks, der 55jährige Meister aus der BMW-Lackiererei, gehört seit einigen Jahren dazu. „Durch die berufsbedingten Überlastungen schmelzen seine körperlichen und psychischen Reserven wie Butter an der Sonne“, beurteilt der Arzt den Gesundheitszustand seines Patienten: „Für ihn ist überlebenswichtig, dass er aus dieser Situation herauskommt.“

Die Folgen der Nachtarbeit werden von Arbeitgebern gern verharmlost. Davor warnt Karl Kuhn von der Dortmunder Bundesanstalt für Arbeitsschutz: „Die Körperfunktionen gehen nachts gegen Null, die Sauerstoffaufnahme nimmt ab, es werden nachts keine Magensäfte erzeugt. Für die gleiche Leistung muss nachts 40 bis 50 Prozent mehr Energie aufgewendet werden als am Tag.“ Magen- und Darmbeschwerden seien die Folge, Kreislaufkrankheiten und Appetit- sowie Schlaf-
losigkeit. Wer sein Leben lang regelmäßig nachts arbeite, altere auch früher, berichtet Kuhn. Studien in Schweden hätten überdies gezeigt, dass Nachtarbeit das Herzinfarktrisiko erhöhe.

Die Schäden werden nicht durch das nächtliche Arbeiten allein verursacht, sondern sie sind durch die damit verbundenen geänderten Verhaltensweisen bedingt. Der Zigaretten-, Kaffee- und Alkoholkonsum bei nachts arbeitenden Menschen liegt über dem Durchschnitt. Die Betroffenen ernähren sich unregelmäßig und schlechter, zumal in den Betrieben oft nicht für entsprechende Verpflegung gesorgt ist.

Nachtarbeiter müssen ein Leben gegen die Uhr führen – gegen die tatsächliche, die biologische und die soziale Uhr. Die Kinderpflegerin Clarissa Späth, regelmäßig von 19.45 bis 6.45 Uhr als Nachtwache in einem Heim für schwerbehinderte Kinder in Odelzhausen tätig: „Ich habe nur noch zwei Freundinnen, von denen eine auch im Nachtdienst arbeitet. Fünf oder sechs andere Freund-
schaften sind zerdeppert.“

Finanzieller Aspekt

Clarissa Späth ist 55, verheiratet und Mutter von vier Kindern im Alter zwischen fünf und 16 Jahren. Arbeiten musste sie, weil die Familie allein mit dem Einkommen ihres Mannes finanziell nicht über die Runden käme. Nach einem Versuch im Frühdienst hat sie sich wieder für Nacht-
arbeit entschieden: „So komme ich mit Familie und Haushalt besser zurecht.“

In ihren Nachtwachen-Wochen ist sie mindestens 18 von 24 Stunden auf den Beinen. Magenpro-
bleme, Eßschwierigkeiten und Schlafstörungen sind die Folge: „Mehr als vier Stunden Schlaf kriege ich kaum. Ich hatte schon schlimme Erschöpfungszustände.“

Clarissa Späths Situation ist typisch für Hunderttausende von Frauen, die versuchen, Familien- und Nachtarbeitspflichten unter einen Hut zu bringen. Das war auch dem Bundesverfassungs-
gericht klar, als es am 28. Januar aus Gleichberechtigungsgründen das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen aufhob (METALL berichtete). Die Richter in den Leitsätzen zu ihrem Urteil:

„Soweit Untersuchungen darauf hindeuten, dass Frauen durch Nachtarbeit stärker beeinträchtigt werden, wird dies allgemein auf ihre zusätzliche Belastung mit Hausarbeit und Kinderbetreuung zurückgeführt. Frauen, die diese Aufgaben neben nächtlicher Berufsarbeit erfüllen müssen, kom-
men auch tagsüber nicht zur Ruhe und finden insbesondere keinen zusammenhängenden Tief-
schlaf. Es liegt auf der Hand, dass sie in besonderem Maße unter den allgemeinen gesundheits-
schädlichen Folgen einer durch Nachtarbeit gestörten Tag-Nacht-Rhythmik zu leiden haben.“

Das Gericht war ausschließlich in Sachen Gleichberechtigung angerufen worden. Und es wäre falsch, aus seinem Spruch lediglich die zynische Konsequenz zu ziehen, dass nun auch Arbeite-
rinnen das Recht hätten, für Geld ihre Gesundheit zu ruinieren. Nebenbei winkten die Verfas-
sungsrichter dem Gesetzgeber nämlich in Sachen Arbeitsschutz deutlich mit dem Zaunpfahl: „Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich.“

Neues Gesetz

Doch der Gesetzgeber hat offenbar keine Eile mit einer Regelung. Bereits seit Jahren schmort die Novellierung der noch aus der Nazizeit stammenden Arbeitszeitordnung in den Bonner Schub-
laden. Richard Fischels von der Pressestelle des Bundesarbeitsministerium auf die Frage von METALL, wann mit dem neuen Arbeitszeitgesetz zu rechnen sei. „Die hausinterne Abstimmung
ist noch nicht beendet.“ Den Referentenentwurf werde es frühestens Mitte September geben.

Bis ein solcher Entwurf tatsächlich zum Gesetz wird, das kann Monate, aber auch Jahre dauern. Währenddessen versuchen immer mehr Unternehmen, das gesetzliche Vakuum auszufüllen, mehr Männer und Frauen als Nachtarbeiter zu ködern.

Gewerkschaften und Betriebsräte stehen im Abwehrkampf. – Rolf Diercks, der sich vor 28 Jahren auf Nachtarbeit einließ „weil es finanziell lukrativ war“, will mit 55 in Rente gehen. Was er dann vorhat? Viel an der frischen Luft im Garten arbeiten, mich ausruhen und erholen.“

Jürgen L. Groß


Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 15 vom 7. August 1992, 12 ff.