Materialien 1992

Vom Geist des Hauses Siemens

Ein Weltkonzern im Schmiergeldsumpf: Die Spur führt nach München

Nein, ein Ausnahmefall ist das gewiss nicht, worüber seit Anfang Februar vor der Vierten Strafkammer des Landgerichts München I verhandelt wird. Auch wenn die neun Herren mit den blütenweißen Hemden und den (bis zum rechtskräftigen Urteil) ebenso unbefleckten Strafregistern von der Anklagebank aus betonen, ganz und gar einmalig seien die Umstände gewesen, wie das Haus Siemens zu den Millionen-Aufträgen für die beiden Klärwerke der Stadt München gekommen sei. Drei Prozent der Auftragssummen flossen als Schmiergeld aus der Siemens-Kasse. Zwei Drittel davon landeten bei dem für die Auftragsvergabe zuständigen ehemaligen städtischen Bauleiter Manfred O.

Die neun Angeklagten aus dem Hause Siemens haben einen ungemein sozialen Arbeitgeber: Als die Staatsanwaltschaft im Juni 1991 gegen sieben von ihnen Haftbefehle erwirkt hatte, griff der Weltkonzern mal wieder in den Sparstrumpf und machte jeweils 100.000 Mark Kaution locker, um die „verdienten Mitarbeiter“ aus dem Knast zu holen. Damit nicht genug der Fürsorge: Siemens beauftragte den namhaften Freiburger Professor und Rechtsanwalt Gerhard Hammerstein, der wiederum eine Spitzenriege von Strafverteidigern zusammentrommelte, die nun, auf Rechnung des Hauses Siemens, den Herren auf der Anklagebank Beistand leisten.

„Wer zahlt, schafft an“, heißt eine bayerische Lebensweisheit. Und so wird verständlich, warum der eine oder andere Verteidiger laut protestierte, wenn der Vorsitzende Richter Günther Bechert sich immer mal wieder nach der „Firmenphilosophie“ erkundigt, und danach, ob die krummen Touren bei der Auftragsbeschaffung etwa zum Geist des Hauses Siemens gehören.

Schweizer Konto

Kurz vor Schluss der Beweisaufnahme scheint auch der Richter begriffen zu haben, dass er in Sachen Wahrheitsfindung im Philosophen-Winkel nicht weiterkommt. Der von ihm als Zeuge geladene Siemens-Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Kaske teilte schriftlich mit, dass er wegen eines Oberschenkelhalsbruchs nicht reisefähig sei, dem Gericht aber in der Reha-Klinik zur Einvernahme zur Verfügung stünde – nach Absprache mit den für seinen Personenschutz zuständigen Stellen. Daraufhin wird „allseits“ auf den Zeugen Kaske verzichtet.

Verzichtet wurde auch auf den Zeugen Zurlinden, den Schweizer Banker, der das legendäre Konto der „Siemag“ in Zürich treuhänderisch verwaltet. Von diesem Konto, das angeblich „nur“ der Abwicklung von Auslandsgeschäften dient (Bakschisch inklusive), waren auch die rund drei Millionen geflossen, die im Siemens-Jargon „n. A.“ (nützliche Aufwendungen) heißen. Herr Zurlinden sah sich nicht veranlasst, in München zu zeugen – und auch die angeblich um Aufklärung bemühte Konzernzentrale hielt sich mit einer entsprechenden Aufforderung an den Treuhänder zurück.

Münchner Nebel

So wird die Strafjustiz wohl den ganzen banalen Arbeitsalltag der Angeklagten und Zeugen aus dem Hause Siemens zur Beantwortung der philosophischen Fragen hernehmen müssen. Auch wenn einer der Beisitzer beim vergeblichen Bemühen, klare Verantwortlichkeiten für die illegale Millionen-Zahlung aus den Management-Kompetenzen abzuleiten, vernehmlich stöhnte: „Wir stochern im Nebel.“

Der Nebel gehört bei Siemens dazu. Beispiel: Der in der Anklageschrift als „höchster Entscheidungsträger“ in der Münchner Zweigniederlassung titulierte ZN-Vorständler Johann K. (66), gab vor Gericht zum besten „Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es unser Interesse ist, im echten Wettbewerb unsere Aufträge zu bekommen.“

Das silberweiße Haar akkurat gescheitelt, die befehlgewohnte Stimme fest im Griff – Johann K. scheint den Unsinn, den er da verzapft, offenbar selbst zu glauben. Und wenn er gleich darauf im Ganoven-Jargon erzählt, dass es ihm bei der vom Leitwerk Karlsruhe eingefädelten Schmiergeldzahlung via Schweiz „angenehm" gewesen sei, „dass keine Spur nach München führt" – dann ist das eben der andere Teil der Siemens-Moral, ohne die einer im Konzern anscheinend nichts werden kann.

Es sind allesamt langgediente Siemensianer, die da vor Gericht stehen. Und die meisten sind zur „Familie“ gestoßen, als sie noch „Siemens-Schuckert“ oder „Siemens-Halske“ hieß. Sie haben sich an viele Standorte versetzen lassen, verschiedene Aufgaben übernommen – und sind so allmählich die Leiter hochgefallen.

Wie bei Siemens üblich: Beim Führungspersonal wird auf Betriebstreue Wert gelegt. Nur dass im hellen Licht des Münchner Strafjustizzentrums sichtbar wird, wie stark die geistigen Fähigkeiten bei dieser Ochsentour in Mitleidenschaft geraten. Je höher in der Hierarchie, umso niedriger die Fähigkeit, Klartext zu reden.

So wollte der ebenfalls im Vorstand der Münchner Zweigniederlassung angesiedelte Richard Tacke (51), Sohn des früheren Vorstandsvorsitzenden Reinhard Tacke, dem Gericht als Zeuge nicht mal Aufschluss darüber geben, welche Stellung er in den Jahren 1985 bis 1989 innegehabt habe. Und auch nach entsprechender Belehrung war ihm nur zu entlocken, dass er „für Wirtschaftlichkeit“ verantwortlich gewesen sei.

Eine ganz deutliche Sprache dagegen ist von Joseph Kraemer (70) zu hören. Von dem Mann, dessen Rolle in der Münchner Elektro-Mafia mal als „Geldbote“ mal als „Oberhaupt“ beschreiben wird. Tatsache ist: Joseph Kraemer galt schon während seiner Dienstjahre bei Siemens als besonders erfolgreicher Verkäufer von Installationsmaterial, als „Reißer“ im Geschäft, das vor allem in trauten Absprachen mit anderen Firmen bestand. Siemens überließ in vornehmer Zurückhaltung so manchem Mittelständler einen öffentlichen Auftrag – und lieferte „nur“ das Material im Gegenzug.

Hilfreiche Hand

Aufschluss übers Wettbewerbsverhalten des Hauses gab auch die Aussage des Diplom-Ingenieurs Horst H. (56) aus der unteren Hierarchie: Er hielt zu den „Kollegen“ der Konkurrenzunternehmen AEG, ABB und BBC telefonisch Kontakt, um die jeweiligen Schutzangebote konkret abzufassen, mit denen sich die feinen Firmen die Aufträge sicher zuspielten. Eine Praxis, die übrigens im derzeitigen Siemens-Prozess nicht Eingang in die Anklage gefunden hat.

Genauso wenig wie die Tatsache, dass Siemens bereits an der Auftragsdefinition fürs Klärwerk München I mit „Textbausteinen“ beteiligt war. Seine Vorgesetzten, so berichtete ein Siemens-Techniker als Zeuge, hätte ihn und einen weiteren Kollegen angewiesen, dem von der Stadt beauftragten Ingenieurbüro zur Hand zu gehen. Bei derart geschlossenen Regelkreisen verliert die Tatsache, dass Siemens außerdem noch die anscheinend „marktüblichen“ drei Prozent berappte, etwas an Bedeutung.

Großer Reißwolf

Zurück zur doppelten Manager-Moral im Hause Siemens: Während acht der Angeklagten immerhin einräumen, dass die Anklageschrift die tatsächlichen Vorgänge zutreffend beschreibt, fühlt sich der in Erlangen angesiedelten Jurist Hans-Georg Z. (59) gänzlich unschuldig. Er hatte im vergangenen Juni freiwillig eine Samstagsschicht eingelegt, nachdem die Siemens-Praktiken öffentlich bekannt geworden waren, hatte in München etliche Aktenordner abgeholt und in Erlangen im „großen Reißwolf“ vernichtet.

Damit, so erklärte der bei Siemens Erlangen für „kaufmännische Grundsatzfragen“ zuständige Mann, habe er keineswegs die Arbeit der Staatsanwaltschaft behindern wollen. Er habe sich zuvor überzeugt, dass kein strafrechtlich relevantes Material in den Reißwolf kommt. Nur kartellrechtliche Hinweise habe er entfernen wollen.

Hannelore Messow
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Elektro-Mafia vor Gericht

Die Münchner Strafjustiz arbeitet derzeit die erste Tranche der als „Elektro-Mafia“ bekannten Affäre ab. Offenbar seit Jahrzehnten hatte sich ein Kartell einschlägiger Firmen die Aufträge unter den Nagel gerissen.

Rund 70 Personen gelten als Beschuldigte aus drei unterschiedlichen Kreisen: Die städtischen oder staatlichen Projektleiter, die gegen zwei bis drei Prozent der Auftragssumme Bieterlisten oder andere vertrauliche Informationen weitergaben, die Leiter oder Inhaber mittelständischer Betriebe, die zahlten, um zu verdienen. Und Führungskräfte von Großkonzernen, die selbst keinen unmittelbaren Vorteil hatten – sondern zum Nutzen der Firma handelten.

Neun Manager der Firma Siemens stehen seit dem 4. Februar gemeinsam mit dem voll geständigen ehemaligen städtischen Bauleiter Manfred O. vor Gericht. Ihnen wird vorgeworfen, für Aufträge an den beiden Münchner Klärwerken rund drei Millionen Mark Schmiergeld aus der schwarzen Siemens-Kasse in der Schweiz locker gemacht zu haben.

Bei Redaktionsschluss wurden die Strafanträge von Seiten der Staatsanwaltschaft gestellt: Für den vom Dienst suspendierten und wirtschaftlich ruinierten Stadt-Bediensteten wurden acht Jahre Freiheitsstrafe beantragt – und auch fünf der mit Entscheidungskompetenz ausgestatteten Siemensianer sollen Haftstrafen zwischen viereinhalb Jahren und 28 Monaten verbüßen. Für die übrigen hielt die Staatsanwaltschaft Bewährungsstrafen mit Geldbußen von 100.000 Mark und mehr für ausreichend.

Während der Dauer des Prozesses waren die Ermittlungsbehörden an anderer Stelle erreut fündig geworden: Auch beim Bau des Großflughafens, der im Mai in Betrieb gehen soll, sind Millionenaufträge verschoben worden. Auch hier soll die Firma Siemens beteiligt gewesen sein.

Als „Kronzeuge“ in der Affäre gilt der Siemens-Pensionär Josef K. (70), der einen Teil der Kontakte hergestellt und sich mit einem Prozent selbst am Kassieren beteiligt hatte. Er wird gemeinsam mit seiner mittelständischen Klientel im April vor Gericht stehen. H.M.


Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 5 vom 6. März 1992, 8 f.

Überraschung

Jahr: 1992
Bereich: Lebensart