Materialien 1993

Brüchige Fundamente

SNI-Beschäftigte wehren sich gegen Kündigungen

Praktisch ohne Resonanz blieb bisher der Versuch des SNI-Vorstands, den geplanten Personalabbau am Standort Neu-Perlach, der „Denkfabrik“ im Münchner Osten, durch Auflösungsverträge durchzuziehen. Offenbar hatte das Management damit gerechnet, dass die hochqualifizierten Computerspezialisten, Entwicklungsingenieure und Informatiker in eigener Sache zu Denkstörungen neigen.

Bis zum Ende des Geschäftsjahrs, so der Ausgangspunkt für die Milchmädchenrechnung des SNI-Vorstands, sollen 500 der im letzten Oktober noch 7.500 Stellen in Perlach abgebaut werden.

Die Metaller im Betrieb machten eine Gegenrechnung auf: Wenn die rund 2.000 „Übertariflichen“ am Standort ihre Arbeitszeit von bislang 40 auf die tariflich „normalen“ 36 Stunden reduzieren würden, könnte die Vorruhestandsregelung und „natürliche Fluktuation“ die notwendigen Einsparungen bringen. Die Initiative dazu allerdings müssten die obersten Personalplaner ergreifen, die Beschäftigten als einzelne haben diesen Spielraum derzeit kaum.

Doch dem Vorstand des High-Tech-Konzerns fällt als Problemlösung offenbar nur die Brechstange ein: Massenentlassungen sind angekündigt. Dem Betriebsrat wurden im Juni 26 betriebsbedingte Kündigungsanträge vorgelegt, die sämtlich auf Widerspruch stießen. Das vor kurzem noch kaum Vorstellbare tritt ein: Mehrere der Gekündigten wehren sich mit Klagen beim Arbeitsgericht.

Leistungsbereitschaft, Effizienz, Motivation – die futuristische Architektur der Perlacher „Denkfabrik“ verbirgt, dass die Fundamente brüchig geworden sind. Im 1978 errichteten Schmuckstück der „Siemens-Familie“ schleicht sich Schizophrenie an die Stelle des alten Haussegens.

Beispiel: Der Vertriebsspezialist Michael K. (Name geändert). Vor wenigen Wochen noch so „ unverzichtbar“ für die Firma, dass sein Wunsch nach Reduzierung der Arbeitszeit von 40 auf 36 Stunden unerfüllbar schien. Bis ihm plötzlich „angeboten“ wurde, mit einer Abfindung „freiwillig“ zu gehen, weil sein Arbeitsbereich entfiele.

Ein anderer Betroffener beschrieb seine Stimmung in einem Leserbrief an die von der IG Metall herausgegebene Betriebszeitung: „Wie fühlen Sie sich jetzt? Brauchen Sie einen Psychiater? Den gibt es nur für die obere Heeresleitung. Für uns gibt es nur die Möglichkeit, uns auf der Toilette auszuweinen.“

Dass es nach dem Gang zum Klo noch weitere Möglichkeiten gibt, hat der Leserbriefschreiber selbst dokumentiert. Dieter Rödiger, Vertrauenskörperleiter der IG Metall bei SNI-Perlach: „Das Interesse an der IG Metall ist deutlich gewachsen.“

H. Messow


Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 13 vom 25. Juni 1993, 20 (06).