Materialien 1993
Auf der Abschussliste
Wie Siemens in München Menschen ins soziale Aus treibt
So sieht der „sozialverträgliche Personalabbau“, den Siemens seinen Beschäftigten am Standort München-Balanstraße angekündigt hatte, tatsächlich aus: Wer nicht „freiwillig“ geht, wird rausgeschmissen. Von den ursprünglich 4.500 Beschäftigten in der Halbleiterfertigung haben in den vergangenen Monaten 1.800 einen Auflösungsvertrag unterschrieben – seit dem 1. Oktober sind betriebsbedingte Kündigungen dran. Kündigungen, die für die Betroffenen nahezu ausnahmslos das soziale Aus bedeuten.
Unter den 68 gewerblichen Arbeitnehmern auf der aktuellen „Abschussliste" sind 16 alleinerziehende Mütter mit kleinen Kindern, viele Alleinverdiener, jede/jeder zweite auf der Liste hat dem Hause Siemens länger als 20 Jahre die Treue gehalten. Zu denen, die ihre Kündigung Anfang Oktober bekamen, gehören auch zwei besonders aktive Metallerinnen, die als gewerkschaftliche Vertrauensfrauen beim Widerstand gegen den Personalabbau vorne dran waren.
Unsoziale Auswahl
Beim Jonglieren mit der „sozialen Auswahl“ legt Siemens die Latte an, wie’s dem Unternehmen passt. Beispiel: Ingrid B. (57), alleinerziehende Mutter eines sechsjährigen Sohnes, seit acht Jahren Anlagenbedienerin in der Balanstraße und gewerkschaftliche Vertrauensfrau. Sie bekam die Kündigung, obwohl ihr Arbeitsplatz nicht wegfallen wird. Als der Münchner IG Metall-Sekretär Matthias Sommerfeld auf der letzten Betriebsversammlung öffentlich den Verdacht formulierte, der Personalabbau werde auch gezielt gegen aktive Gewerkschafterinnen „genutzt“, da kam von der Betriebsleitung kein Widerspruch. Das Spiel mit der Angst gehört offenbar zum Stil des Hauses.
Dass auch bei der Kündigung der Vertrauensfrau Gabi H. (54) die Auswahl-Latte passend gebogen wurde, ist ein offenes Geheimnis. Angeblich sollen nur Beschäftigte an Arbeitsplätzen mit höchstens zwei Monaten Anlernzeit in die Auswahl einbezogen sein. Gabi arbeitet an einem hochspezialisierten Arbeitsplatz, ihre direkten Vorgesetzten halten sie nicht für leicht ersetzbar. Doch die Personalabteilung entschied anders.
Jetzt wird das Arbeitsgericht zu klären haben, ob die bisher 29 Kündigungen, die Siemens an der Balanstraße Anfang Oktober ausgesprochen hat, tatsächlich „betriebsbedingt“ gerechtfertigt werden können. Der Betriebsrat jedenfalls hat sich in jedem Einzelfall genau über die soziale Situation der Betroffenen erkundigt – und allen bisher vorgelegten Kündigungsanträgen widersprochen.
Wie im Fall von Silvana M. (55), die für ihre beiden Kinder ohne Unterhaltsgeld allein aufkommen muss. „Frau M. lebt mit einem jetzigen Einkommen von zirka 2.000 Mark netto/Monat und einer Miete von 1.050 Mark am Existenzminimum. Bei Arbeitslosigkeit würde Frau M. automatisch zum Sozialfall.“ Der Betriebsrat verweist außerdem auf die Vereinbarungen aus dem Interessenausgleich: „Frau M. wurden weder Weiterbildungsmaßnahmen noch andere Arbeitsplätze angeboten.“
Ständiger Druck
Selbst wenn solche „Angebote“ gemacht werden, sind sie eine Unverschämtheit. Zwei Alleinerziehende sollten sich in Regensburg bewerben, in die Conti-Schicht. Und auch an der Balanstraße werden Zug um Zug Arbeitsplätze, wie etwa die in der optischen Prüfung, aus der Normal- in Wechselschicht überführt – „damit die Frauen keine Chance mehr haben“. So vermutet der Betriebsrat.
Trotz drastischem Abbau und ständigem Druck auf einzelne – die Belegschaft von Siemens Balanstraße gibt den Kampf nicht auf. Die unmittelbar von Kündigung Bedrohten treffen sich mittlerweile regelmäßig, um gemeinsam zu beraten. Auch Ehemalige, die sich einen Auflösungsvertrag abnötigen ließen, kommen dazu. „Die meisten haben keine andere Arbeit gefunden. Die Abfindung ist aufgebraucht, das Arbeitslosengeld läuft demnächst aus. Sie stehen vor dem Abgrund.“
Georgis K. (48), seit 23 Jahren bei Siemens, hat zwei schulpflichtige Kinder, seine Frau ist behindert. „Muss ich noch erklären, dass ich auf meinen Arbeitsplatz nicht verzichten kann? Wenn Siemens mich kündigt, dann soll wenigstens klar sein, wie unsozial das hier abläuft.“
Als Zennure A. (46), seit 24 Jahren bei Siemens und alleinerziehende Mutter, kürzlich mal wieder in der Personalabteilung gefragt wurde, warum sie nicht „in die Heimat“ zurückwolle, erklärte sie klipp und klar: „Ich hab selbst erlebt, wie schwer es in einem fremden Land ist, sich einzuleben. Mein Sohn ist hier geboren, dem will ich das ersparen.“ Kurz danach stand ihr Name auf der Kündigungsliste. Der Personalsachbearbeiter hatte sie damals leutselig mit dem Koran-Gruß „inschallah“ (Wenn Allah will) verabschiedet. Zennure: „Ich nehm mein Leben lieber selbst in die Hand.“ Gegen eine Kündigung wird sie mit dem Rechtsschutz der IG Metall klagen.
Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 21 vom 15. Oktober 1993, 20 (07).