Materialien 1993
Siemens feuert fristlos
Mittlere Führungsebene wird mit Betrugsvorwurf in Kündigung getrieben
„… kündigen wir Ihr Arbeitsverhältnis fristlos mit sofortiger Wirkung.“ Mit diesem Schreiben wurden vier Beschäftigte der mittleren Führungsebene bei der Firma Siemens von heute auf morgen gefeuert – auch der 58jährige Martin Traphagen. Die Firma wirft ihm Betrug vor.
Die Vorgeschichte: Siemens will Kosten sparen. Deswegen wurde vor einiger Zeit die Unternehmensberatung McKinsey ins Münchener Werk Balanstraße geholt. Sie erstellte eine Liste mit Personen, die im Angestelltenbereich eingespart werden könnten – darunter auch Traphagen. Doch das hat, so Siemens, nichts mit der Kündigung zu tun.
Also – eine andere Vorgeschichte: Traphagen, seine Kolleginnen und Kollegen haben Arbeitsverträge, in denen eine 40-Stunden-Woche vereinbart ist. Überstunden werden nicht vergütet. Sie sind mit dem frei vereinbarten Gehalt abgegolten. Fällt Mehrarbeit an, müssen die Betroffenen zu Hause arbeiten, denn: Aus versicherungstechnischen Gründen dürfen sie nicht mehr als 40 Stunden an ihren Arbeitsplätzen verbringen. Traphagen, der wegen seiner Leistungen Belobigungen und Sondervergütungen erhielt und dem das Unternehmen erst Ende des vergangenen Jahres „Analysefähigkeit, Beweglichkeit, hohe Motivation und Selbständigkeit“ bescheinigt hatte, arbeitete nachweislich häufig daheim.
Nun wirft ihm Siemens „Betrug“ vor. Der Grund: Traphagen soll Siemens um 25 Arbeitsstunden geprellt haben. Traphagen, seine Kolleginnen und Kollegen arbeiten seit 1989 in Gleitzeit. Da sie häufig in anderen Siemens-Dienststellen außer Haus beschäftigt sind, wurde am Ausweislesegerät eine sogenannte KD-Taste installiert. KD ist das Kürzel für „Komme dienstlich“. Das heißt: Wer diese Taste drückt, kommt von Dienstgeschäften.
Zeit absitzen
Nun fiel auf, dass die Taste von einigen auffällig häufig gedrückt wurde. Die Firma überprüfte daraufhin in einem noch geheimnisumwitterten Verfahren die Daten der Betreffenden – nebenbei: Ohne Zustimmung des Betriebrates. Nach der Überprüfung wurden die Vieldrücker zum Gespräch gebeten. Derart zur Rede gestellt begründeten einige den Tastendruck mit Heimarbeit – auch Martin Traphagen gab an, zu Hause gearbeitet zu haben. Siemens glaubte ihm nicht und schickte ihm wegen angeblich fehlender 23 Stunden die fristlose Kündigung.
Beim Vorwurf „Betrug“ blieb Siemens auch in der ersten Güteverhandlung, die Ende November vor der 16. Kammer des Landesarbeitsgerichts stattfand. Siemens-Rechtsanwalt Martin Herrmann: „Hier handelt es sich um Betrug, um bares Geld.“ Das sei auch der Grund, warum man keiner Abfindung – nicht einmal einer ordentlichen Kündigung – zustimme.
Doch Traphagen will weder das eine noch das andere. Er klagt auf Unwirksamkeit der Kündigung. Auch Richter Heinz Heininger findet die Siemens-Haltung unerklärlich. „Dass es sich um bares Geld handelt, müssen Sie erst einmal nachweisen“, konterte er Herrmanns Vorwürfe. Ob Traphagen denn seine Arbeit nicht erledigt habe? Herrmann: „Es kommt nicht darauf an, ob die Arbeit erledigt wurde. Der Arbeitnehmer hat seine Zeit abzusitzen.“
Richter Heininger vermutete, hier solle ein Präzedenzfall geschaffen werden. Seiner Ansicht nach handelt es sich um Dienstverletzungen, die bestenfalls für eine Abmahnung reichten. Die Sache Traphagen gegen Siemens wird im März verhandelt.
Veronika Mirschel
Metall Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 25 – 26 vom 13. Dezember 1993, 28 (07).