Flusslandschaft 2010

Kapitalismus

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„Wer Wachstum grundsätzlich begrüßt, weiß wohl nichts von Metastasen.“2

„Was solls!“ ist die immer häufiger zu hörende, resignierte Feststellung von Aktivisten, die um 1945 herum geboren wurden. Ihr deprimierendes Resümee beschreibt einen komplexen und für die „große Masse“ unüberschaubaren, gesellschaftlichen Zustand, der sich gegenüber allen Versu-
chen, das Zusammenleben menschlicher zu gestalten, als immun erweist. Heinz Huber meint am 22. Februar bei einer Veranstaltung im „Kulturladen Westend“, noch nie habe er eine so geschickte Konstruktion einer Klassengesellschaft wahrgenommen, die mit Hilfe von „Brot und Spielen“ dumm gehalten und damit pazifiziert wird. – Andere sehen es ähnlich: Der gesellschaftliche Orga-
nismus hält auch schlimmste Krisen aus, denn für die große Masse steht eine bunte Mischung von Narkotika zur Verfügung; für die wenigen, die resistent sind, steht die Staatsmacht Gewehr bei Fuß und die Justiz winkt mit Paragraphen. Manchmal noch scheinen politisierende Funken der Er-
kenntnis und der Aufklärung auf, treten Hoffnungsträger auf wie Barak Obama, was zunächst von einer medialen Konjunktur befördert naive Euphorie auslöst. Aber letztendlich haben die Zyniker recht, die die Gesellschaft als einen automatisch sich weiter entfaltenden, spezifischen Organismus beschreiben. Auf diesen verheerenden Prozess korrigierend einzuwirken bleibt nachgerade unmög-
lich.

Wenn Banken pleite gehen und ganze Länder den Offenbahrungseid leisten müssen, huscht ein kurzes Erschrecken durch die Welt. Politiker aller Couleur mahnen die Finanzmärkte und fordern strengere Regelwerke, die Spekulationen verhindern sollen. Die Aufregung ist groß, aber wenn sie sich legt, geht alles seinen Gang wie zuvor. Einige nachdenkliche Zeitgenossen protestieren trotz-
dem weiter. Bei einer Demonstration am 13. Mai gehen ehemals in kirchlichen Einrichtungen ge-
quälte Heimkinder auf die Straße, um auf ihr trauriges Schicksal aufmerksam zu machen. Erwin Brandl nutzt die Situation, um auf für ihn Wichtigeres hinzuweisen:

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„Skandale. Sie gehen nicht mehr in die Kirche, aber zur Bank. Sie treten aus der Kirche aus, dem Staat aber bleiben sie treu.“4

Die Idee der »repräsentativen Demokratie« diente von Anfang an der Demokratieabwehr und wur-
de »als ein Mittel verstanden, um das Volk von der Politik fernzuhalten« und »eine besitzende Oli-
garchie mit der Unterstützung der Masse der Bevölkerung über Wahlen an der Macht zu halten.«5

(zuletzt geändert am 28.2.2019)


1 Grafik: Bernd Bücking. In: Conrad Schuhler, Die Mär von der Zähmung der Finanzmärkte. Der Countdown zur nächsten Krise läuft, isw-Report Nr. 82, Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung München e.V., November 2010, 20.

2 Manfred Ach, Nachrede. Übles vom Mönch, München und Wien 2010, 5303. Siehe dazu auch die Zeichnung von Steve Geshwister unter www.linophil.de/wachstum-2/

3 Foto: Franz Gans

4 Manfred Ach, Scherbenhaufen. Spitzfindiges vom Mönch, München und Wien 2010, 5441.

5 Sozialhistorikerin Ellen Meiksins Wood in „Demokratie contra Kapitalismus. Beiträge zur Erneuerung des historischen Materialismus“, Köln/Karlsruhe 2010.

Überraschung

Jahr: 2010
Bereich: Kapitalismus