Flusslandschaft 1956

Atomkraft

Am 27. Mai zünden die Amerikaner auf der Südseeinsel Bikini die erste Thermonuklearbombe. Nach der zweiten Juniwoche klagen immer mehr MünchnerInnen über eigenartige Beschwerden und Landwirte aus der Münchner Umgebung beobachten nach dem ausgiebigen Regen vom 12. Juni, wie Blätter verdorren und Tomaten und Gurken graubraune Flecken bekommen. Das Münchner Gesundheitsamt wiegelt ab: Die vermehrt auftretende Müdigkeit und die häufigen Kopfschmerzen und Schwindelanfälle in der Bevölkerung seien keine Folge eines radioaktiven fall outs.

Nach 1945 verboten sie Siegermächte zunächst die Reaktorforschung. Die Pariser Verträge gaben 1954 grünes Licht für den Bau eines bundesdeutschen Forschungsreaktors. Im Oktober 1955 wurde Franz Josef Strauß zum Atomminister ernannt. Was Wunder, dass zum zukünftigen Standort des Forschungsreaktors Garching bei München ausgewählt wird. In der Bevölkerung regt sich nur lei-
ser Unmut. In der hohen Politik ist man sich einig. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Landtagsfraktion, Waldemar von Knöringen, trennt 1956 ganz klar, wenn er über Atomkraft spricht: „… Die Entfesselung der neuen Kräfte kann zur Vernichtung allen Lebens auf dieser Erde, ihre Bändigung zu nie geahntem Wohlstand für alle Menschen führen. Zum ersten Male können Armut und Hunger auf der ganzen Erde gebannt werden …“1 Der Forschungsreaktor München I (FRM I) geht in Garching 1957 in Betrieb.

In München gründet sich im Kontext der Kampf-dem-Atomtod-Bewegung auf Initiative Bodo Mansteins die Notgemeinschaft zur Verteidigung der Volksgesundheit.

„Warnung vor Atomgefahren — In München (Tizianstraße 1) erscheint seit Juli eine kleine Monats-schrift ‚Das Gewissen — zur Bekämpfung des Atommissbrauchs und der Atomgefahren’. Die bisher vorliegenden drei Nummern zeigen, dass hier zuverlässig und objektiv (‚West und Ost in der Ver-heimlichung der Atomgefahren einig’, konstatiert z.B. der Leitartikel der Septembernummer) das Material zu diesem außerordentlich wichtigen Thema gesammelt wird; in dieser Nummer findet man u.a. auch die Auseinandersetzung Prof. Becherts (Universität Mainz) mit dem Bundesminister für Atomfragen über die Gefahren der Radioaktivität aus Atomwaffenversuchen. Zu diesem Thema äußert sich auch die ‚Gegenwart’ (18) in einem vorsichtig abwägenden Aufsatz unter dem Motto ‚Alarmiert durch das Atom’. Den amerikanischen Bericht über die biologischen Wirkungen von Atomstrahlung veröffentlicht dankenswerterweise ‚Die Zukunft’ (Wien) in ihrem Augustheft. – Über die Gründung der ‚Physikalischen Studiengesellschaft’ in Düsseldorf informiert kritisch der ‚Gewerkschafter’ (3), das Funktionärsorgan der IG Metall, in einem sehr gut dokumentierten und klar gegliederten Aufsatz über ‚Deutsche Atomforschung und -verwertung in den Händen der Pri-vatindustrie’; es zeichnen sich da sehr bedenkliche und durch keine objektive öffentliche Kontrolle gemilderte Einflüsse einer Kapitalistengruppe auf die Verwendung der Atomenergie ab.“2

Im September klärt der Münchner Experimentalphysiker Walther Gerlach auf einem Kongress seine Kollegen auf: Er hat nicht nur hohe Raten von Radioaktivität in der Luft gemessen, er hat sie auch im menschlichen Körper, im Skelett, in den Muskeln, in Haut und Blut, vor allem aber in der Schilddrüse und in der Muttermilch entdeckt.


1 Wortlaut der von Knöringen entworfenen „Entschließung 100“, die vom Parteitag der SPD in München (10. bis 14. Juli 1956) angenommen wird. Waldemar von Knöringen, Reden und Aufsätze, München 1981, 55.

2 Gewerkschaftliche Monatshefte 10 vom Oktober 1956, 636 f.

Überraschung

Jahr: 1956
Bereich: Atomkraft