Materialien 1968
Betr.: Verfassungsschutz
An die Mitglieder des
Rechts- und des Innenausschusses
im Deutschen Bundestag
An die
Innenministerien
der deutschen Bundesländer
Sehr geehrte Damen und Herren,
es erscheint dringend geboten, das 1950 erlassene Verfassungsschutzgesetz zu revidieren. Wir bit-
ten Sie zu prüfen, ob dieses seit Bestehen des politischen Strafrechts überflüssige Gesetz überhaupt aufrechterhalten werden soll. Wie seine Praktizierung beweist, bedarf sein Wortlaut jedenfalls un-
bedingt einer Anpassung an die Erfordernisse des Grundgesetzes. Hierzu gehört nach Ansicht der Humanistischen Union
1. das Verbot hinterlistiger und täuschender Maßnahmen, zum Beispiel der Einschleusung sog. „Vertrauensleute“,
2. das Verbot der Verwertung von Agentenaussagen ohne Gegenüberstellung mit dem Betroffenen,
3. ein dem Grundgesetz entsprechender Rechtsschutz des einzelnen gegen Verletzung seiner Rech-
te durch die öffentliche Gewalt.
Begründung:
1. Die Versuche von Verfassungsschutzämtern, „Vertrauensleute“ in politische oder berufsstän-
dische Organisationen einzuschleusen, haben zu einer schweren Beunruhigung der deutschen Öffentlichkeit geführt. Menschliches Vertrauen, das die Grundlage allen sozialen Lebens ist, wird untergraben, wenn der Bürger ständig eine Überwachung befürchten muss. Wie können junge Menschen eine freie und offene Gesellschaft gestalten, wenn sie von früh an lernen müssen, anderen nicht über den Weg zu trauen und ständig auf der Hut zu sein? Die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf freie Meinungsäußerung, die Vereins- und Versammlungsfrei-
heit, werden illusorisch.
Die Strafprozessordnung verbietet für Vernehmungen aller Art der Polizei jede Täuschungs-
behandlung und verwirklicht damit das Gebot des Grundgesetzartikels Nr. 1, die Würde jedes Menschen zu achten, Das Einschleusen von Personen, die in das Vertrauen anderer dringen und das Vertrauen brechen, stellt eine solche Täuschungshandlung dar. Was für den Strafprozess rechtens ist, muss für den Verfassungsschutz, der im Vorfeld krimineller Betätigung arbeitet, erst recht gültig sein.
2. Der Wahrheitswert von Ermittlungsergebnissen, die auf die Spitzeltätigkeit bezahlter „Ver-
trauensleute“ zurückgehen, ist schon wegen der Zwielichtigkeit der Charaktere, die sich zu einer solchen Schnüffel- und Verrätertätigkeit bereit finden, minimal, zumal der betroffene Bürger kein Recht auf Gehör und Entgegnung genießt. Aber selbst der etwaige Beweiswert einer Denunziation wiegt nicht die Schäden auf, die einer freiheitlichen Gesellschaft durch solche Praktiken erwach-
sen. Der Schutz der Würde des Menschen, den das Grundgesetz allen staatlichen Gewalten zur Pflicht macht, umfasst besonders die Privatsphäre des einzelnen. In sie wird durch die Anwendung sog. „Vertrauensleute“ in jedem Einzelfall, aber auch allgemein durch die Verbreitung von Angst und Misstrauen unter den Staatsbürgern eingegriffen.
3. Der Verfassungsschutz unterliegt weder verwaltungsrechtlicher noch parlamentarischer Kon-
trolle. Dies widerspricht dem Grundgesetz. Das im Zusammenhang mit der Notstandsgesetz-
gebung vorgeschlagene Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses sieht eine Nachprüfung der administrativen Überwachungsmaßnahmen wenigstens durch ein parlamentarisches Organ vor. Schon gegen die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Verfahrens-
weise bestehen schwerwiegende Bedenken; aber nicht einmal die hier vorgesehenen – nach dem Grundgesetz unzulänglichen – Kontrollmaßnahmen gelten für den Verfassungsschutz und seine „Vertrauensleute“.
Wir appellieren an die zuständigen Volksvertreter, eine gesetzgeberische Initiative zur Behebung der genannten Mißstände und Gefahren in Gang zu bringen.
HUMANISTISCHE UNION
für den Bundesvorstand
Dr. Gerhard Szczesny
Gewerkschaftliche Monatshefte 7 vom Juli 1968, 442 f.