Flusslandschaft 1965
Alternative Medien
„Als Revisionsinstanz verurteilte die IV. kleine Strafkammer beim Landgericht München I den Schriftsteller Dieter Kunzelmann (24), den Maler Heimrad Prem (29) und den Maler Hans-Peter Zimmer zu je 200 Mark Geldstrafe. Verhandlungsgegenstand war zum dritten Mal die Nummer 6 der Zeitschrift Spur. In erster Instanz (Amtsgericht München, 4. Mai 1962) waren Prem, Zimmer, Kunzelmann und auch Helmut Sturm wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften, Religionsbeschimpfung und Gotteslästerung zu je fünf Monaten und zwei Wochen Gefängnis mit Bewährung verurteilt worden, in zweiter Instanz ( IV. kleine Strafkammer beim Landgericht) Kunzelmann, Prem und Zimmer wegen derselben Vergehen (Sturm wurde freigesprochen) zu je fünf Wochen Gefängnis (Urteil vom 7. November 1962). In der Revision kam es wegen der Anklagepunkte Gotteslästerung und Religionsbeschimpfung zu keiner Verurteilung, weil das Gericht sich auf die im Grundgesetz gewährleistete Freiheit künstlerischer Betätigung berief. Die Verurteilung erfolgte wegen Beleidigung und eines fortgesetzten Vergehens der Verbreitung einer unzüchtigen Schrift (15. März 1965). Als Gutachter wirkten der Germanist Prof. Dr. Müller-Seidel und der Kritiker Dr. Joachim Kaiser. — Siehe auch tendenzen Nr. 20 und 30.“1
Im September erscheint der erste kürbiskern. Literatur und Kritik. Das Herausgeberkollektiv, Christian Geissler, Frieder Hitzer, Yaak Karsunke, Hannes Stütz und Manfred Vosz, ist politisch aktiv als Mitarbeiter, Sprecher und Sekretäre in der Ostermarschbewegung, dem Kuratorium „Notstand der Demokratie“, der Solibewegung für Vietnam usw. Frieder Hitzer: „… Für einen Titelvorschlag von Peter Hamm (‚Gegensatz’) hatte Manfred Vosz bereits eine ganze Werbekampagne konzipiert, mit Kontrastschrift, gerasterten Schatten. Aber wer wollte – außer Adorno-Dialektikern – immer einen ‚Gegensatz’ haben? Walser war gar nicht zufrieden. Er wollte ans Bewusstsein möglicher Leser anknüpfen und schlug ‚Kleinbürger’ vor. Damit waren wir nicht zufrieden. – Titelsuche unter Literaten ist eine Nervensache, und zur Beruhigung und Auflockerung hatte jeder einen Witz auf Lager, Karsunke zum Beispiel einen Satz, der bis dahin keinem aufgefallen war – die Konturen der Schatten des ‚Gegensatzes’ waren zu eindrucksvoll: ‚Mir ist dat ejal, wie dat heißt; muss sich verkofen, soll es auch „kürbiskern“ heißen.’ Walser verschluckte fast den Wein: ‚Kerle! Des isch es – ein harter Kern in einem riesigen Wasserkopf!’ Mir fiel vor lauter Begeisterung nur noch ein: ‚Gedeiht besonders gut auf Misthaufen!’ – Wir beschlossen: Eine philologische oder politische Erklärung des Namens kommt nie in Frage. Angebote hatte es viele gegeben: Ob wir an Senecas ‚Verkürbissierung’ gedacht hätten, ein Begriff, mit dem der Philosoph die Verdummung der spätrömischen Gesellschaft zum Ausdruck gebracht habe? Oder etwa an die ‚Kürbishütte’ der Barockdichter, die sich dahin aus Kummer über das Leid in der Welt zurückgezogen hätten? Arnfried Astel, damals noch Herausgeber der Lyrischen Hefte, betonte, bei uns könne das wohl nicht zutreffen. Wir hatten natürlich an alle Interpretationen gedacht, auch an das Mittel zur Bekämpfung von Bandwürmern, das ein Rundfunkreporter über uns kolportierte, und was die entlegene Hütte der Barockdichter betraf, so konnte man die ja mit Brecht und V-Effekt interpretieren. Aber wir schlossen uns keiner Auslegung an. Die eindrucksvollste Bedeutung des Kürbis schilderte uns sehr viel später der große vietnamesische Dichter To Huu. In Vietnam ist der Kürbis sehr verbreitet und gilt seit Generationen als Symbol des Widerstands …“2 Bis zum Herbst 1968, dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei, bleibt die Redaktion pluralistisch, aber jetzt steht der „kürbiskern“ vor einer Zerreißprobe. Schließlich setzen sich die Befürworter einer parteilichen, an die DKP angelehnten Ausrichtung der Literaturzeitschrift durch.
1 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 32 vom Mai 1965, 83.
2 kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 4/1975, 11.