Materialien 1973

Projekt für eine national vertriebene Zeitung

Adressat der Zeitung sind notwendigerweise beim jetzigen Stand der Klassenkämpfe in der Bundesrepublik die zahlreichen Organisationen, die in den verschiedenen Bereichen arbeiten, vor allem aber im und am Betrieb. Kurz Gruppen, die über die ganze Bundesrepublik verstreut gleichsam aus sich selbst heraus entstehen und nicht im Parteiaufbau die primäre und ausschließliche Aufgabenstellung sehen. Für diese Gruppen kann die Zeitung theoretischer wie praktischer Bezugspunkt werden. Sie kann zwischen ihnen Verbindungen herstellen und eventuell eine Zusammenarbeit ermöglichen. Vor allem aber wäre sie ein Instrument dafür, die lokal gemachte Praxis allgemein zu diskutieren. Im Mittelpunkt steht deswegen die aus der Praxis abgeleitete und sie wiederum bestimmende Liniendiskussion. Von tragender Bedeutung ist natürlich auch die Aufarbeitung allgemeinpolitischer und ökonomischer Probleme. Nur sollte das soweit wie möglich in einem politisch praktikablen Sinne geschehen, so dass sie argumentativ in die Agitation eingehen können. Dabei kann natürlich das Arbeiterbewusstsein nicht immer der alleinige Ausgangspunkt sein. Bestimmte Erscheinungsformen auf der Kapital- und Staatsseite wie die Dollarkrise oder die Baader Meinhof Gruppe bedürfen ebenso einer Analyse oder Stellungnahme.

Betont werden muss jedoch: Die eigene Praxis und die Momente realer Massenbewegung stellen die Hauptseite dar. Auf keinen Fall darf die Zeitung zu einem abstrakten Theorieorgan werden. Sie muss im Gegenteil so strukturiert sein, dass sie die Vorform einer Massenzeitung bereits real beinhaltet und jeder Zeit in Richtung auf diese Massenzeitung hin entwickelt werden kann. Das bedeutet auch, dass Inhalt, Stil und Aufmachung so gestaltet werden, dass er mit Arbeiteravantgarden , mit denen wir in einem wie auch immer gearteten Diskussionszusammenhang stehen, durchgesprochen werden kann. Soll die Zeitung tendenziell zu einer Massenzeitung werden, so bedeutet das auch, dass eine explizite Auseinandersetzung mit Theorien und Organisationsformen anderer Zirkelorganisationen wie den Parteiansätzen eine total untergeordnete Rolle spielen. Nichts kann uns schlimmeres passieren, als hinter den verschiedenen KPs wie ein Kläffer hinterherzulaufen und damit zu einem Kritikaster zu werden. Ein Schicksal, dem viele Berliner Publikationsorgane erlegen sind. Erst wenn die Organisationen eine reale Basis in der Arbeiterklasse aufweisen, was ja keineswegs ausgeschlossen ist, werden sie für uns zu einem Problem der Auseinandersetzung-

Die Zeitung würde also vier Hauptteile beinhalten. Erstens die permanente Aufarbeitung der eigenen Praxis. Zweitens die Reportage, d.h. die Darstellung von Ereignissen und Bewegungen des nationalen Klassenkampfes aus der Sicht und Bedürfnislage der unmittelbar Beteiligten (Arbeiter, die Streiks tragen, aber auch aus der Diskussion mit Gruppen heraus, die längerfristige Arbeit aufgenommen haben, wie etwa die Plakatgruppe) 3. Die Analyse und Stellungnahme zu allgemeinpolitischen und ökonomischen Problemen, wobei diese Artikel immer auf ihre praktikable Verwendbarkeit hin überprüft werden müssen. Viertens die Darstellung vor allem des europäischen Klassenkampfes. Die Begründung hierfür weiter unten.

Die Zeitung ist nicht das Publikationsorgan einer nationalen Organisation. Deswegen sind pluralistische Momente nicht auszuschließen und sind in einem gewissen Rahmen zu dulden. Dieser Rahmen kann aber mit bestimmten Schlagworten umrissen werden: Arbeiterautonomie, Primat der Praxis und Betriebsarbeit, radikale Gewerkschaftskritik, Einbeziehung der Ausländer in den nationalen Klassenkampf, praktische Bezugnahme auf den proletarischen Lebenszusammenhang. Also im großen und ganzen das, was der RK und die Arbeitersache, sowie die mit ihnen sympathisierenden Gruppen bisher an
linienmäßigen Äußerungen gemacht haben.

Über die Notwendigkeit der Zeitung für unsere Gruppe (Arbeitersache)

Das erste und gewichtigste Argument, das gegen die Zeitung spricht, besteht darin, dass sie einen Ersatz für die Betriebsarbeit darstelle, die ja in den letzten Monaten kaum Erfolge aufweisen konnte. Begründet wird diese Erfolglosigkeit einmal damit, dass die Genossen allzu wenig Praxis betrieben hätten, dass die Agitation vor dem Fabriktor und den Wohnheimen in einschneidender Weise vernachlässigt worden wäre, dass die Untersuchungsarbeit und der Aufbau von Abteilungsgruppen, kaum waren sie in Angriff genommen, nicht weitergeführt wurden und letztlich, dass die Gruppe in allzu viele allgemeinpolitische Probleme (Baader Meinhof, Straßenbahn, griechischer Faschismus ) verstrickt wurde, was einer Liquidation der Betriebsarbeit gleichkam. Wenn man nun den Ursachen für diese Situation nachgeht, so ist ganz sicher nicht der letzte Punkt, die allgemeine Intervention allein dafür verantwortlich zu machen. Den Beweis liefert der Verlauf der politischen Arbeit im Dezember und Januar, wo die Betriebsgruppe BMW, was Ihre proletarische Verankerung anbelangt, ihren Höhepunkt aufwies und die Externen versagten, obgleich nirgends über den Betrieb hinausgehende Arbeit geleistet wurde. Die weiteren Ursachen werden dann meistens in Strukturproblemen der Gruppe gesehen. Dieses Argument hat zweifelsohne seine Berechtigung. Die vorgeschlagenen Lösungen sind aber in den meisten Fällen egoistisch, so dass jede Gruppe ihre spezifischen Interessen zum Tragen bringen will und damit das Ganze aus den Auge verliert. Das Ganze aber ist eine international zusammengesetzte Organisation, wobei jede Nationalität ihre besonderen politischen Schwergewichte setzt. Wenn sich diese Vorstellungen auch linienmäßig auf einen gleichen Nenner bringen lassen, so geraten sie immer wieder in Widerspruch mit dem vorhandenen Kräfteverhältnis. Demonstrieren wir gegen die Bullen, stehen wir nicht vor dem Fabriktor usw. Dabei ist natürlich auch die Tendenz festzustellen, dass die langfristige und mühsame Kleinarbeit in und außerhalb der Fabrik allzu leicht durch ein spektakuläres Auftreten in anderen Bereichen hintangestellt wird. Und jetzt werden mehrere sagen, kommt noch die Zeitung hinzu. Was spricht denn also noch in dieser Situation für ein allgemeines Publikationsorgan, wenn nicht einmal die Praxis richtig klappt? Aber gerade darin liegt der Punkt, aus dem die Zeitung in ihrer jetzigen Form ihre Berechtigung herleitet. Wir sind ja in unseren strategischen Vorstellungen weit dem voraus, was sich unmittelbar aus der höchstens zweijährigen Arbeit in und außerhalb des Betriebes ergibt. Diese Ungleichzeitigkeit ist jedoch keine reine Willkürmaßnahme von Genossen, wenn auch das sicherlich ein Problem darstellt, sondern die reale Widerspiegelung der Ungleichzeitigkeit der Klassenkämpfe selbst. Die Arbeiterautonomie zum Beispiel ist in vielen Industriezentren Europas zu einer politischen Alternative zu allen klassischen Organisationsformen des Proletariats geworden. Gerade deswegen kann sie uns als Zielsetzung für unsere noch immer sehr beschränkte politische Tätigkeit dienen. Die Sicherheit, die wir brauchen, um eine allgemeine Linie aus unserer Arbeit zu entwickeln, kann nicht allein aus einer lokalen Betriebsarbeit gezogen werden. Sie setzt sowohl die Kenntnis der Praxis von Gruppen in Deutschland, die unter ähnlichen Vorzeichen arbeiten wie wir (RK), voraus als auch die Kenntnis der Massenbewegungen im gesamteuropäischen Rahmen. In dieser Unkenntnis liegt sicherlich ein wichtiges Moment, das unsere Arbeit abflachen lässt. Sobald eine lokale politische Stagnation auftritt, wirkt sie sich in verheerender Weise auf das Engagement aus und endet in Resignation. Durch die Zeitung kann die Einsicht geschaffen werden, dass sich unsere politische Arbeit in den Zusammenhang der deutschen und der europäischen Klassenkämpfe stellt, dass eine lokal bedingte Rückläufigkeit nicht als Rückläufigkeit des Klassenkampfes schlechthin erfahren wird. Zwei Beispiele wollen wir für die Bedeutung der nationalen und internationalen Vermittlung anführen. Einmal die Opelereignisse, die die Möglichkeit gaben während der Tarifverhandlungen klarer und eindeutiger aufzutreten, die die Gruppe erst überhaupt zu einer konsequenten und engagierten Arbeit motivierte. Zweitens der oft rührige Optimismus der italienischen Genossen, der zwar viele Fehler verursachte, aber uns andererseits Meilenschritte weiterbrachte. Ihr Engagement, das dasjenige der deutschen Gruppe doch in vielen Fällen überstieg, entstand natürlich wesentlich aus der Tatsache, dass sie eine Organisation hinter sich hatten, die in Italien eine Avantgarderolle spielt. Die Einbettung der lokalen Arbeit in einen politischen Gesamtrahmen, das kann eine solche Zeitung leisten und das ist für uns im Augenblick ihre wesentliche Aufgabe. Es scheint viel sinnvoller, die allgemeine aktive Intervention außerhalb des Betriebes genauestens unter den Aspekt des Kräfteverhältnisses zu überprüfen, mit allen Kräften die Betriebsarbeit wieder aufzunehmen, aber sich auf jeden Fall an einer solchen Zeitung zu beteiligen. Im Grunde bleibt uns auch kaum eine andere Alternative. Denn wenn wir nicht in aller nächster Zeit in der Lage sind, unsere Praxis und ihre strategische Einordnung schriftlich niederzulegen, bleibt die Gruppe allemal geschichtslos und kann immer von vorne anfangen.

Vorschläge für eine erste Nummer. (Beispiel)

1.) Kampf gegen die kapitalistische Produktivität anhand der Praxis des letzten Jahres bei der MAN und BMW

2. ) Die Arbeit im Militär

3.) Frauenarbeit bei Siemens (wenn die beiden letzten Gruppen glauben, noch nicht in der Lage zu sein, ein Konzept ihrer Arbeit schriftlich niederzulegen, kann man die Artikel auch in Diskussionsform machen.)

4.) Bericht über Medizinerläden der Lotta in Turin (Artikel liegt vor bei Frankfurter Mediziner)

5.) Kampf der polnischen Arbeiter (übersetzter Artikel von L.C. Der Artikel ist insofern wichtig, weil er auf die Parallelität der Forderungen und Bedürfnisse der polnischen Arbeiter mit den westeuropäischen Klassenkämpfen hinweist.)

6.) U.U. ein Artikel über Nordirland

7.) Funktion der Zeitung

Über die technische Bewältigung des Projekts und die redaktionelle Organisation soll erst gesprochen werden, wenn das Projekt politisch inhaltlich akzeptiert ist. Jedenfalls sollte nach dieser Vorraussetzung eine Kommission gebildet werden , die diese Probleme prüft und in aller nächster Zeit zur Diskussion vorlegt.


Material Arbeitersache, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: Alternative Medien