Materialien 1968

Erklärung

Die gesamte außerparlamentarische Opposition ist nicht mit Bundeskanzler Kiesinger einig.

Das Attentat auf Rudi Dutschke ist die Folge einer Entwicklung in der Bundesrepublik, die uns mit Sorge erfüllt, und an der jene Schuld tragen, die jetzt von Gewalt reden.

Es ist Gewalt,

wie die Springerpresse und andere Massenmedien die Meinung manipulieren.

Es war Gewalt,

wie die Organe der etablierten Herrschaft sich über die Volksmeinung hinwegsetzten, beispiels-
weise als sie gegen den Willen von 80 Prozent der Bevölkerung die allgemeine Wehrpflicht ein-
führten.

Es ist Gewalt,

wenn die Bundesregierung eine Notstandsverfassung einführen will, ohne das Volk wirklich zu informieren – auch über die Folgen für jeden einzelnen.

Wir begrüßen den Protest gegen diese Gewalt. Die außerparlamentarische Opposition. voran die Jugend, ist auf die Straße gegangen, weil anders kaum noch die Möglichkeit besteht, sich Gehör zu verschaffen. Die Regierung aber kennt als Antwort nur die Drohung mit der Polizei, deren Gewalt-
tätigkeiten lediglich geeignet sind, Wut, Verbitterung und unbesonnene Reaktionen zu provozie-
ren, die bis zu Steinwürfen einzelner ausarten können. Wir fordern Parlament und Regierung des-
halb auf:

1. sich endlich der außerparlamentarischen Opposition zu ernsthafter Auseinandersetzung zu stellen, statt sie als Minderheit zu diffamieren und zu unterdrücken,

2. auf den Boden des Grundgesetzes zurückzukehren und alle Pläne einer Notstandsverfassung fallen zu lassen,

3. den Springer-Konzern aufzulösen, bzw. nach Maßgabe des Grundgesetzes zu enteignen und allgemein eine Demokratisierung unserer Wirtschaft durchzuführen,

4. die Mitbestimmung in allen Betrieben, wie auch an den Schulen und Universitäten zu ver-
wirklichen,

5. jede Unterstützung des amerikanischen Krieges in Viet-Nam aufzugeben und gemeinsam mit unserer Jugend die Einstellung des Krieges zu verlangen.

Unterzeichner:
Dr. Johannes Bechert, Priv.-Doz. · Horst Bienek, Schriftsteller · Christiane Bruhn, Schauspielerin · KIaus Budzinski, Journalist · Hans Clarin, Schauspieler · Erich von Derschatta, Verleger · Bernt Engelmann, Schriftsteller · Dr. Rudolf Führer, wiss. Assistent · Dr. Hans Günther · Prof. Dr. K. Heckmann · Dr. Hans Heinz Heldmann, Rechtsanwalt · Friedrich Hitzer, Schriftsteller · Ludwig Hoelbe, Rechtsbeistand · Ingeborg Hoffmann, Schauspielerin · Heinz Huber, Oberinspektor · Michael Jary, Regisseur · Robert Jung, Buchhändler · Ulrich Kabitz, Verlagslektor · Yaak Karsunke, Schriftsteller · Dr. Heinar Kipphardt, Schriftsteller · Prof. Dr. Koch · Mira von Kühlmann · Claudia Lobe, Schauspielerin · Dr. Walther Marseille, Psychologe · Claudia Marseille · Walter Ohm, Re-
gisseur · Werner Präg, Historiker · D. E. Ralle, Rechtsanwalt · Dr. Werner Röder, Historiker · Friedrich Röll, Ingenieur · Herbert Röttgen, Verleger · Dr. Erika Runge, Regisseur · Dr. Erasmus Schöfer, Schriftsteller · Rudolf Scholz, Stadtjugendpfleger · Hans Schweikart, Regisseur · Prof. Schug-Kösters · Robert Seewann, Architekt · Martin Sperr, Schriftsteller · Peter Stein, Regisseur · Dr. Erna Stier · Hannes Stütz, Schriftsteller · Fritz Vehmeier, Buchhändler · Dr. Paul G. Völker, Lehrbeauftragter · Helmut M. Vogel, Fotograf · Manfred Vosz, Maler · Dietrich W. Wabner, wiss. Assistent · Ingeborg und Hans J. Weber, Fotograf · Willi Weismann, Verleger · Peggy und Hans Zeitler, Architekt · Prof. Zollitsch · Gerhard Zwerenz, Schriftsteller.

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PRESSEFREIHEIT

Die umstehende Erklärung sollte nach dem Willen der Unterzeichner in der »Süddeutschen Zei-
tung« als bezahlte Anzeige veröffentlicht werden. Damit wollten sie das im Grundgesetz garan-
tierte Recht ausüben, »ihre Meinung in Wort und Schrift frei zu äußern und zu verbreiten« (Art. 5 Grundgesetz).

Der Süddeutsche Verlag lehnte ab. Obwohl allein die Unterzeichner die Verantwortung für den Inhalt der Erklärung tragen, verweigerte auch der Herausgeber der Münchner »Abendzeitung«, Werner Friedmann, die Veröffentlichung des Anzeigentextes. Friedmann wies die Enteignung des Springer-Konzerns »nach Maßgabe des Grundgesetzes« als »kommunistisch « zurück. Der stell-
vertretende Chefredakteur des »Münchner Merkur«, Dr. Paul Noack, erklärte, er sehe keinen Grund, der gegen eine Veröffentlichung der Anzeige in seinem Blatt spräche. Hier irrte Noack.
Der Verlag lehnte ab: »Unsere Zeitung soll keine Tribüne für politische Auseinandersetzungen werden.«

lm Gegensatz zu Dr. Noack scheint Werner Friedmann das Grundgesetz nicht zu kennen. Artikel 14 bestimmt u a., dass eine Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit zulässig ist.

Die »New York Times« etwa bringt ganzseitige Anzeigen von Bürgern, die auf diese Weise öffent-
lich die Regierungspolitik der USA kritisieren. Die »Süddeutsche Zeitung«, die sich gern als »links-
liberal« bezeichnen lässt, hält wenig von diesen selbstverständlichen Grundsätzen der liberalen Presse des Auslands.

Sogar der stellvertretende Chefredakteur Paul Noack musste sich mit seiner Meinung den Ge-
schäftsinteressen der Verlagsleitung beugen. Sollte sich auch bei unseren unabhängigen Zeitungen schon die Praxis des Springer-Konzerns durchgesetzt haben, nach der der Verlagseigentümer be-
stimmt, was Presse- und Meinungsfreiheit ist?

Der Journalist Sebastian Haffner, der Springer-Praktiken aus eigener Berufserfahrung kennt, schreibt im Mai-Heft der Zeitschrift »konkret«: »Schon heute ist der noch bestehende Zeitungs-
pluralismus in Deutschland mehr Schein als Wirklichkeit. Schon heute lebt jede noch existierende Zeitung in Deutschland sozusagen von Springers Gnaden – und weiß es; es dürfte keine mehr geben, der er nicht, wenn er es darauf anlegte, so oder so das Lebenslicht ausblasen könnte.«

Druck: Stützinger, Leonrodstraße 17
Verantwortlich: Werner Präg, Werner Röder, Peter Weismann, 8000 München 22, Liebigstraße 39


Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

Überraschung

Jahr: 1968
Bereich: Medien