Materialien 1945
Der „Einspruch“
Wir geben dem Beitrug, der für die Rubrik „Das freie Wort“ eingesandt wurde, hiermit be-
sonderen Raum. Otto Graf, der das politische Leben Bayerns genau und seit langem kennt, berichtet hier über seine jüngsten Erfahrungen.
Wenn man Gelegenheit gehabt hat, sowohl in der Großstadt wie in der Provinz Hunderte von Einspruchsgesuchen gegen die Disqualifizierung aus Nazigründen durchzusehen, dann ergibt
sich in summa wohl ein allgemein verbindlicher Eindruck.
Dieser Eindruck ist unbehaglich, um nicht zu sagen unheimlich. Es zeigt sich in fast allen Fällen – sie sind wie über einen Leisten geschlagen, von einer wahrhaft erschreckenden Gleichartigkeit und Uniformität –, dass die Begründung der Disqualifizierung überhaupt nicht verstanden und nicht begriffen wird; dass unter all den Gesuchstellern kaum einer ist, der ein Gefühl für seine Schuld hätte und dies ausdrückte. Fast aus allen diesen Einspruchsschreiben ergibt sich, dass die Schrei-
ber die Schuld für ihre Lage keineswegs bei sich selbst suchen, sondern nur bei anderen und deren vermeintlicher Bösartigkeit.
Nirgends ist da auch nur eine Spur von Nachdenklichkeit, auch nur der Schatten eines eigenen Schuldgefühls. Sie alle spielen, von A bis Z, die Rolle der gekränkten Unschuld.
So sieht zum Beispiel in Altbayern „der“ Einspruch gewöhnlich aus: Der Unterzeichnete war lange vor den Nazis Mitglied der oder jener bürgerlichen Partei. Er war immer ein guter Katholik, der seinen kirchlichen Pflichten nachkam. Er hat bald offen, bald vertraulich gegen die Nazipolitik bei den und jenen Bekannten Stellung genommen und hat sie abgelehnt. Er hat allein oder mit Freun-
den Auslandssender abgehört. Er war von 1935, 37, 39 bis 45 Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Nebenorganisationen. Er war Blockwart, Zellenleiter, Pressereferent und so fort. Die Begründung für den Eintritt in die Nazipartei – deren Politik, deren kulturelle und menschliche Haltung der Petent nach seiner eigenen Mitteilung stets scharf ablehnte – lautet dann fast immer so:
Ich war zum Eintritt in die Nazipartei gezwungen, weil mir der Ortsgruppenleiter, der Kreisleiter oder sonst ein Nazifunktionär „bedeutete“, dass ich andernfalls mein Geschäft, meinen Laden, mein Gewerbe, meine Arbeit nicht fortführen, nicht beibehalten könnte. Weil mir ernstliche Schwierigkeiten von den Nazis gemacht wurden. Weil ich nicht befördert worden wäre. Weil ich eine große Familie habe. Weil ich meine Pension verloren hätte. Weil ich sozial und gesellschaftlich geschädigt worden wäre. Weil, weil, weil … Und immer sind es materielle, ökonomische, geschäft-
liche und finanzielle Beweggründe, welche Tausende und Zehntausende zum Eintritt in eine Partei veranlassten, eine Partei, die der Gesuchsteller – wenigstens nachträglich – politisch und mora-
lisch scharf verurteilt haben will. Und so vom kleinsten Angestellten über den wohlhabenden Bürger und Geschäftsmann, über die Beamten bis zu den „geistigen Führern“ der Nation, bis zu den Mittel- und Hochschullehrern – immer das gleiche!
Eine kleine Variation bringen nur jene Schlaumeier herein, die behaupten, dass sie durch ihren Eintritt in die NSDAP „das Schlimmste“ hätten verhindern wollen. Dieses Argument taucht besonders in den Gesuchen sogenannter Intellektueller auf. Sie scheuen sich, das nackte und direkte materielle Interesse als selbstverständlichen Grund für ihre Handlung anzugeben. Inwie-
weit sie „das Schlimmste“ freilich verhinderten, das verschweigen diese Typen vorsichtigerweise, denn sie wissen gut, dass sie nicht das Geringste verhinderten; sie wissen genau, dass ihre Begrün-
dung Vortäuschung und Schwindel ist; dass auch sie lediglich von der Sorge um den Verlust des Einkommens und der Pension bestimmt wurden.
Unter den rund 5.000 bis 6.000 deutschen Hochschullehrern findet man kaum ein Dutzend Männer, die nach 1933 nicht das, was sie ehedem als ihre „heilige Überzeugung“ bezeichneten, preisgegeben hätten. Die deutsche Wissenschaft verbrannte, was sie angebetet, betete an was sie verbrannt hatte. Gerade der Bankerott der geistigen Führungsschichten Deutschlands war voll-
kommen. In Italien aber – und wie verächtlich sah das deutsche Volk, das „Volk der Denker und Dichter“, auf Italien hinab – mit seinen 1.600 Universitätslehrern bewiesen unter der Führung des alten Benedetto Croce immerhin vierzehn Mut und Charakter und nahmen um ihrer Überzeugung willen bittere Opfer, Not und Tod auf sich.
In Deutschland trat man zu Millionen in die NSDAP ein, stärkte sie in ihrer Politik, ermöglichte dadurch einer Horde von Verbrechern, den Erdball in ein Meer von Blut und Leid zu stürzen – um nachträglich im „Einspruch“ zu erklären: man habe diese Politik verdammt, aber man habe eben mitmachen müssen, um Stellung, Geschäft, Gehalt und Pension nicht zu verlieren. Das Volk der Denker und Dichter in Theorie und Praxis!
Nicht einer der vielen Protestierenden redet in seinem Einspruch von sich und seiner Schuld; von seiner Bequemlichkeit, von seiner Feigheit und Verantwortungslosigkeit; von seiner Überzeu-
gungs- und Charakterlosigkeit. Sie alle finden ihr Verhalten ganz in der Ordnung. Und jene Opfer, welche die sieben Göttinger Professoren, in einer ach wie fernen Zeit, im Jahre 1837, für ihre Überzeugung und Weltanschauung brachten, sie sind für Millionen Deutscher nur mehr ein Traum, eine vage Erinnerung, eine bei Schillerjubiläen und Zentenarfeiern noch ab und zu zitierte Seite aus der Geschichte der deutschen Literatür und des deutschen Geistes.
Otto Graf
Die Neue Zeitung. Eine amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung vom 14. Dezember 1945.