Materialien 1970

Exemplarisches Lernen und Entwicklung historischer Phantasie

Von R. J. Gramke

Der schnelle Fortschritt von Technik und Technologie bei den Industrienationen schafft ein scheinbar unüberwindliches Problem: während überkommene gesellschaftliche Erziehungsnormen im wesentlichen immer noch an einem „Man tut – man tut nicht“-Prinzip orientiert sind, Normen also, die auf Gehorsam und Unselbständigkeit ausgerichtet sind, fordert der technologische Fortschritt den autonomen, zur Selbstregelung und zur Kooperation fähigen Menschen.

Die Kluft zwischen den Verhaltensmustern (Prägungsstrukturen) und den zur Bewältigung von Gegenwart und Zukunft erforderlichen, von starren Denkschemata freien Verhaltensfähigkeiten wird immer größer. So wird die Frage nach einer Erwachsenenbildung, die dieser Problematik gerecht werden kann, immer dringlicher. Die gleichen Fragen stellen sich bei der Suche nach der bestmöglichen Vorbereitung von Entwicklungshelfern. Auch hier kann man ganz allgemein sagen: Das in der hierarchisch-bürokratisch organisierten Gesellschaft erlernte Verhaltensmuster stößt auf die völlig anders organisierten Gesellschaftsordnungen der sogenannten „Dritten Welt“ – mit all ihren Implikationen: fremdes Bewusstsein, fremdes Denken, fremdes Verhalten. Auch hier die Kluft zwischen Verhaltensmuster und Anforderung.

Einer der wesentlichen Gründe für die Schwierigkeiten vieler Entwicklungshelfer ist darin zu suchen, dass die Wahrnehmung den erlernten Verhaltensmustern entspricht und von da aus das Geschehen zumeist sehr eng interpretiert und vieles gar nicht erst wahrgenommen wird. Daher ist es notwendig, den Entwicklungshelfern eine Zurüstung zu geben, die sich nicht in bloßer Wissensvermittlung erschöpft, sondern zur Aufnahme und Weitergabe neuer Einsichten befähigt und zum Verlassen der starren Grenzen tradierter Verhaltensschemata ermutigt. Das bedeutet Förderung der Autonomie, Denken in gesellschaftlich-geschichtlichen Zusammenhängen und Reflexion innerhalb dieser Zusammenhänge.

Erwachsenenbildung heißt Umerziehung

Erwachsenenbildung ist – wenn sie gesellschaftlich relevant sein soll – immer ein Akt der Umerziehung. Eine Bildungsarbeit, die sich am alten Schema von Schule und Universität orientiert, kann den Menschen kaum Werkzeuge zur Bewältigung von Konflikten geben und nur wenig zum Erwerb neuer Einsichten in gesellschaftliche Zusammenhänge beitragen. Zeitgemäße, auf die Zukunft gerichtete Einsichten sind auf die Dauer verhaltensbestimmend, und sie geben dem Menschen die Möglichkeit, seine individuellen und gesellschaftlichen Konflikte zu lösen.

Das intellektuelle Erkenntnisvermögen des Menschen kann fast alles, was durch theoretische Vermittlung oder mechanisches Lernen angeboten wird, annehmen. Es kann einen Menschen sogar in die Lage versetzen, lange Aufsätze zu verfassen und Vorträge zu halten über Themen, zu denen er nicht die geringste Beziehung hat. Solange die dargebotenen Theorien, Informationen und Fakten der Denkstruktur entsprechen, werden sie entsprechend der Denkstruktur aufgenommen. Widersprechen sie jedoch dem Denkschema, werden Theorien, Informationen und Fakten automatisch uminterpretiert, was so weit gehen kann, dass bei Verwendung ein und desselben Begriffssystems ganz verschiedene Inhalte entstehen können, die sehr häufig der Grund für Missverständnisse, ja für ein völliges Aneinander-vorbei-Reden sein können. Das menschliche Denken wird eben nicht so sehr von der intellektuellen Erkenntnis als von den erlernten Verhaltensmustern bestimmt – was sich sehr störend bemerkbar machen kann, wenn neue Einsichten und Vorstellungen mit alten Verhaltensweisen realisiert werden sollen. Der Leitung des Seminars lag also daran, eine Lernsituation zu schaffen, die den engen Rahmen des erlernten und daher auch erwarteten Schemas verlassen konnte. Dabei spielte auch die Frage eine Rolle, wie das Instrumentarium der Gruppendynamik, und das heißt des Erfahrens von Gruppenprozessen, der Förderung der Kooperationsfähigkeit und der Erweiterung der Wahrnehmung mit der unerlässlichen Vermittlung von Information kombiniert werden konnte.

Ausgediente Gewohnheiten

Man kann davon ausgehen, dass bei der Vermittlung von Wissen im alten Schema des aktiven Vortragenden und der passiven Zuhörer ein großer Teil des Gesagten gar nicht erst aufgenommen wird. Dies kann geschehen, ohne dass die Beteiligten sich dessen bewusst werden. Sie trennen sich in bestem Einvernehmen, sie sind vielleicht begeistert, sie bestätigen einander, wie schön und gut und erfolgreich alles war – und was das Schlimmste ist: Sie glauben es sogar.

Diese Atmosphäre der allseitigen Zufriedenheit sollte uns verdächtig sein, sie sollte sofort unsere Wachsamkeit wecken. Denn – zumindest nach einigem Überlegen – müssen wir uns eingestehen, dass unser Hochgefühl nichts anderes ist als ein fauler Zauber: Das angenehme Gefühl nämlich, dass wir ja richtig liegen, dass wir „in“ sind, wenn der Referent etwas vorträgt, was unserer Meinung und unseren Verhaltensmustern entspricht, und dass es eigentlich nichts gibt, was uns vor die unangenehme Aufgabe stellt, uns selbst zu verändern oder die Verhältnisse, in denen wir leben. Es leuchtet sicher ein, dass die eben beschriebenen Erscheinungen – und der Schein ist hier das Hervorhebenswürdige – das Produkt einer bestimmten Haltung bzw. Einstellung sind, die uns allzuleicht in die Fallstricke ähnlicher Situationen verwickelt. Wenn der Vortragende zum Beispiel geistreich ist, wenn er mit einer Menge Wissen brillieren kann, simuliert er unabsichtlich die Wichtigkeit des „Wissens an sich“ und verleitet daher andere, ebenfalls mit Fakten und Informationen zu brillieren, um zu zeigen, was sie alles gelernt haben. So macht sich das „Wissen“ plötzlich selbständig, wird abstrahiert, abgehoben vom Boden der Wirklichkeit, es wird degradiert zum Sammelsurium von Fakten, und es verliert seinen Wert als Information und Werkzeug für die praktische Arbeit. Allzuleicht auch schafft sich ein rhetorisch geübter Referent „sein Publikum“, aber er vertieft damit auch das Grundgefühl der Ohnmacht bei diesem „Publikum“ – und die Bereitschaft zur Abhängigkeit von denen, „die es ja wissen müssen“.

Fakten wozu?

Wir sind beim Lernen so sehr gewöhnt, auf Fakten zu warten oder uns Fakten zu holen, darauf, dass jemand uns diese Fakten vermittelt, dass wir voller Unruhe sind, wenn dieses Schema durchbrochen wird und man vor der Tatsache steht, dass erst einmal gefragt werden soll, was zu geschehen hat, warum und wie. Und genau das sind die Fragen, vor die die Seminarteilnehmer gestellt werden. Die Notizblöcke und Kugelschreiber waren bereit, aber die Gesichter wurden länger und länger, der Unmut wurde größer und größer, als keiner da war, der zu denen gehört, „die es wissen müssen“.

Die Konfrontation, in der alles offen ist und in der die Sinngebung durch die Teilnehmer erfolgen soll, stieß zunächst auf großen Widerstand, und der Ruf nach den Fakten und nach der Autorität – vor allem der „Dü-Gewaltigen“ – wurde immer lauter. „Warum sitzen wir hier herum? – Schließlich braucht man ein Ziel, und wir brauchen Fakten!“

Wer fragte nach Fakten wozu?

Denken in Prozessen

Viele Teilnehmer waren es nicht gewöhnt, in Zusammenhängen zu denken. Grundkenntnisse über den eigenen sozio-ökonomischen Hintergrund fehlten entweder völlig oder waren nur mangelhaft vorhanden. So musste also auch der Methode, in Zusammenhängen zu denken, viel Aufmerksamkeit gewidmet werden, damit die Informationen und die gruppendynamischen Übungen nicht verpufften. Auch die Einsicht in kulturspezifisches Denken konnte – wenn überhaupt darüber nachgedacht worden war – nicht artikuliert werden. Bei vielen Teilnehmern ließ sich ein Hang zum Soziozentrismus feststellen. Selbst bei den politisch Interessierten war die Frage, inwieweit ihr politisches Engagement und die daraus resultierenden Vorstellungen letztlich doch europäisch, also von einer hierarchisch-bürokratisch organisierten Industriegesellschaft bestimmt waren, kaum reflektiert.

Es fällt im allgemeinen noch schwer, in den Kategorien von Prozessen zu denken und sich selbst innerhalb eines Prozesses zu sehen. Dass Fragen offen bleiben müssen, vor allem hinsichtlich der Länder dar Dritten Welt, wird als unangenehm empfunden. Man ist zwar bereit, mit Elan an die Arbeit der Entwicklungshilfe heranzugehen, aber möglichst ohne große Umwege, ohne lästige Fragen und Problemstellungen, und es dauerte einige Zeit, bis sich die Einsicht durchsetzte, dass ein großer Teil entwicklungspolitischer Anstrengungen umsonst sein kann, wenn Entwicklungshelfer die speziellen Verhältnisse in einem Entwicklungsland nicht genügend kennen und nicht fähig sind, die Verhältnisse in diesem Land im Zusammenhang mit weltwirtschaftlichen und machtpolitischen Verhältnissen zu sehen.

Lernen will gelernt sein

Als man schließlich die Informationen über sozio-ökonomische Zusammenhänge und Entwicklungspolitik mit Interesse aufnahm, traten die Kugelschreiber in Aktion, und bei einem großen Teil der Seminarteilnehmer stellte sich Zufriedenheit ein. Nach einigen „lästigen“ Fragen der Gruppendynamiker gab dann ein indischer Referent den Anstoß zu einer erneuten „Störung“ des gewohnten Lehr- und Lernablaufs. Er fragte nämlich, ob man von der Wirksamkeit der Entwicklungshilfe überzeugt sei und ob sie ihrem Anspruch wirklich genüge. Er machte darauf aufmerksam, dass ein Entwicklungshelfer möglicherweise nur geduldet und als lästiger Fremder empfunden werde. Das brachte die Gemüter in Wallung, denn so was hört man nicht gern. Als schließlich aktive Mitarbeit auch durch den Referenten gefordert wurde und in Selbsterarbeitungsgruppen praktiziert werden sollte, war der alte Unmut wieder da.

Dass Lernen gelernt sein will und neues Lehren nur durch neues Lernen möglich wird, war eine Einsicht, die sich nach hartem Ringen durchsetzte. Dieses neue Lernen aber erfuhr man in neuen Situationen, durch Kooperation in Selbstregelungs- und Selbsterarbeitungs-Gruppen, durch die Konfrontation mit dem eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrund, durch Diskussionen im Plenum, in denen Zusammenhänge zwischen Projekt, Entwicklungsland und Weltwirtschaft diskutiert und schließlich durch Falldarstellungen verdeutlicht wurden.

Versteckte Vorurteile

Sinn und Zweck der meisten Übungen war, Lernen als einen sozialen Vorgang zu begreifen, das eigene Tun und Denken als sozial vermittelt kennenzulernen, um mit etwas Abstand vom eigenen Hintergrund den zukünftigen Partner zwar als anders, aber als gleichwertig und gleichberechtigt zu akzeptieren. Dass dies nicht so leicht war, stellte sich sehr bald in den Selbsterarbeitungs-Gruppen bei der Analyse von Zeitungsartikeln heraus. Wie leicht man unserer Kultur entsprechende Stereotypen über die Dritte Welt übersah, wie schnell man ein Opfer versteckter Vorurteile wurde: dies alles gab zu denken. Immer wieder tauchte die Frage auf: Wie oft wird uns das draußen passieren?

Insgesamt aber wurden die Teilnehmer kritischer, was sich auch in der Kritik an Formulierungen von Teilnehmern zeigte, bei denen man gesellschaftliche Stereotypen entdeckte oder zu entdecken glaubte.

Sinn oder Unsinn der Entwicklungshilfe

Während man zu Beginn des Kurses noch nach Fakten, nach Regeln rief, tauchte später immer mehr die Frage nach dem Sinn eines Fakts und nach dem Sinn oder Unsinn von Regeln auf, was endlich zu der Frage führte: Wann können wir von Entwicklungshilfe sprechen? Einem Bettler – meinte ein Techniker –, dem man eine Mark gibt, hilft man zwar ein wenig, aber man hilft ihm nicht, sich zu entwickeln. Unter gewissen Umständen kann die Verweigerung eben dieser Hilfe und die Aufklärung des Bettlers über seine Situation wesentlich mehr Entwicklungshilfe bedeuten. Allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass wir alle in einem Entwicklungsprozess stecken und dass es überall Wechselwirkungen gibt, an denen man – ob man etwas tut oder etwas unterlässt – stets teilhat, und dass der Stellenwert des eigenen Tuns immer wieder neu bestimmt werden muss.

Als wesentlich wurde von den Teilnehmern des Seminars schließlich die Erfahrung anerkannt, dass durch Selbsterarbeitung mit Hilfe einer demokratischen Anleitung die Effektivität der Arbeit wesentlich gesteigert werden kann und dass man dadurch, dass man die Verantwortung für das Lernen selbst übernimmt, zu wesentlich besseren Ergebnissen kommt. Wurde Entwicklungshilfe zunächst nur als Änderung eines Zustands in einen anderen verstanden, was ein statisches Denken verriet, so war doch, nicht zuletzt wohl durch den Gesamtprozess des Seminars, ein Sinn für Prozesse geweckt. Die Frage nach gesellschaftlichen Möglichkeiten und politischen und weltwirtschaftlichen Barrieren der Entwicklungsarbeit trat immer mehr in den Vordergrund – und damit auch die Frage nach Sinn und Zweck des eigenen Tuns. Mindestens eines der Ziele schien erreicht: das Entstehen von Problembewusstsein sowohl im individuellen Bereich wie in dem von Projekt und Entwicklungshilfe.

Dreieinhalb Wochen Seminararbeit dürfen in ihrer Wirkung nicht überschätzt werden. Bliebe zu erwägen, ob eine Verlängerung des Seminars nicht möglich wäre, bliebe zu fragen, ob das Gelernte wirklich Prozesse eingeleitet hat. Prozesse von Veränderung, von Neuorientierung der Wahrnehmung, Veränderung des Bewusstseins – ob es neben der Bereitschaft auch die Fähigkeit vermitteln konnte, Mitverantwortung für die Weltgesellschaft zu übernehmen.

Wir meinen, dass weiterführende Kurse in den Entwicklungsländern von großem Nutzen wären. Sicher scheint uns, dass noch nicht der Weisheit letzter Schluss gefunden wurde, dass noch viele Fragen offen bleiben, dass immer wieder nach neuen Antworten gesucht werden muss und dass dieses Suchen im Dialog aller Beteiligten die größte Aussicht auf Erfolg verspricht.


– der überblick vom Dezember 1970, 20 ff.

Überraschung

Jahr: 1970
Bereich: Internationales