Materialien 2012
Urbane Aufstände 1848 – 2012
Rede für den Kongress „Revolution im Zwischenraum“, 23. – 25. März 2012 in der Evangelischen Akademie Tutzing von Siegfried Benker, Fraktionsvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen – rosa liste im Münchner Stadtrat
Sehr geehrte Damen und Herren,
„Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch die Ausbeutung des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet … Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet und werden noch täglich vernichtet … An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle … Nationen in die Zivilisation. Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen.“
Man könnte meinen, eine aktuelle Analyse gehört zu haben: Vernichtung alter Industrien zugunsten eines weltweit agierenden Marktes. Geistige Erzeugnisse gehören nicht mehr dem einzelnen, der einzelnen Nation, sondern stehen allen zur Verfügung – man könnte meinen eine Forderung von der letzten ACTA-Demonstration vor sich zu haben. Die „unendlich erleichterte Kommunikation“ reißt alle Nationen in die „Zivilisation“. Wenn wir den kolonialistisch angehauchten Begriff Zivilisation hier einmal nicht beachten, sondern als ein „in die bürgerliche Demokratie reißen“ betrachten, könnte man meinen, eine Kommentierung der Wirkungen der neuen Medien bei den letzten Revolutionen im arabischen Raum vor sich zu haben.
Was sich hier so aktuell darstellt ist aus dem Kommunistischen Manifest vom Februar 1848 (S. 37/38). Am Schluss möchte ich darauf zurückkommen.
Mit der Entstehung der Städte im Mittelalter wurden auch die Macht- und Wirtschaftszentralen in den Städten konzentriert. Die sozialen Auseinandersetzungen haben sich folglich vom Land in die Städte verlagert. Urbane Aufstände sind der Motor von Entwicklungen und immer ein Ausdruck gesellschaftlicher Umwandlung. Sie sind der Ausdruck eines kompakten, in der Stadt verdichteten, komprimierten Lebensgefühls. Es ist der Ausdruck des „so nicht mehr regiert werden Wollens“, wie Foucault es ausgedrückt hat. Der urbane Aufstand ist der Aufstand in den Schaltzentren der Macht. Der urbane Aufstand ist dort, wo genügend Menschen sind, um sich selbst zu vergewissern, dass man nicht alleine ist – und es sind genügend Menschen da, um ihn zum Erfolg zu führen.
Überhaupt: Seitdem es Städte gibt, war es das Ziel der Menschen, sich selbst zu organisieren und selbst zu regieren. Stadtluft machte frei, im Mittelalter ganz formal für jeden, der ein Jahr unerkannt seiner Leibeigenschaft auf dem Land entkommen war. Und wer dem entkommen ist, der will keinen Herrn mehr über sich haben. Stadtluft macht auch rebellisch.
Der urbane Aufstand als Thema interessiert uns auch wieder – Jahre nach 68 –, weil ganz offensichtlich eine Unzufriedenheit mit den Lebensumständen – so allgemein soll es erst mal bleiben – deutlicher spürbar geworden ist. Occupy okkupiert die Schaltzentralen des weltumspannenden Kapitals, ein Buch wie Stephan Hessels Zehnseiter „Empört Euch“ wird in Millionenauflage verkauft. Ein Essay „Der kommende Aufstand“ von 2007 wird in allen Feuilletons der Republik in ganz Europa hymnisch gefeiert. Arabien befreit sich mit allen Mühen und Opfern von Diktaturen, die Jahrzehnte scheinbar unverrückbar an der Macht waren und vom Westen verhätschelt wurden, solange sie Menschenrechte mit Öl aufwiegen konnten. Und die neuen Medien, das Internet, die sozialen Netzwerke ermöglichen offensichtlich eine dauerhafte Debatte in Echtzeit und ermöglichen das Entstehen von kollektiv genährter Schwarmintelligenz. Die Echtzeitübertragung der neuen Medien und die Unzufriedenheit, die sich vor allem in den beschleunigten Zonen des Planeten, in den Städten, zeigt, verbindet sich zu neuen Möglichkeiten. Die Bedingungen für Aufstände sind offensichtlich einfacher geworden.
Der Zwischenraum, über den wir reden, und der den Titel gegeben hat für die Veranstaltung, ihn sollten wir genauer ansehen. Der Zwischenraum ist sicherlich der Raum zwischen dem realen Ort des Protestes: dem realen auf der Straße sein und der gleichzeitig stattfindenden virtuellen Debatte, dem Diskurs, sozialen Gruppenraum. Der Zwischenraum ist logischerweise niemals nur im Netz und niemals nur in der analogen Welt. Der Zwischenraum ist die neue verdichtete Debatte: real unterwegs aber gleichzeitig virtuell vernetzt. Man ist dauerhafter Sender und Empfänger von allem, was geschieht. Und ganz wichtig: Der Zwischenraum kann vermitteln, wie entschlossen die Menge wirklich ist, die gerade um mich herum ist.
Zum Einstieg in die Historie ein kleiner Tumult, der uns deutlich macht, was der Unterschied zwischen Aufruhr und Aufstand ist.
Die Münchner Stadtchronik vermeldet unter dem Datum 1. Mai 1844:
„Während die Feierlichkeiten bei Hofe (gemeint ist die Hochzeit von Erzherzog Albrecht von Österreich mit Prinzessin Hildegard von Bayern) noch nicht zu Ende waren, brach in der Stadt ein Tumult aus, der zu den ernstesten Besorgnissen Veranlassung gab. Der Satz für das Sommerbier zu 6½ Kreuzer (vorher 5) per Maß hatte unter der arbeitenden Klasse und auch unter dem Militär eine äußerst ungünstige Stimmung hervorgebracht. Beim Bierbräuer zum Mader im Tal saßen an diesem Abend mehrere Soldaten beim Bier zusammen und es fielen auch hier über den hohen Bierpreis verschiedene Äußerungen, sie weigerten sich schließlich mehr als 5 Kreuzer für die Maß zu bezahlen. Auf die ihnen nun gemachten Gegenvorstellungen fingen sie an, einige steinerne Maßkrüge zu zerschlagen und augenblicklich schlossen sich den Soldaten mehrere Individuen aus der arbeitenden Klasse an und es verging keine Viertelstunde, so waren in genanntem Bräuhause alle Fenster und Krüge zerschlagen, Türen und Kreuzstöcke aus den Mauern gerissen und eine allgemeine Zerstörung aller Möbel in dem Gastzimmer angerichtet. Die herbeigeeilte Gendarmerie-Mannschaft konnte die Ruhe nicht herstellen, sondern wurde verhöhnt und mißhandelt. Nun wurde die Sache ernsthafter und nahm einen weit schlimmeren Charakter als ein gewöhnlicher Bierexzess an. Man ging mit Steinen und Prügeln versehen nach den anderen Bräuhäusern im Tal und auch hier wurde alles zerschlagen. Von den Kasernen eilte das Militär in verschiedenen Kolonnen und im Sturmschritt nach der Mitte der Stadt. Dem Tumult, der unaufhaltsam sich fortwälzte, konnte nicht Einhalt geboten werden. Es war auffallend, wie gleichsam systematisch der zerstörende Haufe zu Werke ging. Man rief den Namen irgendeines Bräuers, der aus hundert Kehlen widerhallte, und zog dann zu dessen Haus. Nur zwei der hiesigen Bräuer wurden verschont; nämlich der Eberlbräu in der Sendlingergasse, welcher bisher immer das Bier unter dem Satz gegeben, und der Menterbräu in der Rosengasse. Ersterem brachte die tolle Menge ein Lebehoch, stürme an seinem Haus vorbei und zerstörte wieder alles bei den benachbarten Bräuern.“ (aus: Tagebuch der Stadt München. Die offiziellen Aufzeichnungen des Stadtchronisten 1818 – 2000, S. 21. ff.; Hrsg.: Brigitte Huber, Ebenhausen bei München, 2004)
Ein Musterbeispiel dafür, wie ein Funke explodieren kann, wenn die Situation entsprechend explosiv ist. Aber gleichzeitig macht es schon deutlich, dass sich dieser Vorgang von einem organisierten Aufstand deutlich unterscheidet. Es kommt zum Tumult, Aufruhr, es wird alles zerstört – aber es bleibt alles beim alten. Der Chronist erschrickt zwar, dass mehr geschieht, als beim gewöhnlichen Bierexzess, aber es gab keinerlei politische Konsequenzen. Dennoch sollte nie übersehen werden: auch der unpolitischste Aufruhr zeigt, dass der Aufruhr und evtl. auch der Aufstand möglich sind. Die Signalwirkung solcher Vorgänge ist in der Geschichte nicht zu unterschätzen.
Beginnen wir mit München in der Deutschen Revolution von 1848. Wie sah die Münchner Revolution aus, während andere den weltweiten Klassenkampf einforderten?
Am 7. Oktober 1846 gewährte König Ludwig I. der angeblichen spanischen Tänzerin Señora Maria de los Dolores Porris y Montez eine Audienz. Diese Audienz sollte der Beginn eines das Land erschütternden Verhältnisses zwischen der 25jährigen sein, die in Wirklichkeit Elisabeth Rosanna Gilbert hieß und ursprünglich aus Irland kam, und dem damals 60jährigen bayerischen König.
Diese Liebschaft hätte die katholischen Münchner nicht weiter aufgeregt. Es galt als Vorrecht des Monarchen, sich Mätressen zu halten. Das Problem begann, als Lola Montez Einfluss auf gewichtige Entscheidungen des Königs nahm. Immer deutlicher wurde, dass der König Lola Montez hörig geworden war. Und diese Abhängigkeit des Königs von Lola nutzte diese exzessiv aus. Nicht nur, dass ihr ein eigenes Palais in der Barerstraße zur Verfügung gestellt wurde, sondern auch, dass sie zur Gräfin Landsfeld erhoben wurde und dass sie gegen alle staatsbürgerlichen Regeln eingebürgert wurde. Lola spaltete mit ihren Auftritten die Stadtgesellschaft. Die für das öffentliche Leben wichtigen schlagenden Studentenverbindungen lehnten sie ab. Weswegen Lola Montez durchgesetzt hat, dass am 26. Juli 1847 eine eigene Studentenverbindung gegründet wurde, die ihr huldigte, die sog. Alemannen.
Die Revolution in München begann am 9. Februar 1848, als auf dem Odeonsplatz ein Mitglied des Lolatreuen Alemanen-Korps von anderen Burschenschaftlern und Studenten angepöbelt wurde. In seiner Not zog dieser Student einen Dolch und fuchtelte damit in der Luft herum. Die Waffe wurde sofort von einem anwesenden Gendarmeriehauptmann konfisziert; allerdings nahm dieser den jungen Mann nicht fest, sondern lies ihn laufen. Das führte bereits zur Empörung, diese steigerte sich aber noch, als sich Lola Montez unter die aufgebrachte Menge mischte und erkannt wurde. Die Menge fing an, sie zu bedrängen, woraufhin sie eine Pistole zückte und rief: „Seht her, ich habe eine Pistole“. Es folgte ein Handgemenge, während dem ihr ein Passant die Pistole entriss, woraufhin Lola Montez sich in die nahegelegene Theatinerkirche flüchten musste. Der König, inzwischen alarmiert, musste Kürassiere aus der Residenz schicken, um Montez in einem sicher unschönen Spießrutenlauf in Sicherheit zu bringen.
Der König musste reagieren, war es doch nicht der erste Tumult gegen Lola Montez. Am gleichen Tag ließ Ludwig I die Ludwig-Maximilians-Universität mit sofortiger Wirkung schließen: „Sogleich ist die Universität für dieses Semester geschlossen und jeder Student, der nicht von hier, hat München bis übermorgen 12 Uhr zu verlassen.“
Zu diesem Zeitpunkt studierten in München ca. 1.500 Studenten. Der Stadtrat der Stadt München protestierte sofort: „Ein ebenso schwerer als unerwarteter Schlag hat die getreue Bürgerschaft Eurer Majestät Haupt- und Residenzstadt überrascht … die Nachricht von der plötzlichen Schließung der Universität … Mehr als tausend Familien des Königreiches würden den empfindlichsten Schaden davon erleiden. Nicht zu reden von dem schweren Verluste, der den Geschäftsleuten jeder Art darum erwachsen müsste.“
Hier zeichnet sich etwas wichtiges ab: Das Bürgertum solidarisiert sich mit den Studenten. Ein Vorgang, der für jeden Aufstand bedeutsam ist: Aufständische brauchen für den Erfolg meist breite Bündnisse. Dass hierbei finanzielle Verlustängste der Bürger eine große Rolle spielten, muss nicht schädlich sein. Finanzielle Sorgen sind ein starker Motor.
Einen Tag nach diesen Vorfällen versammelt sich im großen Sitzungssaal des Rathauses der Magistrat. Aufgebracht kommen aber auch die Bürger: Der Stadtchronist: „Um 2 Uhr nachmittags waren bereits weit mehr als 1.000 Bürger im großen Ratssaale versammelt … von Minute zu Minute wuchs die Anzahl der Bürger: vor dem Rathause selbst waren mehrere tausend Menschen versammelt.“
In einer erregten Debatte kam die Menge gemeinsam mit dem Magistrat überein, dem König eine Resolution zu überreichen, wofür eine Deputation gebildet wurde. Die Bürger wollten aber nicht mehr nach Hause gehen, so dass sich mehr als 2.000 Bürger der Deputation anschlossen als diese Richtung Residenz gingen. Über die gesamte Länge der Residenz am Max-Joseph-Platz bezog die Menge stillschweigend Aufstellung. Ihr gegenüber die bewaffneten Kürassiere. Das mag uns nicht sehr revolutionär erscheinen, 1848 ist dies eine ungeheure Aufstandshandlung.
Der König weigert sich zunächst, die Deputation vorzulassen. Erst nachdem mehrere verängstigte Mitglieder des Königshauses sich vor dem König weinend zu Boden geworfen haben, ist er missmutig bereit die Deputation zu empfangen, eine ungeheure Demütigung für den König. Entsprechend begrüßt er die Deputation: „Kommt eine Deputation bittlich zu ihrem König mit 2.000 Mann im Rücken?“ Der König ist außer sich, lehnt jedes Zugeständnis ab und droht damit, als nächstes die Residenz aus München weg zu verlegen – wer die Zahl der Hoflieferanten in München kennt, weiß, welchen immensen Verlust dies nach der Schließung der Universität bedeutet hätte. Unter dem Geschrei des Königs zieht sich die Deputation zurück: „Es bleibt dabei, ich lasse mich nicht schrecken; man kann mir mein Leben nehmen, aber meinen Willen nicht.“ Die Deputation und die Bürger ziehen schweigend wieder ab.
Schon wenige Stunden später aber war Ludwig I. bewusst, dass er den Bogen überspannt hatte. In königlicher Gnade, aber natürlich nicht als Eingeständnis einer politischen Niederlage, schrieb er noch am Abend an die Bürgerschaft: „Jetzo sich die Bürger ruhig zurückbegeben haben, ists mein Vorhaben, daß statt erst mit dem Wintersemester bereits mit dem Sommersemester die Universität wieder geöffnet werde, wenn bis dahin die Münchner Einwohner sich zu meiner Zufriedenheit benehmen.“ Dies würde eine Schließung von knapp einem halben Jahr bedeuten.
Das ist ein interessanter Augenblick bei jedem Aufstand, bei jeder Revolte: Wenn sich die Herrschenden in die Enge getrieben fühlen, gibt es halbe Zugeständnisse, und es findet sich in der Regel immer jemand, der mit dem halben Zugeständnis auch zufrieden ist. Dass ist oft der Augenblick in dem sich eine Bewegung spaltet, in angebliche Pragmatiker und angebliche radikale Kräfte.
Doch sieh an: Die Münchner Bürger blieben geschlossen und hatten dieses Feilschen satt.
Am Morgen des 11. Februar griffen die Münchner Bürger das Palais von Lola Montez in der Barerstraße an, obwohl das Gebiet rund herum zum militärischen Sperrgebiet erklärt wurde. Auch das Polizeipräsidium in der Weinstraße wurde angegriffen. Große, herumstehende Brauereiwagen wurden zu Barrikadenzwecken umgeworfen. Lola Montez stand halbnackt auf dem Balkon ihres Palais und rief: „Tötet mich, wenn Ihr Mut habt, hier bin ich.“ Der Innenminister forderte den König auf, Lola Montez auszuweisen, die Situation in der Barerstraße sei nicht mehr zu verteidigen: Zitat des Innenministers: „Sonst könne der König in einer Stunde sehen, wie die Leiche von Lola Montez hier vor seinem Fenster vorbeigeschleift wird.“
Der König muss einwilligen. Lola Montez flieht im Steinhagel; das Haus wird sofort gestürmt. Der König eilt in die Barerstraße, um die Zerstörung zu verhindern. Noch wirkt die Unantastbarkeit des Königtums scheinbar. Ludwig I stellt sich in die ehrfürchtige Menge und sagt nur: „Dieses Palais ist mein Eigentum.“ Doch dann geschieht etwas Unerhörtes: Ein Stein trifft den König am Arm. Dies ist der Augenblick, in dem die Unantastbarkeit des Monarchen für immer zerstört wurde.
Einschub: Es hört sich ohne Kenntnis der genauen sozialen Verhältnisse seltsam an, dass die erste Etappe der Bayerischen Revolution 1848 sich um eine Liebschaft des Königs drehte. Aber wir müssen sehen: Zum einen hat die Wut auf die politische Einflussnahme von Montez verschiedenste Schichten der Bevölkerung zusammengebracht, zum anderen konnte auf diese Art und Weise Lola Montez angegriffen werden, in Wirklichkeit aber der König getroffen werden. Dass der König aus dieser Auseinandersetzung geschwächt hervor ging, wurde schnell überdeutlich: Der preußische Gesandte schickte eine Woche nach den eben beschriebenen Vorfällen einen Brief nach Berlin: „Der König Ludwig ist vollständig aller Achtung, aller Autorität, alles Vertrauens bei seinem Volke entblößt … Es bedürfte nur des geringsten Anstoßes, um ihn zu entthronen …“
In diese entscheidende Schwäche der Monarchie drang in der Nacht zum 27. Februar 1848 die Nachricht vom Sturz des Königs in Frankreich. Die Stimmung wurde revolutionär.
(Hier muss als Einschub gesagt werden: Erfolge in anderen Ländern heizen eine revolutionäre Stimmung immens an. Das war 1848 so, das war 1919 so – und das war im arabischen Frühling so: revolutionärer Erfolg steckt an.)
Die Polizei forderte Verstärkung. Wie schon bei den Unruhen zwei Wochen vorher wurde das Militär massiv verstärkt, Dutzende von Zivilspitzeln der Polizei schlichen durch die Wirtshäuser. Doch die revolutionäre Aktion war nicht mehr aufzuhalten. Jetzt ging es den Bütteln, die Lola Montez auf ihre Posten gebracht hatte, an den Kragen. Am 2. März 1848 stürmte eine aufgeregte Menge das Haus des Bayerischen Innenministers in der Ludwigstraße gegenüber der Staatsbibliothek. Der Chronist: „Abends gegen 8Uhr wogten dichte Menschenmassen die Ludwigstraße auf und nieder. Die Laternen waren zerstört. Kurz nach 8 Uhr begann der tobende Haufe das Pflaster aufzureißen und Steine in zahlloser Menge auf das Tor und die Fenster des Mittelgebäudes zu werfen. Der Lärm wurde immer toller und nach etwa einer Viertelstunde hatte man das Tor zertrümmert und begann sofort einzudringen.“ Der Minister musste über die Gartenmauer flüchten.
Am nächsten Tag, den 3. März wurde wiederum im Rathaus eine Resolution verfasst, in der viele Märzforderungen der deutschen Revolution Eingang fanden: Ministerverantwortlichkeit statt monarchischer Allmacht, Reform des Polizeigesetzes, Vereidigung des Heeres auf die Verfassung, Vollständige Abschaffung der Zensur, Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Rechtspflege usw. Insgesamt ging es um die Konstitutionalisierung der Monarchie und die Stärkung der Bürgerrechte. Die Resolution wurde im Rathaus zur Unterschrift ausgelegt: Innerhalb eines Tages haben 20.000 Menschen unterschrieben (bei damals 90.000 EinwohnerInnen).
Dann kam der 4. März, der Höhepunkt der Münchner Revolution, aber auch der Tag, der zeigen sollte, wie brüchig das Bündnis der Aufständischen ist. Die Stadt war voll von Militär, aus anderen Städten des Landes waren weitere Garnisonen in die Stadt beordert worden, permanent waren berittene Soldaten in der Stadt unterwegs. Neben dem offiziellen Militär gab es in München traditionell die sogenannten Landwehr, die Landwehrstraße in München erinnert noch daran. Die Landwehr setze sich aus bürgerlichen Reservisten zusammen, war also für beide Seiten ein unsicherer Kantonist: Würde sich die Landwehr auf die Seite der bürgerlichen Aufständischen schlagen, aus deren Reihen sie sich eigentlich zusammensetze, oder auf Seite des Königs und des Militärs, auf das sie eigentlich vereidigt war. Eine der entscheidenden Fragen jedes Aufstandes: Wo stehen Polizei und Militär und Spezialtruppen?
Aber der König musste auch Angst vor einem Militärputsch haben: Kriegsminister Heinrich von der Mark hatte dem König bereits mitgeteilt, dass er sich für die Armee nicht mehr verbürgen könne, und wenn der König die Märzforderungen nicht unterschreibe, werde er sich im Vorzimmer eine Kugel in den Kopf schießen. Gleichzeitig war Ludwig von Hardlinern umgeben, die dem Motto huldigten: Gegen Demokraten helfen nur Soldaten.
Ludwig folgte dem als Kartätschenminister berüchtigten Fürst von Wrede und gab ihm freie Hand. Im Rathaus wurde zeitgleich die Resolution diskutiert, als bekannt wurde, dass von Wrede die Landwehr mobilisiert und damit faktisch der Ausnahmezustand ausgerufen worden war. In dieser Situation entschied man im Rathaus, sich selbst zu bewaffnen. Die Menschenmenge stürmte zum Zeughaus am Jakobsplatz – dem heutigen Stadtmuseum – und plünderte die dortige Waffensammlung. Insgesamt bewaffneten sich mehr als 2.000 Menschen, nachdem sie das dort vorhandene Militär überwältigt hatten. Die Menschen zogen zum Promenadeplatz. Das strategische Ziel der Aufständischen war es, sich auf dem Promenadeplatz mit der dort aufgestellten Landwehr zu vereinigen. Dies wurde zwar verhindert, weil zwischen beiden Lagern das Militär Aufstellung genommen hatte. Feldmarschall Karl Prinz von Bayern wollte aber auch eine Zweifrontenschlacht nicht riskieren und ließ die Bürger zur Landwehr durchziehen. Damit standen sich Militär auf der einen Seite und Bürger mit Landwehr auf der anderen Seite gegenüber. Der Bürgerkrieg schien unvermeidlich. Da zeigte sich auch, wie brüchig das Bündnis der Demokraten war: Jetzt standen Aufständische und Landwehr gemischt, aber würde die Landwehr auf ihre Seite gegen das Militär auch kämpfen? Verunsicherung machte sich breit. Ein entscheidender Augenblick jeder Revolte: Wie entschlossen sind alle? Kann man sich auf alle verlassen? Wer fällt einem in den Rücken? Wer ist zwar auf meiner Seite, kämpft aber im Ernstfall nicht? Wer ist ein Spitzel oder Provokateur?
Während auf der einen Seite die Entschlossenheit wackelte, war sich auf der anderen Seite der Bruder des Königs auch nicht sicher, ob seine Soldaten auf die Bürger schießen würden. Deshalb rettete der Feldmarschall die Situation: Er stellte sich vor die Bürger und versprach „mit Ehrenwort und deutschem Brustschlag“, dass der König die Forderungen der Bürger annehmen würde. Das rettete alle Anwesenden vor der Eskalation, von der sie nicht gewusst hätten, was aus ihr erwachsen wäre. Die Bürger legten alle ihre Waffen ab – und trugen sie sogar allesamt zurück ins Zeughaus.
Zwar versuchte König Ludwig noch, diese Zusage zu unterlaufen, aber die Unterschrift unter die Märzforderungen konnte er nicht mehr verhindern. Knapp zwei Wochen später trat er zermürbt zurück.
Zwar wurde diese Art Revolution-zu-treiben von außen verhöhnt: Gustav Diezel schrieb 1849 in seinem Standardwerk „Baiern und die Revolution“: „Arme Revolution, die Du dich nach München verirrt hattest! Der altbayerische Stumpfsinn feierte einen vollständigen und glänzenden Triumph.“ Aber das ist aus historischer Sicht eindeutig zu kurz gedacht. Ludwig I. blieb der einzige deutsche Monarch, der durch die Revolution zum Rücktritt gezwungen wurde. Die absolute Macht der Monarchie war in Bayern dauerhaft gebrochen. Das Verhältnis zum König in Bayern verwandelte sich im Lauf der nächsten Jahre eher zu der Rolle eines konstitutionellen Monarchen. Die erreichten bürgerlichen Errungenschaften, die Märzforderungen, konnten lange verteidigt werden, während sie in andern Teilen Deutschlands gar nicht eingeführt wurden. Und nicht zu vergessen: In einer ähnlichen Situation wie in München, als die Bürger unbewaffnet vor dem Palast standen, ließ Kaiser Wilhelm in Berlin in die Menge schießen. Die Folge waren mehrere hundert Tote und erbitterte Straßenkämpfe, im Endeffekt aber mit weniger Erfolg, als die Münchner Aufständischen hatten.
Der Zwischenraum hier war eindeutig das Rathaus. Es war der Gegenort gegen die Monarchie und der Ort des überraschend herrschaftsfreien Diskurses. Es gibt keine dauerhaften Führungspersönlichkeiten, es gibt kein echtes organisierendes Zentrum des Widerstandes, es gibt einen Ort der herrschaftsfreien Debatte: Das Rathaus.
Es zeigt sich aber auch: Die Revolution in München war keine proletarische Revolution. Während es in Berlin bereits ein nennenswertes Proletariat gab, war München eine ländlich geprägte Residenz- und Universitätsstadt. Das führt zu der wichtigen Frage der Ungleichzeitigkeit gleichzeitiger Entwicklungen. München war weit von den wirtschaftlichen Bedingungen für eine bürgerlich erfolgreiche Revolution, wie Marx und Engels sie beschrieben hatte, entfernt. Auch wenn wir heutige aktuelle Entwicklungen ansehen, Aufstände in den arabischen Ländern, Occupy-Bewegung oder das Manifest „Der kommende Aufstand“, müssen wir festhalten: Die Ausgangssituationen sind grundverschieden! Der arabische Frühling war die Forderung nach parlamentarischer Demokratie mit allen daraus erwachsenden Bürgerrechten. Deshalb ähneln viele Forderungen von 1848 übrigens verblüffend den aktuellen Demokratieforderungen in Nordafrika und im Nahen Osten: Sie kämpfen gerade um die Demokratie. Occupy dagegen sieht die Demokratie durch eine raffgierige und global zerstörende Art zu wirtschaften existentiell bedroht. Nur weil beide Bewegungen die gleichen Medien benutzen, sollte man vorsichtig sein, diese Aufstände über einen revolutionären Kamm zu scheren.
Was tat sich in München 70 Jahre später: Die Revolution in München 1918/19
Die Abläufe der Revolution in München 1918/19 sind so vielfältig und verschachtelt, dass es hier keinen Raum gibt, diese auch nur annähernd darzustellen. Deswegen möchte ich hier nur mit einem Briefausschnitt von Rainer Maria Rilke aus den Tagen nach der Revolution etwas von der Stimmung damals wiedergeben:
„Überall große Versammlungen in den Bräuhaussälen, fast jeden Abend, überall Redner, und wo die Säle nicht ausreichen, Versammlungen unter freiem Himmel nach Tausenden. Unter Tausenden war auch ich am Montag Abend in den Sälen des Hotel Wagner, Professor Max Weber aus Heidelberg, Nationalökonom sprach, nach ihm der anarchistisch überanstrengte Mühsam. Und weiter Studenten, Leute, die vier Jahre an der Front gewesen waren – alle so einfach rund offen und volkstümlich. Und obwohl man um die Biertische und zwischen den Tischen so saß, daß die Kellnerinnen nur wie Holzwürmer durch die dicke Menschenstruktur sich durchfraßen – wars gar nicht beklemmend, nicht einmal für den Atem; der Dunst aus Bier und Rauch und Volk ging einem nicht unbequem ein.“ (Rilke, zitiert nach Arbeit und Leben in München von 1840 bis 1945, Piper Verlag 1989)
Eine befreite und sich weiter befreiende Gesellschaft begann zu diskutieren. Und spaltete sich doch schnell an einer entscheidenden Frage: Sollte es ein parlamentarisches System geben oder sollte es eine Räteregierung geben.
Das ist die entscheidende Frage, die sich durch die gesamte Revolutionszeit zieht. Anarchisten traten für ein Rätesystem ein, in welchem die Räte allen BürgerInnen offen standen.
Damit standen sie im scharfen Kontrast zu den Kommunisten, für die die Räte der Kern der Diktatur des Proletariats sein mussten. Dies bedeutete, dass auch nur Kommunisten und Arbeiter in diesen Räten vertreten sein durften.
Dem gegenüber standen die Mehrheitssozialdemokraten, die das Rätemodell mehrheitlich vehement ablehnten. Alle Kämpfe des nächsten halben Jahres gehen um die Frage, ob die Revolution im Prinzip zu Ende ist, da eine parlamentarische Demokratie eingeführt wurde, die alle anstehenden Fragen durch Reformen von oben klären würde, oder ob die Revolution jetzt erst richtig beginnen müsste mit der Umwandlung aller Institutionen und sozialen Verhältnisse von unten nach oben.
Auch diese Phase kommt uns aus den arabischen Ländern bekannt vor: Die Erkämpfung eines demokratisch gewählten Parlaments ist nur der halbe Weg: Die Demokratisierung der Gesellschaft, die wirkliche institutionelle Entmachtung der alten Kräfte, das Angehen der verdrängten sozialen Fragen, die wirkliche Gleichstellung aller vor dem Gesetz ist mit der Einrichtung eines Parlamentes lange nicht erreicht.
Die Revolutionäre waren sich am Anfang einig, bald aber entlang unüberbrückbarer ideologischer Differenzen in Wirklichkeit heillos zerstritten. Anarchisten und Sozialisten auf der einen Seite und Kommunisten auf der anderen Seite und Sozialdemokraten gegen alle bekriegten sich mit allen Mitteln. Die Anarchisten verweigern die Mitarbeit in der kommunistischen, die Kommunisten in der anarchistischen Räterepublik. Die SPD verbündete sich mit den alten Mächten und lies die Revolution zusammenschießen. Es werden Hunderte von Arbeitern und linken Bürgern ermordet. Es entsteht die „Ordnungszelle Bayern“, in deren reaktionärer Gemengenlage der Nationalsozialismus gerade in München groß werden kann. Am Ende der Revolution in Bayern muss man einen Satz von Lenin zitieren, den alle Aufständischen aller Zeiten für immer beherzigen sollten: „Auf jede halbe Revolution folgt eine ganze Konterrevolution.“
Wenn wir schon dabei sind, sollten wir kurz bei Lenin bleiben: Vertreter der Revolutionäre haben sich 1918/19 wiederholt an Lenin gewandt, um stolz über die Revolution in München zu berichten. Am 27. April 1919 schreibt er leicht genervt per Telegramm zurück: „An die Münchner Räterepublik: Haben Sie Arbeiterräte in den Stadtteilen geschaffen, die Arbeiter bewaffnet, die Bourgeoisie entwaffnet, die Bestände an Kleidung und anderen Erzeugnissen verwendet, um … den Arbeitern sofortige und umfassende Hilfe zu leisten? Haben Sie die Fabriken und Reichtümer der Kapitalisten in München enteignet, die Löhne für ungelernte Arbeiter verdoppelt oder verdreifacht, alles Papier und alle Druckereien beschlagnahmt, den Sechsstundentag eingeführt, den Wohnraum der Bourgeoisie in München beschränkt, um sofort Arbeiter in die Wohnungen der Reichen einzuweisen, alle Banken in ihre Hände genommen, Geiseln aus der Bourgeoisie festgesetzt, für die Arbeiter größere Lebensmittelrationen als für die Bourgeoisie eingeführt und die Arbeiter ausnahmslos für die Verteidigung mobilisiert?“
Lenin, der München gut kannte, da er hier mehrere Jahre in der Kaiserstraße gelebt hatte, stellt hier eine entscheidende Frage: Wie ernst meint Ihr den Aufstand? Das muss nicht bedeuten, dass ein Aufstand nur dann ernsthaft ist, wenn er alle Verhältnisse radikal umstürzen will, vor allem ist dies sicher keine „Checkliste“ für einen Aufstand in der Demokratie. Vergleichen wir nur mal die Forderungen einer Bewegung wie Occupy, die die Bankenmacht weltweit brechen will mit diesen Fragen, dann sehen wir eklatante Unterschiede zwischen Aufstand und Aufstand.
Die Revolution in Bayern 1918/19 folgt ganz anderen Regeln und Orten als die Revolution von 1848. Mit dem Eintritt in die Moderne hat sich die Arbeiterschaft organisiert.
Die Auseinandersetzungen werden immer weniger echte Bürgerdebatten. Während sich 1848 keine echte ideologisch Ausrichtung findet, vereinnahmen die Parteien einen Großteil der Diskussion. Die Auseinandersetzungen werden entlang von Parteiideologien geführt. Nicht mehr die frei Debatte ist maßgeblich, sondern der Kampf um den parteipolitisch als richtig erachteten Weg.
Der sogenannte Hitlerputsch
Wir sollten nicht denken, dass Aufstände immer fortschrittlich und demokratiefördernd sind. Aufstände können unpolitisch sein, fortschrittlich – aber auch reaktionär. Die Geschichte ist voll von Beispielen von Aufständen, die sich gegen Modernisierung und Demokratisierung, gegen Gleichheit und Toleranz gewehrt haben.
Der sogenannte Hitlerputsch vom 9. November 1923 ist ein Musterbeispiel dafür. Nicht aus Zufall zum fünften Jahrestag der Revolution von 1918 wollte die NSDAP sich an die Spitze einer nationalen Revolution setzen und die verhasste Demokratie in Bayern und Berlin zerstören. Unter großem Wohlwollen der verantwortlichen Kreise in München, des reichen Bürgertums, des Militärs und der Polizei ist die NSDAP in München groß geworden. Die aktuellen Krisen des Jahres 1923 ausnutzend fand Hitler, dass die Zeit für eine „nationale Erhebung“ gekommen war.
Um den 1. November 1923 begann die NSDAP ihre SA-Verbände für den 8. November abends nach München zu organisieren. Für den 8. November wurde der große Saal des Löwenbräukellers am Stiglmairplatz gemietet und über 2.000 SAler fanden sich dort ein.
Gleichzeitig stürmte Hitler gegen 20.30 Uhr mit einem Revolver in der Hand eine Versammlung der Bayerische Volkspartei, die diese mit nationalen Verbänden im Bürgerbräukeller durchführte. Mit einem Schuss in die Decke beendete Hitler die Rede des Generalstaatskommissars Gustav von Kahr und rief die „nationale Revolution“ aus. Unter Zwang erklärten sich führende Politiker bereit, bei der „nationalen Erhebung“ mitzumachen. Dieser Erfolg wurde den 2.000 SAlern im Löwenbräukeller durchtelefoniert.
Sofort begannen diese damit, sich zu verborgenen Waffenlagern zu begeben und zentrale Orte in der Stadt zu besetzen. Unter anderem besetzten sie von Norden kommend das Wehrbereichskommando, das Gebäude an der Ecke Ludwigstraße/Schönfeldstraße, das die anderen Putschisten des Hitlermarsches später erreichen wollten. Die Redaktionsräume der Münchner Post, der Zeitung der SPD, wurden zerstört, das Hofbräuhaus besetzt, führende Politiker der SPD verhaftet, Behörden wurden erobert und besetzt. Als dies für die NSDAP erfolgreich verlief, beschlossen diese vom Bürgerbräukeller ausgehend, in dem sie übernachtet hatten, für den Morgen des 9. November einen Propagandamarsch in die Innenstadt durchzuführen und sich mit den anderen SA Einheiten auf der Ludwigstraße zu vereinen. Auf dem Marienplatz wurden sie von einer jubelnden Menschenmenge empfangen, während im Hintergrund weitere Politiker aus dem Rathaus heraus verhaftet und misshandelt wurden.
Der Zug zog nach einigen Reden weiter die Theatinerstraße hinauf, dann über einen Schwenk auf die Residenzstraße und wurde schließlich von der Landespolizei an der Feldherrnhalle gestoppt. Sofort versuchten die Putschisten die mit Stacheldraht versehene Barriere zu überwältigen, bei dem Handgemenge kam es aber zum Feuergefecht. 13 Putschisten, vier Polizisten und ein unbeteiligter Bürger kamen um. Die Putschisten flüchteten. Die Nationalsozialisten waren erst einmal gestoppt.
Der Hitlerputsch zeigt wie in einem Brennglas die Machtergreifung zehn Jahre später. Es war ein vorbereiteter bewaffneter Putschversuch, der rein vom Ablauf her unter anderen politischen Vorzeichen durchaus als Aufstand durchgehen könnte: Beteiligung vieler Arbeiter und Bürger, Versuch ein verhasstes Regime zu stürzen, großes Wohlwollen bei gewichtigen Teilen der Bürgerschaft, der Politik, der Verwaltung und des Militärs.
Der Zwischenraum ist eindeutig: Es ist die Parteizentrale der NSDAP, der engste Führungszirkel. Es gibt zwar eine Stimmung, die Hitler trägt – und Menschen sind bereit, bei einem Putsch/Aufstand mitzumachen. Aber es handelt sich um keine spontane oder demokratisch organisierte Volkserhebung, es handelt sich um zentral gesteuerte Massen, die bereit sind, sich organisieren zu lassen, sie handeln im völligen Gegensatz zu dem, was Befreiung bringen würde. Sie kämpfen für Führerkult, Ausgrenzung, Rassismus, gegen Demokratie etc. Sie kämpfen gegen ihre eigene Freiheit. Was sie auf keinen Fall wollen, ist die Freiheit aller. Vielleicht sollten wir sehr viel deutlicher zwischen Aufständen und wirklich demokratischen Aufständen unterscheiden.
Die Schwabinger Krawalle
Lassen Sie mich jetzt einen großen Sprung machen, ins Jahr 1962 zu den Schwabinger Krawallen. Das mache ich natürlich aus Zeitgründen, aber vor allem um ihnen einen Gedankengang zu vermitteln, der mir für heute und die nächsten Tage wichtig erscheint.
Nur mühsam hat sich in der Demokratie nach 1945 wieder so etwas wie eine Bürgerdemokratie entwickelt. Die heutigen basisdemokratischen Bewegungen brauchten Jahrzehnte, um nach dem Nationalsozialismus zu entstehen und handlungsfähig zu werden.
Einer der ersten Auftakte jenseits parteipolitischer Strömungen, wo es einfach um die Befreiung von alten Autoritätsmustern ging, war 1962.
Anfang 7. Juni 1962 wurde aus über 40.000 Einsendungen das neue Motto bekannt gegeben, mit dem die Landeshauptstadt München in Zukunft für sich werben sollte: München – Weltstadt mit Herz. Exakt 14 Tage später wurde deutlich, dass dieses Herz nicht für alle gilt. Um 22.35 beschwerten sich Anwohner der Leopoldstraße, dass fünf Jugendliche mit Gitarren in der Nähe ihrer Häuser spielen würden. Mehrere hundert jugendliche ZuhörerInnen hatten sich eingefunden, die meisten auf dem Bürgersteig, aber auch einige auf der Straße. Dies war für die Besatzung des Einsatzwagens der Grund einzugreifen und die beiden Beamten forderten die fünf auf, mit zum Wagen zu kommen. Daraufhin wollte ein Teil der ZuhörerInnen die vermutete Festnahme verhindern, ließ zum einen die Luft aus der Bereifung des Polizeifahrzeuges und hob zum anderen den Wagen hinten in die Luft, um ihn am Abfahren zu hindern. Damit begann eine fünf Abende und Nächte dauernde Eskalation. Die Polizei forderte Verstärkung an, immer mehr Polizeikräfte kamen hinzu – aber gleichfalls immer mehr Jugendliche. Diese Konfrontation sollte sich an jedem der folgenden Abende wiederholen: Die Polizei trat immer martialischer auf, versuchte mit Wasserwerfern, berittenen Einheiten und Knüppeleinsatz die Straße zu räumen – und jeden Abend kamen mehr junge Menschen.
Heinz Koderer, der später ein eigenes Archiv der Schwabinger Krawalle und der Zeit von 67 und 68 in München anlegte, sagte später: „Es gab keine politischen Forderungen. Es ging ganz allgemein gegen die Polizei. Es war einfach ein kleiner Aufstand gegen die Ordnungsmacht. Es war ein Aufbegehren gegen die alte Ordnung, die man nicht mehr akzeptierte.“ (In Fürmetz, Schwabinger Krawalle, S. 76, München 2006)
Die Schwabinger Krawalle waren der erste Aufstandsfunke gegen eine reaktionäre, nach dem Krieg festgefügte Ordnung der alten Kräfte und der Alten Männer. Es war im besten Sinne ein Aufstand, in dem es nur um das Recht des Protestes gegen eine völlig verkrustete Gesellschaft ging, in der die Polizei schon mal ohne jede Rechtsgrundlage das sogenannte „gesunde Volksempfinden“ durchzusetzen versuchte. Der Protest organisierte sich nicht, es war einfach klar, dass man/frau dort hin wollte, um die Verkrustungen zu bekämpfen. Der Zwischenraum, das waren die Kneipen in der Leopoldstraße und im restlichen Schwabing, der Bürgersteig dazwischen, wo sich die Empörung über das Vorgehen der Polizei von Tisch zu Tisch und von Grüppchen zu Grüppchen fortpflanzte. Der Protest musste nicht begründet oder analysiert werden, er war jedem und jeder sofort eingängig.
Weitere Proteste – wo es wohl falsch wäre, diese als Aufstände zu bezeichnen, die aber das Element des auch illegalen Protestes beinhalten – in München waren zum Beispiel: Die Proteste gegen den Weltwirtschaftsgipfel Anfang Juli 1992, als die Staatsmacht mehr als fünfhundert friedliche Protestierer im berüchtigten „Münchner Kessel“ stundenlang festhielt und massiv malträtierte. Am 1. März 1997 verhinderten mehr als 10.000 MünchnerInnen, dass 5.000 Neonazis auf den Marienplatz kommen konnten, um dort ihre Kundgebung gegen die Wehrmachtsausstellung abhalten zu können. Anfang Februar 2002 protestierten trotz eines Totalverbotes mehrere tausend Menschen gegen die sogenannte Sicherheitskonferenz im Bayerischen Hof.
Die Proteste haben die Gesellschaft liberalisiert, und je weiter sich eine Gesellschaft liberalisiert, desto mehr nehmen sich die Menschen das Recht heraus, auch zu protestieren.
Und die Technik? 1997 – das sind gerade 15 Jahre her – hatte ich mein erstes Handy auf einer Demonstration dabei, ein großer Kasten mit ausziehbarer Antenne. Erreichen konnte ich kaum jemanden, weil fast noch niemand in der Demonstration eines hatte. Heute organisieren sich die Demonstrationen über die neuen sozialen Netzwerke. Dass sie sich darüber organisieren, ist technisch eine Revolution.
Ich konnte hoffentlich zeigen, dass es den herrschaftsfreien Raum, der die Organisation ermöglicht, schon immer gab und natürlich auch geben musste. Neu ist das Tempo der Selbstvergewisserung und des Organisierens, das die neuen sozialen Netzwerke ermöglichen.
Sie entsprechen ganz dem Wunsch nach heutiger Organisationsform: Eine vielschichtige und vielfältige Stimmensammlung bildet die Meinung und Richtung eines Aufstandes. Was 1848 existierte, eine Bürgerbewegung mit vielen Akteuren, aber nur wenigen führenden Persönlichkeiten, die 1918 stark ideologisch geprägt war und die einzelnen Stimmen in den Hintergrund drängte, hat sich in unserer Zeit, die keine bipolare, sondern eine multilaterale Welt geworden ist, die nicht mehr ideologisch verfestigt ist, sondern deutlich postideologisch aufgebaut ist, wieder eher gefunden: Occupy, Acta Aktivisten, die Piraten – bauen auf Schwarmintelligenz. Die neuen Medien sind die Technik, die Bewegungen von unten heute brauchen. Wir sollten aber auch nicht vergessen: Die neuen Techniken werden auch von allen alten Mächten beherrscht: Sie gehören weltumspannenden Konzernen, die Regierungen hören mit und können mit lenken. Die Aktivisten von 1848 und 1918 wurden wie alle anderen Aufständischen von Horden von Spitzeln beobachtet – nicht anders ist es im Netz. Und wer was schreibt und was behauptet und Fehlmeldungen rausgibt, all das wusste man früher nicht und heute nicht.
Man sollte auch nicht glauben, dass sich alles über den herrschaftsfreien Diskurs regeln lässt. Das Finden von Zielen bedeutet auch, irgendwann auch daran festzuhalten und eine Debatte zumindest vorübergehend zu beenden. Wenn es zwei Pole einer Diskursskala gibt, dann steht an der einen Seite Occupy und am anderen Ende winkt Lenin mit seinem Telegramm aus der Vergangenheit. Für eine demokratische Verfassung ist auf alle Fälle die vernetzte Debatte das Mittel der Wahl. Aber manchmal muss man sich fragen, ob die reinen Netzaktivisten nicht einem neoliberalen Glauben anhängen. So wie in der Wirtschaft für den Neoliberalen alles der Markt regelt, so soll für den Internetgläubigen doch bitte das Netz alles regeln.
Die Stimme der vielen kann sich schneller organisieren, das rettet aber nicht davor, im öffentlichen Raum aktiv zu sein.
Es ist ein seltsam Ding mit dem öffentlichen Raum. Eigentlich könnte es dem König, dem Militär, der Polizei, dem Diktator, dem demokratische Staat egal sein, wenn ein Platz mal ein paar Tage oder Wochen besetzt ist. Ist es aber nicht. Als Ludwig I. von dem Stein in der Barerstraße getroffen wurde, war dies eine Grenzüberschreitung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Das Zeichen an die Herrschenden, dass sie den öffentlichen Raum nicht mehr jederzeit beherrschen und räumen können, ist das Zeichen des Wankens der Macht. Der Stein am Arm des Königs und das Besetzen des öffentlichen Raumes sind das gleiche Zeichen: „Wir erkennen Deine Macht nicht mehr an.“
Und deswegen möchte ich am Schluss sagen: So sehr die neuen Medien alles vernetzen, der Aufstand wird immer auf der Straße stattfinden müssen. Man kann sich vernetzen und organisieren, aber zum Schluss geht an den Barrikaden kein Weg vorbei. Kein König wird jemals stürzen, weil im Netz alle auf den Button „gefällt mir nicht“ klicken.
Kommen wir zum Schluss auf das Kommunistische Manifest zurück. Es wirkt im Analyseteil so aktuell, weil es die Mechanismen einer bürgerlichen Gesellschaft beschreibt, die bis heute gelten und in ihrer heutigen Beschleunigung sogar noch deutlicher wahrnehmbar sind. Vor allem zeigen sie eines: Ausgangspunkt von Aufständen sind in der Regel soziale und wirtschaftliche Fragen. Nicht Twitter macht eine Revolution oder Facebook, sondern gesellschaftliche Brüche und Gegensätze. Daran hat sich in allen Zeiten nichts geändert. Aber die sozialen Netzwerke sind Brandbeschleuniger. Die sozialen Netzwerke ermöglichen die Vielstimmigkeit und das synchrone Hören vieler Stimmen. Von daher sind sie die Fortsetzung eines herrschaftsfreien Diskurses, den es 1848 kurz gab und der dann für lange Zeit hinter den Antagonismen des 20. Jahrhunderts verschwand.
Mit dem Freikämpfen der Antiautoritären in den Sechzigern wurde unsere Gesellschaft wieder mehr zur Bürgergesellschaft. Die neuen Medien ermöglichen in der bürgerlichen Massengesellschaft die Selbstorganisation, die früher in kleineren Zusammenhängen natürlich einfacher möglich war. Sie ermöglichen die Teilnahme am Aufstand für alle. Von daher können die neuen Medien die alte Analyse des Kommunistischen Manifestes umsetzen: Die grenzenlose Kommunikation wird die bürgerlichen Freiheiten überall hintragen. Niemals wäre das Internet in einer Diktatur erfunden worden. Die sozialen Netzwerke ermöglichen die weltweite Fortsetzung der bürgerlichen Revolution mit neuen Mitteln.
Das Internet bietet die passende Technik für die kommenden Aufstände.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Zuschrift vom 30. März 2012.