Materialien 2012

Wir sind alle Gefangene!

„Der reißende Strom wird gewalttätig genannt,
aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.“
Bertolt Brecht

Alle Möglichkeiten das zu tun, was uns heutzutage als Freiheit verkauft wird, werden uns im Knast genommen.

Knast bedeutet die absolute Fremdbestimmung des Lebens, die Unterdrückung aller persönlichen Fähigkeiten und die komplette Entwurzelung aus dem eigenen sozialen Umfeld. Unzählige Regeln, Zwänge und Machtverhältnisse bedingen Abstumpfung und den Verlust jeglicher Entscheidungsfreiheit.

Während der Gefangenschaft verliert mensch seine komplette Privatsphäre und jegliche Möglich-
keit zur Auslebung von Kreativität, Sexualität und anderer Bedürfnisse. Die Inhaftierten haben ständig unter psychischer und physischer Gewalt durch andere Gefangene und Knastpersonal zu leiden. Erzwungene gegenseitige Kontrolle und Konkurrenz, sowie Privilegien für einzelne, pro-
duzieren Entsolidarisierung und Machtkämpfe unter den Gefangenen.

Die Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit, die die Häftlinge im Knast umgibt und die sie auch nach der Gefangenschaft erwartet, der Verlust von Arbeit, Wohnung und allen sozialen Beziehungen, sowie der Identitätsverlust und die komplette gesellschaftliche Stigmatisierung, treibt viele Gefangenen, sowie ehemals Inhaftierte, in den Suizid. So ist jede_r Tote im Knast, sowie jede_r, die_der sich als Folge der Inhaftierung und der damit einhergehenden sozialen Isolation selbst umbringt, ein Opfer des Knastsystems und somit einer Gesellschaft, die Knäste benötigt, um die durch die sozialen Verhältnisse entstehenden Probleme unsichtbar zu machen. Den Eingesperrten wird im Gefängnis nicht nur die Freiheit, sondern das Leben geraubt.

„Freiheit“, die sogenannten Verbrecher_innen im Knast entzogen wird, ist in unserer kapitalisti-
schen Gesellschaft sehr relativ. „Freiheit“ wird nicht als Selbstbestimmung des eigenen Lebens ohne Zwänge und Fremdbestimmung definiert, sondern heißt im Kapitalismus immer, sich in den Kreislauf von Kapital und Arbeit und Konsum einzugliedern und sich darin zu profilieren. „Frei-
heit“ heißt, sich innerhalb eines von Gesetzen und gesellschaftlichen Normen vorgefertigten Rahmens seinen eigenen Platz zu suchen und im Konkurrenzkampf mit anderen Individuen möglichst viel Reichtum und Macht anzuhäufen. Freiheit im Kapitalismus heißt, sich zwischen Früh- und Spätschicht, zwischen McDonalds und Burger King, zwischen RTL und Pro7, zwischen CDU und SPD, kurz gesagt, sich zwischen Scheiße und Scheiße zu entscheiden.

Freiheit heißt mitzuspielen und sich in die Leistungsgesellschaft einzureihen oder gesellschaftliche Normen und Gesetzte zu missachten und dafür bestraft zu werden.

Der Knast ist nur die Zuspitzung von hierarchischen Strukturen, alltäglichen Zwängen und Regeln. Die Logik des Gefängnisses zeigt sich in allen Bereichen der Gesellschaft. Von den Schulen bis zu den Altersheimen, von den Fabriken bis zu den Kasernen – überall sind wir gezwungen, uns hier-
archischen Strukturen unterzuordnen und Autoritäten zu akzeptieren.

Diese Gesellschaft ist selbst ein Knast, wir alle sind Gefangene, egal ob hinter sichtbaren oder unsichtbaren Mauern, egal ob wir in einer Zelle oder in unserer gesellschaftlichen Funktion gefangen sind.

„In einer Welt, in der es ein Verbrechen ist,
für die Freiheit zu kämpfen,
ist die Unschuld zweifellos das schlimmste,
was einem Menschen passieren kann.“

Die kapitalistische Gesellschaft, genauso wie jede andere Ordnung, die auf Zwängen, Ungleichheit und Herrschaft beruht, funktioniert nicht ohne Repression und Strafe. Der Mechanismus des Ein- und Ausschließens und das Prinzip von Belohnung und Strafe werden benötigt, um die herrschen-
de Ordnung aufrecht erhalten zu können. So kann mensch nur eine privilegierte Stellung oder Reichtum erlangen, wenn die herrschende Ordnung nicht in Frage gestellt wird.

Bei Regelverstößen wird mensch durch die jeweilige institutionalisierte Disziplinarmacht bestraft und zur Anpassung gezwungen. Das Ziel dabei ist die „Resozialisierung“, was nichts anderes be-
deutet, als die erzwungene Wiedereingliederung in die gesellschaftlich auferlegte Rolle. Jedoch wird nicht nur bestraft um die einzelnen Individuen zu maßregeln, sondern um alle anderen abzuschrecken und zu verhindern, dass die restlichen Menschen ihre Sehnsüchte, Träume und Bedürfnisse ausleben. So ist jede Bestrafung weniger der Versuch, Gerechtigkeit herzustellen, als die bestehenden Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse vor allen Ausgebeuteten und Unter-
drückten zu schützen.

Das gegeneinander Ausspielen konstruierter Gruppen von Unterdrückten ist seit jeher ein wich-
tiger Bestandteil jeder Herrschaft(sstruktur). Diese gesellschaftliche Normierung in „normal“ und „unnormal“ und das Ausschließen und Diskriminieren von „Anderen“, wie zum Beispiel die Hetze gegen Arbeitslose und illegalisierte Migrant_innen oder die Diskriminierung von Transsexuellen, gehört genauso wie der Knast zur herrschenden Ordnung.

Autoritäre Strukturen fördern und produzieren Frustration, Streit und zwischenmenschliche Gewalt. Hierbei geben Autoritäten beziehungsweise die jeweilige Disziplinarmacht vor, diese sozialen Konflikte zu lösen und nehmen so eine Stellvertreter_innen Rolle ein, die eine Konflikt-
lösung durch direkte soziale Intervention verhindert. Beispielsweise würden viele bei zu lauter Musik eher die Bullen rufen, als den_die Nachbar_in anzusprechen um das Problem gemeinsam zu lösen. Es wird davon ausgegangen, dass zur Behebung eines Problems, die Androhung einer möglichen Strafe benötigt wird, und dass es nicht möglich sei, den Konflikt gemeinsam zu lösen.

„Die Dinge, die notwendigerweise gelernt sein müssen, um sie zu tun,
erlernen wir, indem wir sie tun."
Aristoteles

Für eine herrschaftsfreie Utopie muss, ebenso wie in der herrschenden Gesellschaft, die Frage nach dem Umgang mit gewaltförmigem Verhalten beantwortet werden.

Die Menge der gesellschaftlichen Strukturen, die gewalttätiges Verhalten fördern, ist sehr groß. Doch liegt die Hoffnung genau darin, solche Mechanismen zu zerstören, um eine Verbesserung zu schaffen. So gehört zum Kampf gegen Knäste und Autoritäten genauso ein Kampf gegen ein Lernen und Aufwachsen in Zwangsstrukturen, gegen Eigentums- und Reichtumsunterschiede, patriarcha-
le Rollenverteilung und isolierte Zweier-Beziehungen, Polizei und deren soziale Stellvertreter_in-
nen-Rolle, sowie gegen kollektive Identitäten, Grenzen, Staaten und Gesetze.

Für eine straf- und gewaltfreie Gesellschaftsutopie müssen offensive Formen menschlicher Kon-
fliktlösung gefunden werden, in denen gleichberechtigte und kommunikative Konzepte gebraucht werden, um in diesem Prozess auch einen Antrieb für neue Ideen hin zu einer Streitkultur, die sich nicht an einem Sieg gegen eine_n Kontrahent_in orientiert, gefunden werden. Dabei werden Pro-
bleme nicht unterdrückt, künstlich harmonisiert oder abgedrängt, sondern durch Erfahrungsaus-
tausch, gegenseitige Hilfe, Verständnis und einem eigenen Weiterdenken gelöst.

Es ist selbstverständlich, dass dieser Kampf als ständiger Prozess zur Verringerung von sozialer Gewalt und nicht als plötzlicher Umbruch verstanden werden muss. Auch, wenn es immer noch Fälle von gewaltförmigen Verhalten geben wird, jede Aussicht auf eine andere Gesellschaft mit weniger Gewalt, ist ein Grund,für Veränderung zu kämpfen.

Für uns bedeutet ein Kampf gegen Knäste ein Kampf gegen alle Facetten von Herrschaft und Autorität. Wir lehnen gesellschaftliche Herrschaftsmechanismen, die Menschen zu Gegenspie-
ler_innen machen, ab und wollen in sozialen Beziehungen leben, die auf gegenseitiger Solidarität und Empathie aufbauen. Wir wollen die Grundlage unseres Willens, zu handeln – eine Welt ohne Zwänge und Autorität – mit anderen teilen und neue Wege entdecken, um fernab von jeglichen Kompromissen mit dem Bestehenden eine andere Welt möglich zu machen.

Anstatt sich über Maß und Form juristischer Urteile aufzuregen, sollte Machtausübung im Allge-
meinen in Frage gestellt werden. Wir müssen uns von der rein karitativen Hilfe der Angeklagten entfernen und, vorausgesetzt, wir erkennen uns in den begangenen Taten wieder, in direkte Kompliz_innenschaft treten und den Angriff fortführen.

Für uns verläuft die Grenze nicht zwischen „schuldig“ und „unschuldig“, sondern zwischen denjenigen, die das System verteidigen, und denjenigen, die es niederreißen wollen.

το πάθος για τη λευτεριά είναι δυνατότερο απ ‘όλα τα κελιά!
To páthos gia ti lefteriá eínai dynatótero ap ‘óla ta keliá!
Die Leidenschaft nach Freiheit ist stärker als jedes Gefängnis!

Mit unversöhnlichen Grüßen, eaam.


Farfalla. Gedanken zur Knastsolidarität und dem Tag der politischen Gefangenen, München, Frühjahr 2012, 13 ff.

Überraschung

Jahr: 2012
Bereich: Bürgerrechte