Materialien 2011

Heile Welt

Nehmen wir an, Sie stehen an der Rotation und drucken eine Tages- oder Wochenzeitung. Oder Sie sind Redakteurin und entscheiden, welche Bilder veröffentlicht werden. Und Sie berichten über Kriege auf diesem Planeten oder drucken Fotos von verstümmelten Menschen, verbluteten Soldaten, verbrannten Kindern. Und plötzlich haben Sie ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren am Hals, weil sich einige Wellness-Verwöhnte von den Bildern schockiert zeigen. Wohlgemerkt: Nicht die Kriege stören diese Leute, sondern die Berichterstattung darüber. Und damit zukünftig die heile Welt gewahrt bleibt, haben die Ästhetik-Apostel Strafanzeige gegen Sie gestellt.

Lächerlich, meinen Sie? Kein Staatsanwalt würde einer solchen Anzeige nachgehen? Gemach – der Münchner Künstler Wolfram Kastner präsentierte in einer Ausstellung Bilder über die Bestialität von Kriegen, Fotos von Tod und Zerstörung, wie sie von zigtausenden Menschen in Afghanistan täglich real erlebt wird, im Irak, in Somalia, Libyen, Gaza, Ex-Jugoslawien – überall dort, wo die westliche Wertegemeinschaft mit Feuer und Schwert Freiheit und Profit schützt. Einige Bürger und Bürgerinnen fühlten sich durch die Bilder belästigt und stellten Strafanzeige gegen Kastner, was prompt zu einem Bußgeldbescheid führte – mehrere Hundert Euro. Sicherlich wirft es wieder ein völlig falsches, weil Übergrelles Licht auf die Kirche, wenn ich erwähne, dass sich die ästhetisch Belästigten auf christliche Werte beriefen.

Wo kommen wir auch hin, wenn sich die Wirklichkeit nicht an unsere Wünsche hält? Kriege – die der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Rainer Arnold noch heute nicht so nennen möchte – sind sauber und menschenfreundlich, sie bringen den Überfallenen Glück und Wohlstand, und die Chorknaben unserer geliebten Bundeswehr tragen keine Waffen, bohren nur Brunnen und bauen Mädchenschulen. Und unter blauen Helmen genießen sie gar den Segen des ver.di-Gewerkschaftstages. Die Realität stört da nur und wer sie zeigt, den trifft die Härte des Gesetzes.

Wenn Sie also als Redakteurin die Nachrichten des Tages auswählen, so berichten Sie bitte ausführlich über Thomas Gottschalk, Sebastian Vettel und Stefanie Hertel und werfen die Unästhetik in den Papierkorb. Und wenn Sie als Drucker an der Rotation das Bild eines Kriegsopfers auf der Platte entdecken, so radieren Sie es weg!

Sollten wir nicht die hässlichen Nachrichten ganz abschaffen? Nur noch Gartenmagazine und Bäckerblumen drucken und lesen? Uns um rechtsdrehenden Joghurt und Honig aus kaltgepressten Bienen kümmern? Den Wetterbericht ausschließlich auf die Sonnentage reduzieren? Die Kliniken in unterirdische Siechenhäuser umwidmen? »Positiv denken« sei unsere Tageslosung. Es gebe keine Wirklichkeit, sagten schon Rudolf Steiner und der Dalai Lama.

Unsere Welt ist heil, verdammt noch mal!

Hans Dölzer


Druck + Papier. Die ver.di-Branchenzeitung 5 vom Dezember 2011, 4.

Überraschung

Jahr: 2011
Bereich: Zensur