Materialien 1968

Rolf Pohle

Der entscheidendste und einschneidendste Tag in der Geschichte der westdeutschen Studentenbewegung war zweifelsohne der 2. Juni 1967, der Tag, an dem in Berlin der Polizist Kurras den Studenten Benno Ohnesorg erschoss. Knapp drei Wochen später, am 21. Juni, wurde Rolf Pohle mit 26:15 Stimmen bei drei Enthaltungen zum AStA-Vorsitzenden der Ludwig-Maximilians-Universität in München gewählt. Die Wahl stand völlig im Zeichen der Ereignisse in Berlin. Teach-Ins wurden abgehalten und Vorlesungsruhe proklamiert. Der AStA gab täglich Schnellinformationen heraus und organisierte am 5. Juni einen Schweigemarsch, an dem über 10.000 Studenten teilnahmen. Rolf Pohle, der dem ersten linken AStA an der Uni seit 1966 angehörte und bis zur Wahl zum Vorsitzenden Hochschulreferent gewesen war, fungierte am 5. Juni als Verantwortlicher gegenüber dem Amt für öffentliche Ordnung. Bei einem Zwischenfall an der Brienner-Straße traf ich ihn zum ersten Mal. Ich wollte einem Gegendemonstranten vom RCDS ein Plakat mit der provozierenden Aufschrift: »1:0 für den SDS – Jetzt habt ihr endlich den ersten Märtyrer« abnehmen und wurde dabei von seinen Gesinnungsfreunden tätlich angegriffen. Ich schlug zurück und traf mit einem Haken einen der RCDSler am Kinn, so dass er mit einem Unterkieferbruch bewusstlos zu Boden sank. Rolf war über meine militante Haltung – die mir bald darauf eine Geldstrafe von 500,- DM einbrachte – erbost, da ich seiner Meinung nach den friedlichen Charakter der Demonstration gestört hätte. Wir verloren uns wieder aus den Augen, da ich damals noch mehr in der Subkultur- und Drogenszene lebte und nur sporadisch zu Aktionen und Demonstrationen mit den Studenten zusammenkam. Ich wusste nicht einmal, dass es Rolf Pohle gewesen war, der mich gemaßregelt hatte; das erfuhr ich erst 5 Jahre später, als wir zusammen im Knast saßen und zufällig auf die Ereignisse im Juni 67 zu sprechen kamen, denn diese Tage waren für uns alle ein entscheidendes Erlebnis gewesen.

Wir sahen uns erst am Gründonnerstag 1968 wieder, an dem Tag, an dem in Berlin das Attentat auf Rudi Dutschke verübt wurde. Ich kam gerade von der Spätschicht bei Bärlocher und stieß in der Leopoldstraße auf eine Gruppe von Studenten, die Flugblätter verteilten und über das Attentat diskutierten; unter ihnen war auch Rolf Pohle, aber das erfuhr ich ebenfalls erst Jahre später. Spontan bildete sich ein Demonstrationszug, der von der Leopoldstraße durch die Akademie- und Türkenstraße zur Schellingstraße zog und dann das Buchgewerbehaus an der Barer-Straße stürmte, in dem die Springerzeitungen gedruckt wurden …

Nach der »Schlacht an der Barer-Straße«, in deren Verlauf über 150 Beteiligte von der Polizei verhaftet und mit einer Anzeige bedacht wurden, war Rolf einer der aktivsten Genossen, die die Rechtshilfe der Außerparlamentarischen Opposition gründeten und aufbauten. Sie wollte nicht nur die verhafteten und angeklagten Genossen verteidigen, sie führte auch auf eigene Faust Ermittlungen um den Tod der beiden Demonstranten, die im Laufe der Belagerung des Springergebäudes ums Leben gekommen waren. Die Polizei versuchte, die Todesfälle den Demonstranten anzulasten, um so die Öffentlichkeit gegen die Studenten zu mobilisieren. Es war das Verdienst der Rechtshilfe, nachzuweisen, dass die beiden höchstwahrscheinlich von Polizisten tödlich verletzt wurden und an diesen Verletzungen starben. Auf jeden Fall verliefen die polizeilichen Ermittlungen ergebnislos, die Verfahren wurden sang- und klanglos eingestellt.

Das Büro der Rechtshilfe in der Karl-Theodor-Straße wurde im Laufe der nächsten Monate und Jahre zu einer wichtigen Institution der APO, aber auch Zufluchtstätte von Leuten aus der Drogen- und Subkulturszene, die hier immer Unterstützung und Rechtshilfe fanden. Rolf trat dabei als einziger Rechtsreferendar der Gruppe auch vor Gericht als Anwalt auf. Im Laufe ihrer Arbeit hat die Gruppe die Unterlagen von ca. 1.200 Genossen gesammelt, die wegen politischer Delikte und anderem verfolgt wurden. Die bekanntesten Fälle waren u.a. der Verwaltungsstreit zwischen Arbeiterbasisgruppen/SDS und der Stadt München um die Vergabe des Königsplatzes am 1. Mai 1969 und der Prozess gegen Reinhard Wetter, wegen Beleidigung eines Studienrates, wegen einer Griechenland-Demonstration und wegen diverser Hausfriedensbrüche an der Uni und im Amerikahaus, dessen Verteidigung von den Rechtsanwälten vorbereitet wurde. Die Rechtshilfe war es auch, die zusammen mit der Kommune Wacker-Einstein die Ebracher Knast-Kampagne und das Knast-Camp organisierte, eine der ersten Aktionen gegen die Justiz und den Strafvollzug in der BRD, an der Genossen aus allen Teilen der BRD, aus Berlin und aus Italien teilnahmen. Das Ebracher Knast-Camp wurde zur Geburtsstunde der Roten Hilfen und der Knastarbeit in unseren Tagen.

Natürlich kam es auch innerhalb der Rechtshilfe zu heftigen Auseinandersetzungen, wobei sich gerade Rolf zu einem Sprecher der Randgruppen machte. Als einige Genossen Gammler und Hippies aus der Rechtshilfe rauswerfen wollten, schrieb einer der damaligen Mitarbeiter:

»Im Potential der Linken schlummern Kräfte, von deren Vorhandensein man wohl seit langem wusste, deren offensichtlicher Ausbruch in seiner Intensität jedoch kaum fassbar erscheint. Die latent faschistischen Bürokraten unter uns sind zum Gegenangriff auf gerade die Grundhaltung angetreten, die die antiautoritäre sozialistische Bewegung positiv von den Technokraten der DKP und der kapitalistischen Klassengesellschaft unterscheidet. Am Beispiel der tendenziellen Bürokratisierung gerade einer Institution wie der Rechtshilfe, die doch wohl als ein integrierter Faktor in der globalen politischen Arbeit betrachtet werden sollte, zeigt sich deutlich der elitäre Machtanspruch einer Clique, die die Tätigkeit der Rechtshilfe isolieren und zur persönlichen Bedürfnisbefriedigung degradieren wollen.

Welches Leistungsprinzip legt man zugrunde, wenn man jetzt sagt, nur noch produktive und effektive Arbeit sei die Legitimation zum Aufenthalt in den geweihten Räumen der Rechtshilfe? Es ist genau das Leistungsprinzip, das wir als repressiv und kapitalistisch bezeichnen und das wir draußen auf der Straße, in der Universität und am Arbeitsplatz bekämpfen. Welche soziale Grundhaltung darf man annehmen, wenn in Zusammenhang mit den zugegebenermaßen (noch) unpolitischen Gammlern von >Pennerpack< gesprochen wird? Es ist genau die bürgerliche elitäre Selbstglorifizierung, die wir von Professoren, Richtern und Staatsanwälten her kennen und angeblich verachten.«

Natürlich war Rolf der Justiz seit langem ein Dorn im Auge. Man begann, sich auf ihn einzuschießen. Er brachte es im Laufe der Zeit auf 8 Ermittlungsverfahren, die jedoch in den meisten Fällen nicht zum »Erfolg« führten. Erst 1969 gelang es der Justiz aufgrund der Denunziation zweier Studenten, Maurus und Danschacher von der CSU-nahen Münchner Studenten-Union, und mit Hilfe eines ZDF-Filmes, eine Anklage gegen Rolf wegen seiner Beteiligung an den Demonstrationen gegen Springer zusammenzubasteln. Am 21. Mai 1969 begann die Verhandlung vor dem Schöffengericht München unter Leitung von Amtsgerichtsrat Früh. Ankläger war der Staatsanwalt Emrich. In der Anklageschrift hieß es:

»Der Angeschuldigte nahm am Abend des 12.4.1968 an einer nicht genehmigten Kundgebung gegen den Springer-Verlag in der Barer Straße in München teil. Gegen 19.40 befand sich der Angeschuldigte in der Barer Straße in unmittelbarer Nähe der Einfahrt zum Buchgewerbehaus unter mehreren hundert Kundgebungsteilnehmern. Zur selben Zeit wurde von Störern die Ausfahrt des Buchgewerbehauses in der Barer Straße mit Anlagebänken und Baumaterialien verbarrikadiert, um die Auslieferung der Bild-Zeitung zu verhindern.

Der Angeschuldigte, der sich unter den genannten Störern aufhielt, beteiligte sich ebenfalls aktiv an dem Bau dieser Barrikade, indem er mindestens einen Balken gemeinsam mit einem anderen Störer zur Barrikade verbrachte. Zusätzlich versuchte er anschließend mit anderen Störern, die Auslieferung der Zeitung dadurch zu verhindern, dass er sich gemeinsam mit anderen Personen vor der verbarrikadierten Einfahrt zum Buchgewerbehaus auf die Fahrbahn der Barer Straße setzte. Diese Personen wollten im Fall, dass ein Auslieferungsfahrzeug die Barrikade passieren würde, die weitere Auslieferung sodann mit Gewalt verhindern. Aufgrund der in den Ausfahrten Schelling- und Barer-Straße errichteten Barrikaden konnte eine ordnungsgemäße Auslieferung der Zeitung nicht erfolgen . Die Bild-Zeitung musste vielmehr in Säcken verpackt über die Dächer von Flachbauten des Bundesgewerbehauses in den Hof des Anwesens Theresienstraße 58 verbracht und von dort ausgeliefert werden.«

Im Laufe der Verhandlung kam es zu turbulenten Zusammenstößen und Störungen, u.a. warf Fritz Teufel dem Staatsanwalt Emrich eine Strafprozessordnung an den Kopf und bekam eine Ordnungsstrafe. Rolf wurde zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Der Richter erklärte: Die Rechtsfeindlichkeit des Angeklagten habe sich auch im Laufe des Prozesses erwiesen, denn er hätte u.a. gesagt: »Ich bin ein Krimineller im Sinne des verfassungsfeindlichen Strafgesetzbuches!«

Die Süddeutsche Zeitung schrieb dazu am 29. Mai 1969: »15 Monate Gefängnis, das ist angesichts des grotesken Missverhältnisses von Unrechtsgehalt der Tat und Ausmaß der Strafe ein Abschreckungsurteil, ein Exzess der Justiz zur rücksichtslosen Durchsetzung der Staatsraison.«

Besonders wichtig – und für die Klassenjustiz wohl der entscheidendste Punkt – an diesem Strafmaß war, dass auf Grund einer Strafe von 12 oder mehr Monaten die Aufnahme in den Staatsdienst verweigert werden muss. Obwohl das Urteil noch nicht rechtskräftig war, beeilte sich die zuständige Behörde daher auch, Rolf die Zulassung zum zweiten Staatsexamen zu verweigern und ihm damit die bürgerliche Existenz zu zerstören. Eine außerordentliche Mitgliederversammlung des VDS Göttingen verabschiedete am 29. Mai 1969 mit 220 gegen 18 Nein-Stimmen und 16 Enthaltungen folgenden Beschluss:

»Aus Anlass des Terrorurteils der deutschen Justiz gegen Rolf Pohle, den früheren AStA-Vorsitzenden der Universität München, zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis ohne Bewährung wegen angeblichem Landfriedensbruchs und Nötigung erklärt die außerordentliche MV des VDS Göttingen: 1. Dieser Staat ist notwendig darauf angewiesen, Gruppen und Personen zu kriminalisieren, die sein System nicht nur verbal infrage stellen. 2. Die Verurteilung von Rolf Pohle stellt gegenüber den bisherigen Urteilen gegen Demonstranten lediglich eine Eskalation sowohl im Zusammenspiel von Gericht und Staatsanwaltschaft als auch im Strafmaß selbst dar. 3. Die Gesetze werden von denjenigen angewandt, die als Angestellte der Justiz den staatlichen Auftrag haben, die politisch bewusst Handelnden auszuschalten. Wer sich diesem Auftrag entzieht, kann sich nicht darauf berufen, für sein Handeln nicht auch individuell verantwortlich zu sein. 4. Die >Verantwortlichkeit<, die im Gesetz für alle Straftäter postuliert ist, werden wir gegen die justiziellen Büttel des Staates wenden und sie auch >privat< und individuell zur Rechenschaft ziehen. 5. Gegen die Gewalt von Polizei und Justiz hilft nur die Gewalt des Widerstandes.«

Mein nächstes Zusammentreffen mit Rolf fand am 19. Januar 1970 in Stadelheim statt. Am nächsten Tag sollte vor dem Landgericht meine Berufungsverhandlung beginnen, doch mein Verteidiger hatte sich nicht blicken lassen. Im letzten Moment hörte Rolf davon und kam noch nach Zellenschluss in die JVA Stadelheim, um mir seine Verteidigung anzubieten. Die Verhandlung verlief aufregend; Rolf setzte die Aufhebung des Haftbefehls durch, und ich konnte das Landgericht am Stachus als freier Mensch verlassen. Der Richter hatte übersehen, dass gegen mich noch ein zweiter Haftbefehl vorlag. Wir trafen uns am Nachmittag im Café Europa und freuten uns über den gelungenen Coup.

Dann tauchte ich unter. Nach 16 Monaten wurde ich geschnappt, aber diesmal konnte mir Rolf nicht mehr helfen; er lebte und kämpfte bereits im Untergrund.

Peter Schult


Undatierter Bericht. Druckvorlage: Der Blues. Gesammelte Texte der Bewegung 2. Juni. 2 Bände, Berlin o.J. In: Lutz Schulenburg (Hg.), Das Leben verändern, die Welt verändern! 1968. Dokumente und Berichte, Hamburg 1998, 158 ff.

Überraschung

Jahr: 1968
Bereich: Militanz