Materialien 1987

Mahnwache

Seit einem Jahr stehen wir jeden Freitag auf dem Marienplatz, oder wo uns die „Stadt“ erlaubt zu stehen, und versuchen, die Münchner Bürger und Touristen daran zu erinnern, was es heißt, die ATOMINDUSTRIE zu unterstützen.

Vor nun einem Jahr war dieser schreckliche Unfall in Tschernobyl. Damals waren viele plötzlich wachgerüttelt worden. Damals sah, hörte und roch – man zwar auch nichts, aber das auffällig unauffällige Verhalten der Politiker machte selbst sonst gläubige Zuhörer von Tag zu Tag misstrauischer. Unseren Informationen wurde mit Interesse gelauscht und sich in einigen Punkten – zumindest heimlich oder der Kinder wegen – an unsere Verhaltensvorschläge gehalten.

Mit einer Stadtratssitzung, auf der Wissenschaftler aller politischen Schattierungen zu dem Strahlenthema gehört wurden, stellte unser OB seine Situation dar: Die Wissenschaftler sind sich nicht einig, geben gar politisch gefärbte Informationen. Leider überhörte er einen Herrn Krüger, der sich als einziger nicht auf die übliche Hick-Hack-Auseinandersetzungsebene begeben hatte, der versucht hatte, die Unwissenheiten, die Unklarheiten, einfach den derzeitigen Stand der Wissenschaft im Strahlenbereich offen darzulegen. Der auf die Frage des OB nach Entscheidungshilfe meinte, wir brauchen keine Wissenschaft, wenn durch sie noch keine signifikante Aussage gemacht werden kann, ob Menschen gefährdet sind oder nicht (erste Kernspaltung 1938). Hier sollten Sie – oder wir – unserem gesunden Menschenverstand trauen. D.h.: Wenn man zum Beispiel nicht weiß, ob verstrahlte Milch schädlich ist oder nicht, dann trinkt man sie lieber nicht. So passiert ganz sicher nichts. Sollte sich im Nachhinein herausstellen, dass die Milch nicht schädlich war, dann war man nur vorsichtig. Vorsicht zählte einmal zu den Weisheiten.

Die Zeiten haben sich scheinbar geändert – Bürger werden zu Kindern, die sich ihre Väter (Landes- und Bundes-) wählen. Nicht mehr die Weisen seines Volkes sind seine Volksvertreter. Ein Grundsatz dieser Väter ist es, immer alles zu wissen und zu können – eben Väter.

Hatten wir gedacht, dass die Wahlen endlich den Willen des Volkes zeigen würden, so wird nach diesen Ergebnissen der Vergleich von Kritikern des deutschen Volkes mit der Entstehung des Dritten Reiches immer gerechter … Damals, als unsere Eltern und Großeltern zu entscheiden hatten, damals gings ihnen auch nur um die wirtschaftliche Situation … Wenns uns nur gut geht, dann verkraften wir viel Übel … Sie haben es verkraftet, aber einige Millionen von Menschen nicht, Menschen zweiter Klasse (vielleicht Asylanten, Türken, Aidskranke???). Ja, heute schlafen die meisten wieder, hören nur wenige zu, wenn es in den Nachrichten des Umweltinstitutes heißt, der Hartkäse reichert Strontium an, oder wieder ein Störfall in diesem oder jenem Atomkraftwerk. Obwohl langsam auch dem Naivsten klar wird, dass der Bau einer Wiederaufbereitungsanlage nicht unbedingt die friedliche Nutzung der Kernenergie bedeutet, und dass selbst bei nur friedlicher Nutzung die entstehenden Schäden so groß würden, dass sie nicht mehr rückgängig, nicht mehr behoben werden könnten.

Wir stehen seit einem Jahr. Am 3. Juli zum 50. Mal – Jubiläum – ein Grund zum Feiern?!

Wir sind stolz, dass wir so lange durchgehalten haben und stellen fest, dass diese Form des Widerstands für Zukunfts- und Menschenliebende trotz vieler Alltagsbelastungen gut tragbar ist; dass diese Form des Widerstands Freitag für Freitag Hunderte von Menschen anspricht, von denen ein Großteil stutzt, stehen bleibt, schaut, denkt, schaut und in diesen Blickkontakten mehr gesagt wird als in den Debatten.

Unser Eindruck reicht von Zustimmung über Bewunderung bis hin zur Wut (ausgelöst durch diese lästige Erinnerung) oder zur Belustigung.

Man kann nicht nicht kommunizieren. Es wird reagiert.

Wir haben unseren Anspruch erfüllt.

Kein Grund zum Feiern!

Nein – denn selbst unsere geringsten Forderungen nach sauberen Sandkästen wurden nicht erfüllt.

Nein – denn wir stehen nicht zum Selbstzweck hier.

Nein – denn wir würden lieber mit den Kindern in den Sandkästen spielen.

Also kein Fest! Aber ein Treffpunkt für alle, die sich noch immer mit uns erinnern und sich solidarisieren, die wie wir die Erhaltung der Natur als 1. Aufgabe eines jeden Bürgers und seiner politischen Vertreter sehen, und die wie wir noch immer meinen, dass „alle Gewalt vom Volke ausgeht“.

Wir stehen Mahnwache (auf dem Marienplatz)
wie jeden Freitag auch am 3. Juli von 16.00 Uhr bis 19.00 Uhr – und leider weiterhin.

Ein richtiges Fest findet statt, wenn die ersten Forderungen erfüllt sind.


Manuskript, Sammlung Mütter gegen Atomkraft, Cornelia Blomeyer.

Überraschung

Jahr: 1987
Bereich: Atomkraft