Materialien 1963

Es ist schwer, ein Mensch zu sein!

„Es ist schwer, ein Mensch zu sein“, sagte er und stellte sein Glas ab. In seinem Blick lag etwas Selbstquälerisches. „Ich bin ein Individualist. Was geht mich die Gesellschaft an!“ Ich zuckte die Achseln. Herausfordernd fuhr er fort: „Ich kann ohne die Gesellschaft leben. Und alles, was geschieht, geschieht durch den Willen des Menschen. Ein wirkliches Talent setzt sich immer und überall durch!“ Ich antwortete nicht. „Die Welt ist erst durch die Vorstellung“, trumpfte er weiter auf. „Durch meine Vorstellung!“ – „Nummer 14“, sagte ich. –„Was soll denn das heißen“, fragte er. – „Das heißt, Du hast eben die 14. Platte in meiner Individualisten-Sammlung ablaufen lassen“, sagte ich. „Ich nummeriere sie nämlich, um sie nicht durcheinander zu bringen.“ – „Das ist keine Platte“, sagte er „das ist Philosophie!“ – „So kann man’s auch nennen“, sagte ich. – „Davon verstehst Du eben nichts“, sagte er – „Mag sein“, sagte ich. „Mir fällt bloß auf, dass alle Individualisten so reden. Das macht sie ja einander so gleich. Wie über den Leisten gezogen.“ – „Ach Quatsch“, sagte er. „Du kannst mir ja bloß nicht beweisen, dass ich unrecht habe!“ – „Das kann ich auch nicht“, sagte ich. „Aber ich kann Dir einen Witz erzählen.“ – „Einen Witz“, sagte er. „Das ist immer gut. Schieß los!“ Von einem Augenblick zum anderen hatte er seine Philosophie vergessen. – „Also pass auf“, sagte ich: „Ein Mann kommt zum Psychiater. Er ist fest davon überzeugt, tot zu sein. Der Arzt stellt alles mögliche mit ihm an, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen – Spritzen, Insulinschocks, Psychoanalyse. Alles vergeblich. Da reißt dem Arzt die Geduld. Er nimmt eine Nadel und sticht sie dem Patienten mit Wucht in den Allerwertesten. Der schreit laut auf vor Schmerz. ,Sehn Sie’, triumphiert der Doktor. ,Sie können Schmerzen empfinden. Das beweist doch, dass Sie leben!’ – ,Nein’, entrüstet sich der Patient: ,Das beweist lediglich, dass Tote auch Schmerz empfinden können!’“ – Mein Gegenüber lachte schallend. „Der Witz ist gut“, rief er immer wieder. – „Ja, aber er hat etwas mit Deiner Philosophie zu tun“, sagte ich. „Denk mal darüber nach. Vielleicht verstehst Du dann Dich und die Welt ein wenig besser.“

Resistor, i.e. Rolf Gramke


Heute 3/1963.

Überraschung

Jahr: 1963
Bereich: Lebensart