Materialien 1963
Der Liebestraum von Liszt
„Das ist der Po-Po-ka-te-petl-Twist!“ röhrt es durch den Saal. Die Menge auf dem Tanzboden verfällt in Zuckungen. Die Rücken krümmen sich, die Unterleiber schieben sich vor, die Hüften schlingern in konfusen Verrenkungen, die Körper vibrieren in krampfhaften Bewegungen – und alle Menschen machen so angestrengte und verbissene Gesichter, als leisteten sie Schwerarbeit. Mein Freund stößt mich an. „Wie in einer Katatonie“, sagt er. Ich nicke. Katatonie ist eine bestimmte Form von Geisteskrankheit.
Der Dritte an unserem Tisch stimmt uns lachend zu.
„Ich frage mich“, sagt mein Freund, „warum die überhaupt noch die Damen zum Tanz auffordern. Da tanzt doch sowieso jeder für sich. Ob das noch ein Rest von ihrem Gemeinschaftsgefühl ist?“
„Vielleicht haben sie Angst, wenn sie allein auf die Tanzfläche müssen“, frotzelt der Dritte. Wir lachen.
„In San Tropez, da hab ich ein Mä-del geküsst. Twist! Twist!“ Der nächste Tanz. Und gleich darauf: „Das ist, das ist, das ist der Liebes-traum von Liszt.“ Wieder ein Twist.
„Seltsamer Liebestraum!“ Ich muss lachen.
„Ich weiß, was das ist“, sagt mein Freund. „Das ist nicht bloß Katatonie, das ist auch Individualismus!“
Der Dritte an unserem Tisch macht eine abwehrende Bewegung.
„Ja“, sagt mein Freund, „alles verselbständigt: jeder für sich und alle im gleichen Trott!“
„Da hast du Recht“, sage ich. „Aber sag mal: was heißt denn eigentlich Twist?“
Mein Freund, ein gebildeter Mensch, kennt sich da aus: „Twist ist englisch und heißt Verdrehtheit, Verrenkung, Gesichtsverzerrung, Verformung, Verbogenheit usw.“
„Aha“, sage ich, „trifft auch alles auf den Individualismus zu!“
Unser Tischnachbar wendet sich ab. So was mag er nicht hören. Er ist ein Kollege von der regierungstreuen Presse. Seine Zeitung lebt von den Anzeigen der Industrie.
Immer noch sehen wir dem Treiben zu. So viel Verrenkung um nichts? Da tanzt niemand miteinander, da tanzt nur alles durcheinander. „Tatsächlich“, sage ich. „Jeder für sich und alle im gleichen Trott. Wie im Individualismus!“
Unserem Kollegen wird sichtlich unbehaglich. Er schickt sich an zu gehen. Mein Freund hält ihn zurück: „Wissen Sie, was Twist noch heißen kann? Als Slangwort bedeutet es soviel wie harte Nuss, schwierige Frage …“
Der Kollege schaut ihn fragend an. „Na“, sagt mein Freund, „verstehen Sie denn nicht? Ganz wie der Individualismus! Es passt alles.“
Der Kollege lächelt süßsauer. Solche Gespräche mag er nicht. Er winkt uns kurz zu und geht. Der Peppermint-Twist begleitet ihn.
Resistor, i.e. Rolf Gramke
Heute 4/1963.