Materialien 1988

Rede vom 6. Februar

anlässlich der „Demonstration gegen Atommüllverschiebung und die Inbetriebnahme von OHU II“ auf dem Marienplatz in München

Als ich am vergangenen Samstagvormittag anlässlich einer Spontan-Aktion besorgter Bürger mit solch einem gelben Tönnchen1 auf dem Marienplatz spazieren ging, wurde es von einem der zahlreichen Polizisten zusammen mit anderen, teilweise größeren Tonnen eingesammelt, mit der Begründung, es sei ein „Corpus delicti“.

Ein wohlmeinender Bürger erteilte mir den folgenden Verweis: „Ihr seid doch anständige Frauen: wieso stellt Ihr Euch auf die Straße und demonstriert. Ihr solltet Euch schämen vor Euren Kindern, dass Ihr Euch für so etwas hergebt!“

Mir scheint diese Haltung symptomatisch für viele Bürger, die sich ihrer demokratischen Rechte nicht bewusst sind oder nicht bewusst sein wollen. Durch ihr Nichtstun, ihre Angst aufzufallen und als nicht anständig zu gelten, lassen sie zu, dass Unrecht geschieht.

Die Mutter als Heimchen am Herde, die sich nicht kümmert um Politik, die brav konsumiert, sich alles gefallen lässt und die Kinder zu gehorsamen Bürgern erzieht – dieses falsche Idyll der anständigen Mutter darf es nach den Katastrophen in Sellafield, Harrisburg und Tschernobyl, nach zahllosen Unfällen in Kernkraftwerken und Chemiekonzernen, nach der Inbetriebnahme von OHU II nur einen Tag nach Bekanntwerden der Skandale von Hanau und angesichts des Baues von Wackersdorf endgültig nicht mehr geben.

Die Atomkraft und die mit ihr verstrickten Menschen bedrohen uns, unsere Kinder und das Leben auf der Erde.

> Wir wissen, dass jede radioaktive Strahlung, auch die sogenannte Niedrigstrahlung, gerade für Kinder besonders gefährlich ist!

> Wir wissen, dass die Grenzwerte der EG lediglich wirtschaftlichen Interessen dienen!

> Wir wissen, dass bestimmte Politiker eine atomgerüstete Bundesrepublik anstreben!

> Wir wissen nicht, wieviele Tonnen Plutonium bei Alkem in Hanau und anderswo in der Bundesrepublik lagern

> Wir wissen auch nicht, wieviel von diesem hochgiftigen Stoff einfach „verschwindet“.

► Auch die Herren bei Nukem wissen es angeblich nicht!

Es gibt aber verantwortliche und gewissenhafte Wissenschaftler und Techniker, die seit langem vor den Gefahren warnen. Sie verlieren ihre Posten und werden als Nestbeschmutzer hingestellt.

Wir „Mütter gegen Atomkraft“ möchten an dieser Stelle Herrn Michael Meier aus Altenschwand unsere Hochachtung und Anerkennung für seinen Mut und seine Standhaftigkeit im Kampf gegen die WAA aussprechen und ihm gratulieren für seinen Erfolg beim bayerischen Verwaltungsgerichtshof, das den Bebauungsplan für die atomare Wiederaufarbeitungsanlage aufgehoben hat. Selbst wenn die Konsequenzen aus diesem Gerichtsurteil noch nicht abzusehen sind, zeigt es, dass ein engagierter Mensch Sand ins atomare Getriebe streuen kann.

Es ist erwiesen, dass alle Reaktorkatastrophen auf menschliches Versagen zurückzuführen sind, und es gibt keinen Teil des Kennbrennstoff-Kreislaufs, an dem nicht Menschen beteiligt sind. Selbst die schärfsten Kontrollen können das Restrisiko Mensch nicht aus der Welt schaffen. Auch Bestechlichkeit und Skrupellosigkeit können sie nicht verhindern.

Trotzdem verfolgen die Verantwortlichen in Atomwirtschaft und Politik ihren Kurs weiter. Dazu Bundesumwelt-Minister Klaus Töpfer: „Wir brauchen … eine bessere, eine überschießende Kontrollsicherheit, also sozusagen das Vieraugenprinzip." (DIE ZEIT vom 5.2.1988.)

Das Vieraugenprinzip soll, wie Herr Töpfer es ausdrückt , zum „Umweltwunder“ führen – tatsächlich führt es zum Atomstaat, einem Staat, in dem der Mensch, der sich nach Freiheit und Mitbestimmung sehnt, zum völlig kontrollierbaren und sicher verfügbaren „homo atomicus“ wird, wie Robert Jungk es bereits vor 10 Jahren in seinem Buch „Der Atomstaat“ beschrieben hat. Eine solche Zukunft wollen wir unseren Kindern und Enkeln ersparen – sie ist nicht menschenwürdig.

Schon jetzt leiden viele Erwachsene und Kinder unter der Angst vor der atomaren Bedrohung und werden seelisch krank. Darum fordern wir alle auf, die sogenannten „Unregelmäßigkeiten“ in der Atomindustrie nicht weiter hinzunehmen, ihre Befürchtungen nicht zu verdrängen und nicht zu resignieren, sondern sich ihrer Mitverantwortung bewusst zu werden und gewaltfrei und mutig sich für ein Leben ohne Atomkraft einzusetzen.

Schämen wir uns also nicht, gegen die atomare und staatliche Gewalt zu protestieren und auf die Straße zu gehen. Wir dürfen es uns nicht zu bequem machen und hoffen, dass nichts passiert. Es ist schon zu viel passiert! Unsere Kinder und Enkel werden uns eines Tages fragen – wenn das dann überhaupt noch möglich ist: „Warum habt Ihr Euch nicht gewehrt?“ – Dann wird es für Scham zu spät sein.

Gunver Clements-Höck
Vorstandsmitglied der
„Mütter gegen Atomkraft“
Anzengruberstraße 5
8038 Gröbenzell

6. Februar 1988

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1 Kleines rundes Papp-Tönnchen in gelb mit schwarzem Strahlenzeichen – gefüllt mit Luft und nicht mit Plutonium !


Sammlung Mütter gegen Atomkraft, Cornelia Blomeyer.

Überraschung

Jahr: 1988
Bereich: Atomkraft