Materialien 1988

Rede vom 8. Mai

Liebe Mütter und Großmütter,
liebe Mit-Eltern, liebe Kinder!

MUTTERTAG – das ist so eine Sache. Der dritte Muttertag nach Tschernobyl ist eine ganz andere.

Es gibt Leute, für die ist Tradition nichts als Routine. Für mich liegen Welten dazwischen. Auf der einen Seite: pflichtbewusstes, aber mehr oder weniger gedankenloses Wiederholen oder Beibehalten von „’s war immer so …“. Auf der andern Seite: bewusstes Übernehmen und Weiterführen von Erkenntnissen oder als sinnvoll und notwendig erkannten Verhaltensweisen.

Ich finde: Muttertag à la Schaufensterdekoration oder aber dieses Treffen hier auf dem Marienplatz nacht ganz genau deutlich, wo die Geister sich scheiden.

Ich behaupte einfach: die meisten von uns hier wollen nichts zu schaffen haben mit dem Rummel um’s „liebe Mütterlein“ – das natürlich am allerliebsten ist, wenn es den Mund hält und tut, was von ihm verlangt wird. Wir halten nichts vom Kaufrausch, den angepriesenen süßen Herzen, teuren Preziosen oder sexy Nachtwäsche ausgerechnet am 8. Mai.

Wir wehren uns gegen den billigen Versuch, ein möglicherweise sich rührendes schlechtes Gewissen zu beruhigen, indem man uns an einem bestimmten Tag im Jahr abspeist, entschädigt, ja: abfeiert – damit dann wieder 354 Tage lang mit Müttern und ihren Sorgen nach Belieben umgesprungen werden kann; von einem Eingehen auf ihre Warnungen und Forderungen ganz zu schweigen.

Das gilt vom neuen Beratungsgesetz zum § 218 über die geplante Steuerreform bis hin zur bundesdeutschen Atompolitik – „friedlich“ hin oder her.

Glücklicherweise sind wir hier nicht die einzigen, die sich rühren in diesen Tagen. Mütter, Großmütter, Töchter, Schwestern haben sich überall zusammengefunden. Und das ist ja das Tolle an dieser neuen Tradition der ‚Mütter gegen Atomkraft’: sie lebt, sie entwickelt sich weiter, es entsteht eine neue Qualität.

Als 1985 zum aller ersten Mal Mütter hier vor dem Rathaus ihre strahlenverseuchten Ehrentags-Blumen zum Mahnmal gegen den Atomtod zusammenlegten, da waren wir wirklich zu Tode erschrocken.

Erinnern Sie sich noch, wie Ihnen damals zumute war?

Vor einem Jahr haben wir uns hier zum Gedenken versammelt – einesteils erleichtert und voller Lebensmut, andererseits nicht weniger besorgt, weil nach unserer Einschätzung keineswegs alles getan wurde, um Schaden von uns, unseren Kindern und Kindeskindern abzuwenden. Im Gegenteil: mit den altbewährten und extra neu entwickelten Zahlenspielertricks hat man weiter versucht, schlichte Gemüter zu beschwichtigen, wurden wissenschaftlich belegte Risiken – hokuspokus – wegdefiniert. Zynischerweise oft auch noch mit dem Hinweis auf europäische Richtwerte. Womit der Kurzschluss nahe lag: diese ausgeflippten, total hysterischen Mütter da, die gefährden auch noch die Harmonie Europas!

Heute sind wir hier, weil wir weiterhin – vielleicht sogar mehr denn je – Anlass haben zu protestieren, zu warnen, zur Besinnung zu rufen.

Wir wissen genau, dass menschlicher Forschergeist und die Phantasie jedes und jeder einzelnen in diesem unserem Lande durchaus in der Lage sind, auch andere Formen der Energiesicherung so weit zu entwickeln, dass sie uns zu vertretbaren Kosten und OHNE apokalyptische Langzeitbedrohung zur Verfügung stehen.

Wir sind nicht gewillt, einfach kommentarlos zu schlucken und zu akzeptieren, dass in unserem Land (durch abenteuerliche juristische Definitionen und Verschleierungen) für die Zukunft gerechtfertigt werden soll, was zähneknirschend als Fehler der Vergangenheit zugegeben werden musste.

Wir prangern an, dass durch betrügerische Transaktionen auf vielfältige Weise internationales Recht verletzt und die Sicherheit unzähliger Menschen gefährdet wurde.

Legale Mäntelchen schützen weder uns und unsere Nachkommen noch unsere strapazierte Umwelt heute oder in Zukunft vor weiterem Schaden. Fadenscheinige legale Mäntelchen schützen allenfalls die Gewinnerwartungen der auf Wachstum fixierten Atomlobby – wenn ihre Verfechter denn tatsächlich so verbohrt sind, zu glauben, derartige legale Mäntelchen und das Abqualifizieren von beispielsweise einer dreiviertel Million Bürgerstimmen gegen die WAA seien vollwertiger Ersatz für ein zuverlässiges atomares Entsorgungskonzept.

Wir alle verwahren uns gegen die zynische und weitgehend kommentarlose Bekanntgabe von früheren atomaren „Pannen“ – um nicht zu sagen Katastrophen. Jetzt, da vielfach die Geheimhaltungsfristen für die Archive auslaufen, lässt sich erst ermessen; in welchem Ausmaß wir und unsere Eltern vor zwanzig, dreißig und noch mehr Jahren ganz gezielt getäuscht worden sind.

Zynisch an vielen dieser Berichte ist das unterschwellige Argument: Was wollt Ihr Mütter eigentlich? Ihr lebt doch noch! Und heute, bei, unserer ausgeklügelten Sicherheit, kommen solche Hämmer doch gar nicht mehr vor! Wollt Ihr nicht endlich Ruhe geben?

Nein! Wir wollen nicht Ruhe geben. Wir können nicht Ruhe geben. Zur Beruhigung besteht ganz und gar kein Anlass.

Es erfüllt uns ja keineswegs mit Triumph oder Befriedigung, dass wir Recht hatten und haben mit unseren Warnungen und Forderungen. Am 2. Mai wurde in manchen Zeitungen der Tod von Walerij Legassow bekannt gegeben. Walerij Legassow war der atomwissenschaftliche Krisenbewältiger von Tschernobyl. Knapp 24 Stunden nach der Katastrophe begann er damals seine Arbeit „in der am stärksten verseuchten Zone“. Gut zwei Jahre später lebt er nicht mehr. Dabei verglich er selbst die Folgen von Tschernobyl mit dem Ausrutschen auf einer Bananenschale: Wenn der Mensch nicht richtig aufpasst, tut er sich halt manchmal ein bisschen weh …

Wir sind entschlossen, richtig aufzupassen. Wenn auch nicht mit jenen Konsequenzen, die „unsere“ Atompolitiker nun wohl auch ohne Herrn Legassow weiterhin vertreten.

Wir empören uns nicht nur darüber, dass in den stichprobenartig untersuchten Münchner Sandkästen heute insgesamt noch genauso viel radioaktives Cäsium gemessen werden muss wie vor zwei Jahren, einschließlich der Spitzenwerte von bis zu 40.000 Bequerel pro Quadratmeter.

Wir verlangen heute wie damals den schnellstmöglichen Ausstieg aus der Atomenergie.

Wir fordern alle Mitmenschen zum kritischen Umgang mit Konsumgütern, zum behutsamen Umgang mit Naturschätzen und Rohstoffen auf.

Wir setzen uns ein für eine gezielte Förderungspolitik zur Entwicklung alternativer Energiequellen.

Wir versuchen, nicht bloß bei unseren Kindern, sondern vor allem bei Erwachsenen das Bewusstsein zu wecken, dass wir alle Teil der Natur sind und auf Dauer nur in Harmonie mit ihr existieren können.

Wir wollen, dass noch viele Generationen nach uns die Schönheit der Schöpfung möglichst unversehrt er-leben können.

Ein Glück nur, dass wir mit all diesem Wollen, Versuchen, Verlangen und mit unserem Einsatz nicht allein sind. Es gibt eine internationale Solidarität der Mütter, der Aufgewachten, der politisch Denkenden und Handelnden.

Daher rührt unsere Kraft zum Durchhalten. Das versetzt uns gleichzeitig in die Lage, selbst wieder Kraft und Mut weiterzugeben: an ALLE Mütter dieser Welt, die unter meist ganz anderen Voraussetzungen – nämlich Hunger, Krieg, Dürre, Verfolgung und anderen lebensbedrohenden, keineswegs nur atomaren Gefahren – jeden Tag dafür arbeiten und kämpfen, dass es eine sichere, menschenwürdige Zukunft für uns alle gibt.

Nicht nur am MUTTERTAG.

Lore Schultz-Wild
Journalistin
Konradstraße 16
Tel.: 089/345581
8000 München 40


Sammlung Mütter gegen Atomkraft, Cornelia Blomeyer.

Überraschung

Jahr: 1988
Bereich: Atomkraft