Materialien 1991

Ein neuer Reaktor für Garching

Das „Atomei“, Wahrzeichen von Garching, Forschungsreaktor FRM der TU München, muss in den nächsten Jahren aus Altersgründen stillgelegt werden. 1957 als erster deutscher Forschungsreaktor gebaut, um die Entwicklung von Atomkraftwerken zu unterstützen, hat das „Ei“ nun sicherheits-
technisch ausgedient und ist wissenschaftlich nicht mehr attraktiv genug. Ein neuer leistungs-
stärkerer Reaktor (FRM 2) muss her! Der achteckige Neubau soll direkt neben dem alten „Atomei“ als zentrale Neutronenquelle der BRD für die nächsten 30 Jahre errichtet werden. Ende 1991 soll der Sicherheitsbericht vorliegen und Anfang 1992 die Erörterung stattfinden. Der Baubeginn ist für 1993 geplant.

Forschungsreaktoren sind miniaturisierte Atomkraftwerke und dienen nicht der Energiegewin-
nung. Sie sollen Neutronen für die Grundlagenforschung produzieren. Geforscht werden soll in Garching in Zukunft „an der Weltspitze“ auf dem Gebiet der Festkörperphysik, der Chemie, der Materialforschung, der Biologie und der Medizin. Nutzungsmöglichkeiten für die Industrie, wie z.B. Siliziumdotierung und Neutronenaktivierungsanalyse sind vorgesehen. Außerdem wird in der Erhaltung des kerntechnischen know-how für die Kerntechnik ein langfristiger Nutzen gesehen.

Die geschätzten Kosten für das Vorhaben belaufen sich auf etwa 370 Mio DM, die zu 100 Prozent von der öffentlichen Hand getragen werden und pro Jahr weitere 15 Mio DM Betriebskosten ver-
ursachen.

Der neue Reaktor wird eine thermische Leistung von 20 MW haben, rund 200 mal weniger als das Atomkraftwerk Isar II. Das alte „Atomei“ arbeitet mit nur 4 MW. Durch einen neu entwickelten Reaktorkern soll im Vergleich zum alten Reaktor mit einer 5-fach höheren Leistung ein 50 mal höherer Neutronenfluss erreicht werden, der eben sehr viel mehr Experimente zulässt. Der neu entwickelte Reaktorkern ist ein zylindrischer „Kompaktkern“, der mit hochangereichertem Uran 235 (93%) als Brennstoff und einer auch für kommerzielle Atomkraftwerke außerordentlich hohen Leistungsdichte läuft. Die erzeugte Wärme soll über drei Kühlkreisläufe in die Umgebungsluft abgegeben werden. Pro Sekunde werden ca. 20 Liter Kühlwasser verdunsten, die kontinuierlich aus dem Grundwasserstrom wieder nachgespeist werden müssen.

Die Dauer eines Brennstoffzyklus beträgt lediglich 45 – 50 Tage. Das bedeutet etwa 5 Zyklen pro Jahr und 1 – 3 Atommüll-Transporte pro Jahr über die Straße. Die Reaktorbrennstäbe stammen traditionsgemäß aus den USA und müssen dorthin zurückgeliefert werden. Denn das hochange-
reicherte, waffenfähige Uran, das in Forschungsreaktoren verwendet wird, kann nur in militäri-
schen Anlagen hergestellt und später wiederaufgearbeitet werden. Damit wandern die abgegebe-
nen Brennelemente aus Forschungsreaktoren direkt in die Produktion von Atomwaffen.

Aber die Entsorgung stockt derzeit. Die abgebrannten Brennelemente werden in Garching zwischengelagert. Seit 1988 verweigern die USA die Annahme der abgebrannten Elemente. Die Aufarbeitungsanlagen sind marode und auch die Lager nicht mehr aufnahmebereit. Damit fehlt der für die Genehmigung notwendige Entsorgungsnachweis, und so hofft man, dass demnächst die Schotten (Dounreay) den radioaktiven Müll langfristig zwischenlagern und notfalls auch aufarbei-
ten werden.

Für Forschungsreaktoren gibt es keine so gründlichen Sicherheitsanalysen wie für Atomkraftwer-
ke. Berechnungen für schwere Unfälle fehlen. Sicherheits- und Rückhaltetechnik sind entspre-
chend geringer und anders ausgebildet. Der neu entwickelte Reaktorkern des FRM 2 ist noch nicht erprobt. Es ist noch nicht geklärt, ob dieses kompakte Brennelement sicher ist, d.h. mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Kernschmelze mit Freisetzung größerer Mengen Radioaktivität möglich sein wird. Gegen Flugzeugabstürze wird der FRM 2 nur eine Minimalsicherung haben. Er soll lediglich dem Aufprall kleinerer Flugzeuge standhalten. In unmittelbarer Nähe befinden sich der Militärflughafen Erding und der neue Großflughafen München II. Es wurde beobachtet, dass der alte Reaktor trotz Überflugverbot mitunter überflogen wird.

Wesentlich weniger Leistung bedeutet nicht unbedingt wesentlich weniger Risiko. Schon bei einem Störfall mit der Freisetzung von nur 1% des radioaktiven Inventars könnte mehr Radioaktivität freigesetzt werden, als nach Tschernobyl über die gesamte BRD niederging. Die Stadt Garching hat für so einen Fall Jodtabletten eingelagert. Wie eine Evakuierung erfolgen soll, ist ungewiss.

In Anbetracht der Entsorgungsprobleme und der derzeit nicht abschätzbaren Sicherheitsrisiken muss auch über die Alternativen gesprochen werden. Das, was Neutronen vermögen, vermögen im Prinzip auch andere energiereiche geladene Teilchen. Im Prinzip existiert also stets eine Alternati-
ve. Viele Struktur- bzw. Materialuntersuchungen lassen sich z.B. auch mit der Synchrotronstrah-
lung machen. Nur die Verfahren sind aufwendiger, und die Ergebnisse schwieriger zu interpretie-
ren.

Ohne derartige Abstriche ließen sich aber alle geplanten Experimente an einer Spallationsneutro-
nenquelle (SNQ) durchführen. Interessanterweise war diese Mitte der 80er Jahre als leistungs-
starke nationale Neutronenquelle schon einmal im Gespräch. Sie bedient sich eines Teilchenbe-
schleunigers zur Erzeugung der Neutronen, bietet vielseitigere Experimentiermöglichkeiten und hat den Vorteil, dass sie im Vergleich zu einem Reaktor prompt abgeschaltet werden kann.

Die Spallationsquelle ist zwar teuer und produziert in geringerer Menge radioaktiven Müll, dennoch könnte sie für die Forschung im Vergleich zu einem Reaktor die akzeptablere, brauchbarere und vielseitigere Alternative sein.

V.i.S.d.P.: Dipl-Phys. Karin Wurzbacher, 15.10.1991

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Sammlung Mütter gegen Atomkraft, Cornelia Blomeyer

Überraschung

Jahr: 1991
Bereich: Atomkraft