Materialien 1987

Mütter gegen Atomkraft

Interview mit Cornelia Blomeyer

GP

Frau Blomeyer, Sie waren bei der Gründung der „Mütter gegen Atomkraft“ sehr aktiv? Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

CB

Ja, zunächst vielleicht zur Entstehung dieser Bewegung ganz kurz. Ausgangspunkt war ja dieses Reaktorunglück am 26. April 1986 in der Ukraine. Wir waren damals in Bayern sehr betroffen davon dadurch, dass diese Wolke mit den radioaktiven Stoffen sehr viel abgeladen hat am 30. April bei starken Regengüssen, und wir waren von den Behörden damals nicht ausreichend informiert worden. Wir hatten also zum teil Spaziergänge gemacht, unsere Kinder ahnungslos im Freien spielen lassen, viele sind auch in den regen gekommen und damit äußerlich kontaminiert worden. Die Behörden hatten dieses Ereignis von Anfang an stark runtergespielt, es gab auch Verbote, in offiziellen Bereichen Informationen über das Ausmaß dieses Ereignisses rauszurücken und über die möglichen Schäden für die Bevölkerung.

Wir hatten als Privatfrauen drei Tage vor dem Muttertag, also dem ersten Sonntag im Mai, die Idee, auf die Straße mit unserem Ohnmachtsgefühl, mit unseren Ängsten rauszugehen und demonstrativ zu zeigen, dass wir mit dieser Haltung der Behörden nicht einverstanden sind. Es war damals eine Privatinitiative von drei Frauen, die sich drei Tage lang ans Telefon klemmten und ihren Bekanntenkreis mobilisierten, immer mit dem Hinweis: „Wir treffen uns am Marienplatz (im Zentrum Münchens) und legen unsere strahlenverseuchten Muttertagsblumen symbolisch nieder. Bitte, sagt’s weiter!“

Was war geschehen? Am Muttertag waren dann ca. 1.000 (nach Auskunft der ARD) Menschen am Marienplatz, und wir machten eine sehr improvisierte Veranstaltung mit kurzen Reden betroffener Männer und Frauen, und es war eigentlich ein sehr eindrucksvolles Ereignis.

Diese spontane Aktion ist dann in der Presse ziemlich ausführlich besprochen worden, und es wurden Telefonnummern von uns Initiatorinnen angegeben, daraufhin hatten wir täglich sehr viele Anrufe zu erledigen. Die Leute erwarteten jetzt von uns Hilfestellung. Um die Bewegung organisatorisch in den Griff zu bekommen, nach außen hin repräsentieren zu können, nicht zuletzt auch um die verschiedenen Informationsblätter, die wir sehr bald an 1.000 Leute verschickten, finanzieren zu können, gründeten wir den Verein „Mütter gegen Atomkraft“.

GP

Wie hat die Bevölkerung reagiert?

CB

Vor allen Dingen Frauen mit kleinen Kindern mit großen Ängsten. Es gab sehr bald ehr große Unsicherheit hinsichtlich der Ernährung: „Was kann ich meinem Kind noch zu essen geben?“ Es war eben auch dieses Misstrauen den Behörden gegenüber entstanden, dass sie uns vielleicht nicht richtig informieren, dass vielleicht die Zahlen, die werte doch nicht so stimmen, wie sie sie durchgeben, und aus dieser Verunsicherung heraus suchten die Leute natürlich Hilfe bei Organisationen. Wir hatten damals sehr bald begonnen, Ernährungsblätter herauszubringen, und zwar vor allem zum Thema Milchprodukte, Baby-Nahrung, die gingen wie die heißen Semmeln weg. Wir hatten auch Kontakte aufgenommen mit verschiedenen Behörden, um sie dazu zu bewegen, uns irgendwo Hilfestellung zu geben, eben z.B. Milch zu organisieren aus Gebieten, die weniger verseucht sind, bzw. die Bauern anzuhalten, ihre Kühe so lange wie möglich im Stall zu halten, ihnen vielleicht auch Futter zur Verfügung zu stellen vom Vorjahr, denn viele Bauern mussten einfach ab einem bestimmten Zeitpunkt ihre Kühe raustreiben. Wir hatten sie gebeten, die Sandkästen in der Stadt auszuwechseln, mit frischem Sand zu bestücken, wir hatten also sehr viel unternommen, aber leider hatten wir dabei wenig Erfolg.

GP

Ihre Tochter hat auch aktiv bei den Aktionen mitgewirkt. Können Sie ein Beispiel geben?

CB

Ja, meine Tochter ist zehn Jahre alt und hat diesen Vorfall natürlich sehr intensiv miterlebt, auch die ständigen Verbote: „Geh nicht sandspielen!“, „Wälz dich nicht in der Wiese!“. Wir mussten ja unsere Kinder auch zu Hause halten, obwohl das Wetter sehr schön war zu dieser Zeit. Wir mussten auch ernährungsmäßig aufpassen, dass die Kinder nichts Schlechtes abbekommen und wir haben sehr bald eine große Demonstration mit Eltern und Kindern mitveranstaltet in München. Wir waren damals sehr viele Familien mit Kindern, die alle Transparente trugen oder ein Tuch mit der Aufschrift um den Bauch gewickelt hatten; meine Tochter trug z.B. einen Kittel mit einem Schaf, einem selbstgemalten Schaf darauf, das sagte: „Was kann ich noch fressen?“, und auf die Rückseite waren Kinder gemalt, die aus dem Fenster guckten und sagten: „Wo sollen wir spielen?“

GP

Warum heißt die Organisation nicht „Eltern gegen Atomkraft“? Schließen Sie die Männer aus?

CB

Dieser Begriff „Mütter“ hat für uns weitgehend symbolische Bedeutung: Mutter Erde, Mutter als lebenstragendes Element. Dieser Begriff war für uns naheliegend, weil zu Beginn der Organisation vor allem Mütter mit uns Kontakt aufgenommen hatten, die Mütter auch innerhalb ihrer Familien oft Schwierigkeiten hatten, auch mit den Männern, wenn sie nicht mehr das selbe Essen auf den Tisch stellten aus Angst vor zu hoher Strahlenbelastung. Sie wurden oft als hysterisch oder als zumindest übervorsichtig bezeichnet, was sich aber im Lauf der Zeit immer mehr änderte, als die Männer dann auch durch die Massenmedien mitbekommen haben, dass die Sache so harmlos, wie sie anfangs dargestellt wurde, eben doch nicht war.

Wir schließen Männer keineswegs aus, sie können jederzeit Mitglied in der Organisation werden, es sind auch etliche Männer dabei, arbeiten in Arbeitsgruppen mit, aber insgesamt getragen wird sie doch mehr oder weniger auch heute noch von Frauen, wobei auch Frauen ohne Kinder willkommen sind. Willkommen ist jeder, der für die Abschaffung von Atomkraftwerken und für die Erhaltung unserer Lebensgrundlage eintritt.

GP

Wie betrachten Sie die Arbeit Ihrer Organisation im Rahmen der gesamten Umweltpolitik bzw. Antiatompolitik?

CB

Es gibt ja in Deutschland seit einigen Jahren Bürgerinitiativen gegen Kernkraftwerke, die vor allem von den jungen Leuten getragen werden, und die haben eigentlich einen neuen Aufschwung bekommen und auch andere Dimensionen bekommen durch dieses Reaktorunglück. Es war doch zuvor zum Teil bekannt, dass wir es mit einer gefährlichen Technologie zu tun haben, aber so richtig wahrhaben wollten wir’s wohl alle nicht, und das erstaunen war schon sehr groß, als wir die Gefahr ganz konkret zu spüren bekamen. Es gibt auch viele Männer, die im technischen Bereich arbeiten, die sehr optimistisch der Atomkraft als sauberer Alternative zur Kohle gegenüber gestanden haben, denen jetzt wirklich ein Stück Weltbild kaputt gegangen ist. Die „Mütter gegen Atomkraft“, die Frauen und Männer, die dort organisiert sind, waren großteils vorher in keiner Organisation; ich glaube, wir haben Leute aktiviert, die erstmals gemerkt haben, sie müssen über ihr Privatleben hinaus etwas tun für die Gesundheit, für die Lebensbedingungen von sich und ihren Kindern.

GP

Frau Blomeyer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!


Sammlung Mütter gegen Atomkraft, Cornelia Blomeyer.

Überraschung

Jahr: 1987
Bereich: Atomkraft