Materialien 1989
zur Diskussion: Formen des Widerstands
Immer wieder flammt in unseren Reihen die Diskussion darüber auf, mit welchen Formen des Widerstands wir uns identifizieren können. Wir stellen hier zwei Meinungen vor und hoffen auf zahlreiche Reaktionen, die wir in der nächsten Nummer veröffentlichen. (wichtig: Redaktionsschluss ist der 3. Juli!)
Mit den Chaoten wollen wir nichts zu tun haben – oder?
Es ist durchaus möglich, lange Zeit bei den „Müttern“ zu arbeiten, ohne mit radikaleren Gruppen der Anti-Atom-Bewegung in Berührung zu kommen. Uns ist das auch weitgehend so gegangen bis zur Herbstkonferenz 1988 in Nürnberg und den z.Zt. laufenden Vorbereitungstreffen zur Großdemonstration in München. Dort sitzen dann die verschiedensten Gruppierungen von den Autonomen auf der einen Seite bis eben zu den Müttern oder dem BUND auf der anderen Seite an einem Tisch, um – meist bezogen auf eine bestimmte Aktion – gemeinsame Sache zu machen. Diese Zusammenarbeit stellt sich oft als ziemlich schwierig heraus, haben wir zwar weitgehend dasselbe Ziel, aber doch recht unterschiedliche Sichtweisen, dorthin zu gelangen.
Beim Bearbeiten des Demonstrations-Aufrufs (liegt bei) machte der „Krimi“-Teil die größten Schwierigkeiten. Die Frage war ganz grundsätzlich: Was hat die WAA mit Kriminalisierung zu tun, dass das schon im Aufruf soviel Raum einnehmen muss. Das betrifft doch nur die Autonomen oder eben „militanten“ Kräfte des Widerstands – es hat doch mit uns nichts zu tun!
Wir glauben, es hat auch mit uns zu tun. Von staatlicher Seite wird z.Zt. immer mehr unternommen, um den Widerstand (nicht nur) gegen die Atomkraft mundtot zu machen und die Anti-Atom-Bewegung zu spalten. Das sollten wir nicht zulassen!
– Einer Meldung der Süddeutschen Zeitung vom 4. März 1989 konnte man entnehmen, dass Kernkraftgegner in Lüchow-Dannenberg abgehört worden sind. Das niedersächsische Justizministerium betrachtet das Vorgehen der Polizei als vollkommen legal und sieht keinen Anlass zur Kritik. Zahlreiche Veranstaltungen werden nicht genehmigt, wenn sie sich mit „kritischen“ Themen beschäftigen. So geschehen z.B. mit einer Veranstaltung des Münchner Anti-Atom-Plenums zum Thema „Versammlungsfreiheit“. Begründet wurde das Verbot einigermaßen willkürlich damit, dass der Veranstalter angeblich zu Straftaten aufruft.
– Der § 129a StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen) wurde 1987 dahingehend verschärft, dass auch schon die kritische Auseinandersetzung mit „anschlagsrelevanten“ Themen (Politiker-Jargon) wie Gentechnologie oder Atomkraft in terroristische Nähe gerückt wird.
Das Demonstrationsstrafrecht soll verschärft werden, z.B. soll Vermummung in Zukunft eine Straftat sein, keine Ordnungswidrigkeit mehr.
– Die bayerische Staatsregierung dehnt den Unterbindungsgewahrsam von zwei auf vierzehn Tage aus, konkret bedeutet das, dass jeder, der in den Verdacht gerät zu stören, eine Straftat oder auch nur eine Ordnungswidrigkeit zu begehen, vierzehn Tage nur begründet auf Polizeiaussagen festgehalten werden kann.
– Als letztes Beispiel soll der Nötigungsparagraph dienen. Einige von uns können sich sicherlich vorstellen, Sitzblockaden zu veranstalten, um beispielsweise einen Atomtransport durch ihre Ortschaft zu verhindern. Sie müssen damit rechnen, wegen durch Gewalt begangener Nötigung nach § 240 StGB bestraft zu werden – so geschehen bei den Blockierern in Mutlangen, und das, obwohl die Pershing mittlerweile abgezogen worden war.
Das sind nur einige Beispiele für die Anstrengungen staatlicher Kräfte, den Widerstand gegen die Atomkraft auch in den Augen der „normalen“ Bürger zu kriminalisieren. Es kann uns passieren, dass wir dasselbe tun wie früher. uns aber plötzlich strafbar machen. Die Oberpfälzer können davon ein Lied singen. Frau Gietl hat sich noch vor einigen Jahren sicher nicht träumen lassen, dass sie einmal zu den radikaleren Elementen dieses Staates gehören sollte!
Doch selbst wenn wir nie mit den genannten Paragraphen in Berührung kommen – indirekt sind auch diejenigen durch die derzeitigen Kriminalisierungstendenzen betroffen, die sich durch die Staatsgewalt einschüchtern lassen und sich von der Arbeit gegen die Atomkraft zurückziehen. Wir sind der Meinung, dass diese Fragen uns alle angehen, uns „bürgerliche“ Mütter genauso wie die radikaleren Gruppen, wir können nicht einfach nur gegen Atomkraft sein und unsere Augen vor eng damit verknüpften Bereichen verschließen.
Die große Zahl der Menschen, die sich gegen die Kernkraft engagieren, bedeutet eine Vielfalt an Ansatzpunkten und Aktionsformen. Diese Vielfalt macht den Widerstand effektiv, weil sie ganz unterschiedliche Bevölkerungskreise erreicht. Die Unterschiede zeigen sich natürlich auch in der Wortwahl und der Art der Formulierungen. Mit Sicherheit ist z.B. der Aufruf zur Demonstration am 3. Juni nicht in der Sprache der Mütter gegen Atomkraft verfasst – das kann man aber auch nicht erwarten, wenn weit über zwanzig Gruppen gemeinsam einen Entwurf ausarbeiten. Doch wir arbeiten zusammen an der selben Sache und sollten uns durch eine „knackige“ Sprache mancher anderer Gruppen nicht abschrecken lassen. Die Worte „radikal“ oder „militant“ sind durchaus keine Synonyme für „Gewalt“. Militanter Widerstand bedeutet, dass nicht jeder Rahmen, den die Staatsgewalt absteckt, akzeptiert wird, und dass man gegebenenfalls offensiv dagegen vorgeht. Das kann in Form einer Sitzblockade geschehen oder dadurch, dass eine nicht genehmigte Demonstrationsroute dennoch gegangen wird. Sollen wir uns nur deshalb, weil der Bundesgerichtshof Sitzblockaden als Gewalt definiert, von solchen „Chaoten“ distanzieren? Sind das, auch wenn wir unbedingt für gewaltfreien Widerstand sind, auch unsere Grenzen? Wir denken, dass wir unseren eigenen Standpunkt finden und vertreten müssen, ohne uns dabei von „kernigen“ Sprüchen (die von allen Seiten kommen) abschrecken oder manipulieren lassen.
Natürlich muss jede Initiative ihre eigenen inhaltlichen Schwerpunkte setzen und die ihr gemäßen Formen des Widerstands weiter verfolgen. Trotzdem halten wir es für notwendig und sinnvoll, dass sich Kernkraftgegner aller Gruppierungen von Zeit zu Zeit die Mühe machen, gemeinsame Aktionen zu planen und durchzuführen. Solange wir zu kompromissfähigen Lösungen kommen, sollten wir uns nicht spalten lassen, indem der eine Teil der Kernkraftgegner in die kriminelle, der andere Teil in die bürgerlich-brave Ecke geschoben wird.
Judith Kaufmann
Mechthild Kaufmann-Ott
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Sollen wir uns mit extremeren Gruppierungen aus der Anti-AKW-Bewegung solidarisieren?
Die Frage beinhaltet für mich: Sollen wir, als Initiative, auch dann mit extremeren Gruppen zusammenarbeiten (z.B. in gemeinsamen Aufrufen, Veranstaltungen etc.), wenn diese die Gewaltanwendung als politisches Mittel tolerieren?
Ich möchte hier mal Aspekte beleuchten, die meiner Meinung nach dagegen sprechen. Die große Chance für unsere Arbeit liegt in der Veränderung des öffentlichen Bewusstseins. Viele von uns haben durch ihre Aktionen und ihr persönliches Beispiel Vertrauen erweckt. Vertrauen, vielleicht auch bei solchen Bürgern, denen bestimmte Politiker bislang weismachen konnten, dass der Widerstand nur ein Tummelplatz für Chaoten, Extremisten und Gewalttätige ist. Wir, die wir uns für ganz normale Leute halten, haben versucht, Ängste abzubauen, die Angst davor, aufzumucken und sich öffentlich zu Wort zu melden, die Angst davor „NEIN“ zu sagen und die Angst vor den möglicherweise daraus resultierenden Nachteilen.
Vielleicht haben wir noch nicht all zuviel erreicht (ich denke dabei an die vielen Leute, die sich noch nicht getrauten, die Einwände gegen Wackersdorf zu unterschreiben), aber „der Fortschritt ist eine Schnecke“ und wird sich nur dann schneller bewegen, wenn viele das wollen.
Wenn wir jenen Menschen, die heute noch zögern, aber die Möglichkeit nehmen, sich mit uns zu identifizieren, weil nämlich die Voreingenommenheit und die Angst vor uns größer ist, als die Angst vor der lebensfeindlichen Technologie, dann werden wir unser Ziel nie erreichen. Zu den Spielregeln der Demokratie gehört nun mal das Mehrheitsprinzip. Das mag man gut finden oder nicht – sicher hat nicht immer die Mehrheit automatisch auch recht. Trotzdem existiert meines Wissens kein besseres Modell für ein friedliches Zusammenleben der Menschen. Deshalb ist es wichtig, möglichst viele dazu zu bringen, sich mit den existentiellen Fragen des Überlebens auf diesem Erdball ernsthaft auseinander zusetzen. Für diese Überzeugungsarbeit brauchen wir die Sympathie derer, die wir ansprechen wollen. Und die sollten wir nicht aufs Spiel setzen.
Ich kann durchaus verstehen, dass Wut, Enttäuschung und Trauer über menschenverachtende Entscheidungen derer „da oben“ zu aggressiven Entladungen führen können. Gutheißen kann ich es aber nicht – Kurzschlusshandlungen und mit dem Kopf durch die Wand wollen nutzen der guten Sache nur selten, das hat die Geschichte nur oft genug gezeigt. So provozieren Leute, die meinen, dass man durch das Absägen von Strommasten die Atomkraft abschaffen kann, durch den Energiestau gerade jenen Unfall, den wir verhindern wollen, nämlich den Super-GAU. Ich möchte sie dabei nicht, auch nicht verbal, unterstützen.
Ich wünsche mir auch einen anderen Staat: einen in dem Menschlichkeit statt behördlicher Sturheit, friedliche Konfliktlösung statt selbstherrlicher Politiker-Entscheidung, Phantasie statt Engstirnigkeit und Einklang mit der Natur statt Wirtschaftsgigantomanie regieren, ein Staatswesen, bei dem Gesundheit und Unversehrtheit seiner Bürger mehr gelten als maximale Anhäufung von Konsumgütern.
Aber nicht mit „Feuer und Flamme“ werden wir dieses Ziel erreichen, nicht indem wir die Gewalt von oben mit der Gewalt von unten beantworten, sondern allenfalls auf dem (viel mühsameren und frustrierenderen) Weg der vielen kleinen Schritte. Feuer und Flamme gab es in diesem Land weiß Gott schon genug. Wir sollten vor jeder Zusammenarbeit mit anderen Gruppen ernsthaft prüfen, ob wir, abgesehen vom gemeinsamen Ziel auch den gemeinsamen Weg dahin mitgehen können.
Christina Claus
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Formen des Widerstands. Im letzten Heft haben wir die Frage zur Diskussion gestellt …
Der Fortschritt eine Schnecke ……….
Auf dem Gebiet der Kernenergie-Nutzung scheint uns der Fortschritt eher ein durchgehendes Pferd zu sein, das nur gemeinsam mit anderen gebändigt werden kann. Mit mütterlichem Zureden werden wir diesen Gau(l) nicht aufhalten. Hiroshima, Tschernobyl und auch die Giftgas- und Knüppeleinsätze in der Oberpfalz sind sicher nicht von demokratischen Weichtieren ausgeführt worden, sondern von Atom(-staats-)Betreibern in all ihrer Vielfalt.
Auch in unseren Reihen existieren große Unterschiede. Die verschiedenen Widerstandsformen resultieren ganz natürlich aus unterschiedlichen Erfahrungen und Lebensumständen. Und nur sie machen einen belebenden, sich ergänzenden, breiten Widerstand aus, stark genug, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen: die sofortige Abschaltung aller Atomanlagen!
Wir brauchen auch weiterhin den Kontakt zu den Gruppen, die uns die Regierenden so gerne als „Chaoten“ verkaufen wollen. Es hat sich doch gezeigt, trotz schwierigster Diskussionen im Vorfeld ist ein Konsens für gemeinsame Aktionen möglich – siehe Demo am 3. Juni 1989!
Diese Richtung der Vereinsarbeit halten wir für überaus wichtig. Die Sprache der „Chaoten“ mag derb sein, ihre Forderungen sind auch unsere. Lassen wir uns nicht einreden, wir würden durch Gesprächsbereitschaft und Zusammenarbeit den Weg der Gewaltlosigkeit verlassen. Nutzen wir immer wieder die wichtigste Komponente erfolgreicher politischer Arbeit: unsere Einheit in der Vielfalt! Wir sind nicht die Mütter gegen Courage. Machen wir dem Namen unserer Zeitung Ehre!!
Erika und Stefan Bräunling
Mutter und Sohn gegen Atomkraft
Anton-Meindlstraße 22
8000 München 60
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Die Idee zu einer Rubrik Diskussion finde ich ausgezeichnet. So habe ich denn die Aufsätze mit Spannung gelesen. Hervorragend finde ich den von Judith und Mechthild: sprachgewandt, durchdacht, selbstbewusst. Eine Aussage ist mir besonders wichtig: „Wir denken, dass wir unseren eigenen Standpunkt finden und vertreten müssen, ohne uns dabei von „kernigen“ Sprüchen abschrecken zu lassen.
Das bedeutet erstens, dass wir uns auseinandersetzen müssen mit Anderen und Andersdenkenden und somit auch mit den Gruppen, die Judith und Mechthild ansprechen. Denn solche Auseinandersetzungen fordern heraus und helfen, den eigenen Standpunkt zu finden. Das bedeutet zweitens, dass wir damit Demokratie üben.
Mit einer Aussage im Aufsatz von Christina Claus nämlich kann ich mich nicht identifizieren, und zwar mit der Aussage: „Zu den Spielregeln der Demokratie gehört nun mal das Mehrheitsprinzip.“
„Demokratie“ heißt bekanntlich „Herrschaft des Volkes“. Wenn man daraus folgert, dass die Mehrheit bestimmen darf, dann ist das ein Widerspruch, denn ein Volk besteht ja nicht nur aus Mehrheit. Es gibt auch Opposition, Minderheiten, Randgruppen usw. Auch diese müssen in einer „Herrschaft des Volkes“ gehört werden, damit diesem Begriff Gerechtigkeit widerfährt. (Sonst könnten wir MgA ja gleich einpacken!)
Die Sophisten im Griechenland vor Christus drückten das so aus:
„Das Selbstverständnis der attischen Demokratie gibt sich eine Verfassung, die auf Rechtsgleichheit beruht und auf dem Recht aller Bürger, öffentlich, vor Gericht und vor einer Volksversammlung im besonderen, zu reden.“
Die Anhörung in Neunburg vorm Wald im Juli 1988 war ein Beispiel für solche Demokratie. Und der endgültige Baustopp der WAA ist ein Sieg der Demokratie. Er beweist, dass auch Minderheiten Recht haben können.
Wir MgA sind ein Teil dieser Minderheiten, also Teil des Volkes und damit Teil der „Herrschaft des Volkes“. Deswegen: „Finden wir unseren eigenen Standpunkt und vertreten wir ihn.“
Heide Reyer
Hintere Grundstraße 26
CH-832O Fehraltorf
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In der Diskussion um die Formen des Widerstands möchte ich die Position von Christina Claus voll unterstützen. „Mütter gegen Atomkraft“, die sich nicht ganz klar von den radikalen Gruppen distanzieren, wären für mich nicht akzeptabel. Es war gerade der friedliche und phantasievolle Protest der Mütter in der „Stunde Null“ auf dem Münchner Marienplatz, der mich ansprach und mir Mut verlieh, selbst als Mutter aktiv zu werden.
Jede Anwendung von „Gewalt“ (radikales, militantes Verhalten) würde sich auch mit meinem christlichen Selbstverständnis nicht vereinbaren lassen.
Der Aufruf zur Demonstration am 3. Juli (siehe letzte „Mütter Courage“) schreckte mich sowohl von der Sprache als auch vom äußeren Bild her ab. Das Prinzip Hoffnung, bei den „Müttern“ ein wichtiges Element, vermisste ich ganz. Meiner Meinung nach wird hier einer Einigung unter allen Kernkraftgegnern zuliebe zuviel vom innersten Wesen der „Mütter“ aufgegeben. Die Wirkungen nach außen sind nicht an unterschätzen.
Es wäre doch schade, wenn die Sympathie und das Vertrauen, das viele „Mütter“ für ihre Vereinigung geweckt haben, wegen eines mit Mühe erreichten Kompromisses aufs Spiel gesetzt würden.
Ingrid Sandner
Neufeldstraße 49b
8037 Olching
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Mütter Courage. Zeitung der Mütter gegen Atomkraft 1/1989, 4 ff. und 2/1989, 11 f.