Materialien 1989

Grußwort bei „Lichter für das Leben“ von DaGG am 26. April 1989

Ich möchte Sie grüßen, vor allem die Eltern und Großeltern unter Ihnen und alle, die sich um die Zukunft unserer Kinder sorgen. Und grüßen möchte ich alle Kinder. Ich hätte Euch gern meine Tochter LIOBA vorgestellt. Aber sie wird wohl gerade um diese Zeit von ihrem Papa ins Bett gebracht. LIOBA wird in wenigen Tagen 3 Jahre alt.

Vor 3 Jahren explodierte der Reaktor in Tschernobyl. Erinnern Sie sich noch an jene Tage im Frühling 1986?

Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Ich war zu dieser Zeit – wie die meisten anderen auch – was SuperGAU und radioaktive Wolken, Becquerel und Millirem anging, relativ unbedarft. „Wackersdorf ist überall“ – las ich zwar auf den bekannten gelben Plakaten, aber für mich waren bis dahin sowohl Wackersdorf als auch der brennende Reaktor von Tschernobyl, den ich im Fernsehen sah, ziemlich weit weg. Ich fühlte mich zunächst nicht bedroht.

So hockte ich auch an einem dieser Frühlingstage mit dickem Bauch am Boden und buddelte mit bloßen Händen in der strahlenden Erde. um Petersilie und Tomaten zu pflanzen. Ich ahnte nicht, dass ich nicht würde davon essen können.

Nach und nach stellten sich sehr widersprüchliche Nachrichten über die Auswirkungen der Reaktorkatastrophe ein. Es herrschte das reinste Informationschaos: Besteht tatsächlich kein Anlass zur Besorgnis? Oder doch sehr wohl, wie andere behaupten? Sollen Kinder nun wirklich nicht im Freien spielen können?

Während einige bereits begannen, sich mit Hamsterkäufen für die nächsten Wochen und Monate mit unverseuchten Lebensmitteln einzudecken, ging ich zur Entbindung ins Krankenhaus. Unsere Tochter LIOBA wurde geboren. Auf der Wöchnerinnenstation, gegen Katastrophenmeldungen „hermetisch abgeriegelt“, waren wir in den folgenden Tagen damit beschäftigt. die Kunst des Stillens zu lernen. Und wir aßen brav Salat und Joghurt, den man uns servierte.

Das böse Erwachen kam schließlich zuhause. Nach und nach wuchs in mir die Sorge und schließlich Entsetzen und panische Angst: Was konnte ich essen? Wie sollte ich mich ernähren, um Strahlenbelastung für uns und das neugeborene Kind möglichst gering zu halten? Ich fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben existentiell bedroht.

Entgegen aller Beschwichtigungsversuche von Seiten des Innenministers und eiligst herbeigerufener Experten, versuchte ich herauszufinden, wo es kontrolliertes und relativ wenig belastetes Gemüse, Getreide, Milch gab. Im Spätsommer lernte ich die „Mütter gegen Atomkraft“ kennen. Sie hatten sich nach der Katastrophe zusammengetan, um gemeinsam einen Weg aus der Gefahr zu suchen. Sie führten regelmäßige Lebensmittelmessungen durch und veröffentlichten ihre Ergebnisse an Infoständen und in der Presse. Ich schloss mich ihnen an und begann wie sie, aktiv an werden, um so meine Angst und Resignation zu überwinden.

Seit Tschernobyl glaube ich nicht mehr an die vielbeschworene „Sicherheit“ von Atomkraftwerken. Das sogenannte „RESTRISIKO“ ist für mich und meine Familie nicht länger hinnehmbar. Deshalb setze ich mich mit aller Kraft ein für den schnellstmöglichen Ausstieg aus der Atomenergie.

Ich rufe Sie heute auf, alle dazu beizutragen, dass die Leute TSCHERNOBYL nicht wieder vergessen.

Blandine Reuter


Mütter Courage. Zeitung der Mütter gegen Atomkraft 2/1989, 25.

Überraschung

Jahr: 1989
Bereich: Atomkraft