Materialien 1989

Offene Briefe

GEROLD TANDLER
Bayerischer Staatsminister der Finanzen
Vorsitzender des Aufsichtsrates der Bayernwerk Aktiengesellschaft
Odeonsplatz 4
8000 München 22
Tel. 2306 235

55 – VV 9400/4 – 12/14 – 71 372
22. Dezember 1989

Mütter gegen Atomkraft e.V.
Bergstraße 5
8254 Isen

Offener Brief

Sehr geehrte Damen,

für Ihr Schreiben vom 20. Oktober 1989 danke ich Ihnen. Ich habe Ihr Schreiben mit Interesse gelesen und nehme hierzu wie folgt Stellung:

1.

Die Stromerzeugung aus Kernenergie ist im Gegensatz zu Ihrer Behauptung neben der aus Wasserkraft und Braunkohle bundesweit die günstigste Art, Elektrizität zu erzeugen. Dies gilt insbesondere im Vergleich zur deutschen Steinkohle in der Grundlast. Hier bringt der Einsatz von Kernkraftwerken Kostenvorteile von 3 – 5 Pfg./kWh. Allein die bayerischen Stromverbraucher sparen dadurch 600 Mio DM jährlich. Für die ganze Bundesrepublik summieren sich die volkswirtschaftlichen Ersparnisse bisher auf rund 40 Mrd DM. Daher haben sich auch die gesamten Forschungsaufwendungen längst bezahlt gemacht: Bei diesem Kostenvergleich sind außerdem, was oft zu Unrecht bestritten wird, die Rückstellungen für die Entsorgung, die Stillegung und die Beseitigung von Kernkraftwerken bereits miteingerechnet.

Die finanziellen Vorteile der Kernenergie kommen auch der technischen Entwicklung neuer Energietechnologien zugute. Dies gilt im Fall des Bayernwerks für das Solar-Wasserstoff-Projekt in Neunburg vorm Wald ebenso wie für die Errichtung der Solarzellenfabrik in Wackersdorf über die Beteiligung des Bayernwerks an der Siemens Solar GmbH. Solar-Strom ist heute aber noch etwa l5mal so teuer wie konventionell erzeugter Strom; die Speicherung noch gar nicht mitgerechnet. Benutzt man Wasserstoff als Speicher und verbrennt diesen wieder zur Stromerzeugung, so ist der so gewonnene Strom sogar 40mal teurer als konventionell erzeugter. Ohne Speicherung kann aber wegen der schwankenden zeitlichen Verfügbarkeit nicht auf eine Koppelung mit herkömmlichen Erzeugungsanlagen verzichtet werden. Nicht vergessen darf man auch den ungeheuren Material- und Flächenbedarf. Um die Stromerzeugung eines 1.300-MW-Kernkraftwerk zu ersetzen, müsste man etwa 100 Quadratkilometer Solarzellen auf einer Gesamtfläche von 400 Quadratkilometern installieren. Kern- oder Kohlekraftwerke lassen sich also nicht einfach durch Sonnen- oder Windkraftwerke ersetzen. Hier ist auf lange Sicht lediglich eine Ergänzung möglich.

Um noch einmal auf die Kosten der Kernenergie zurückzukommen: Kernspaltstoff zeichnet sich im Unterschied zu anderen Energieträgern und erst recht zu regenerativen Energieträgern durch eine enorme Energiedichte aus.

Dies wird anschaulich, wenn man sich vorstellt, dass die auf die Masse bezogene Energieausbeute bei der Spaltung eines Uranatoms fast dreimillionenmal größer ist als bei der Verbrennung eines Kohlenstoffatoms. Dieser Vorzug schlägt sich wegen des geringen Brennstoffverbrauchs auch wirtschaftlich nieder.

2.

Kernkraftwerke werden immer dann abgeschaltet, wenn sich die Notwendigkeit aus möglichen Beeinträchtigungen der Sicherheit ergibt. Im Falle KKI I wurde rein vorsorglich abgeschaltet, obwohl keinerlei Gefährdung der Umwelt bestand.

Sie sehen daran, dass die Sicherheit Vorrang vor der Wirtschaftlichkeit hat. Viele Vorkommnisse in Kernkraftwerken, die Sie fälschlich als Störfälle bezeichnen und die in den Medien breitgetreten werden, sind alltägliche Routineangelegenheiten ohne jegliche Sicherheitsrelevanz.

3.

Kernkraftwerke tragen entgegen Ihrer Auffassung gerade dazu bei, die Umwelt zu entlasten, da sie keinerlei Luftschadstoffe emittieren.

Sie, sehr geehrte Damen, verwechseln das reale und das hypothetische Risiko. Das hypothetische Unfallrisiko der Kernenergie wollen wir nicht bestreiten. Es ist aber so gering, dass die tatsächlichen Vorteile der Kernenergie auch gerade in ihrer unbestreitbaren Umweltfreundlichkeit das minimale Risiko bei weitem überwiegen. Das ganze Leben besteht aus dem Abwägen von Risiken; wer jegliches Risiko scheut, wird lebensunfähig. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich nehme Ihre Ängste ernst; ich meine aber, auch die Angst darf eine vorurteilsfreie Abwägung aller Vor- und Nachteile verschiedener Handlungsmöglichkeiten nicht verhindern. So sind z.B. die Beschränktheit fossiler Ressourcen, der ständig wachsende Weltenergiebedarf und das Klimaproblem ebenfalls in die Abwägung einzubeziehen. Die Weltenergiekonferenz, die vor kurzem in Montreal stattfand, hat einmal mehr bestätigt, dass die Kernenergienutzung heute unverzichtbar ist. Die von Ihnen angesprochenen regenerativen Energiequellen – vor allem die Nutzung der Sonnenenergie – sind sicher mit Nachdruck zu verfolgende Optionen, die im nächsten Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewinnen werden. Sie sind aber keine Alternative für heute.

Ich würde mich freuen, wenn dieser Brief dazu beitragen könnte, dass Sie Ihre Haltung zur friedlichen Nutzung der Kernenergie überdenken und zumindest einräumen, dass hierfür auch gute Argumente sprechen.

Mit freundlichen Grüßen
Gerold Tandler

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Herrn Gerold Tandler
Bayerischer Staatsminister der Finanzen
Vorsitzender des Aufsichtsrates der Bayernwerk AG
Odeonsplatz 4
8000 München 22

22. Januar 1990

Ihr offener Brief vom 22. Dezember 1989, AZ: 55 – VV 9400/4 – 12/14 – 71 372
an die Mütter gegen Atomkraft e.V. in 8254 Isen.

Sehr geehrter Herr Minister Tandler,

vielen Dank für Ihre wohlmeinenden Worte. Allerdings möchten wir ein Missverständnis ausräumen: Im Gegensatz zu Ihrer Einschätzung, wir seien durch Angst blockiert und ,,lebensunfähig“, sehen wir uns als sehr lebendiges, zukunftweisendes Energiepotential. Denn für die „Mütter gegen Atomkraft“ schließen sich Lebensfreude und Risikobewusstsein nicht gegenseitig aus.

Grundsätzlich kann man eine Gefahr, zum Beispiel die der Kernenergie, leugnen oder sich damit auseinandersetzen. Das Leugnen beseitigt die Gefahr jedoch ebenso wenig wie die daraus resultierenden Ängste. Um von der Angst nicht gelähmt zu werden, informieren sich die „Mütter gegen Atomkraft“ über die nüchternen Tatsachen, die die Anhänger der Kernenergie offenbar gerne verdrängen:

1.

Tschernobyl ist für uns keine Hypothese, sondern zeigt ganz real, welche Wirkungen mit dieser Technik verbunden sind. Erst jetzt sickert langsam durch, wie groß die tatsächliche Umweltzerstörung ist, und wie viel menschliches Leid eine derartige Katastrophe nach sich zieht. Wer als Politiker dieses Wissen als „geringes Risiko“ einstuft, missbraucht seine Verantwortung gegenüber der heute lebenden und allen nachkommenden Generationen.

2.

Ihr Argument, der Ausbau der Kernenergie biete eine Lösung gegen die drohende Klimakatastrophe und sei deshalb unumgänglich, wurde von Fachleuten längst widerlegt (z.B. bei der Anhörung durch die Bonner Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“). Wirksam bekämpfen lässt sich der Treibhauseffekt nur dann, wenn wir mit dem Energiesparen endlich ernst machen. Investitionen für energiesparende Maßnahmen verringern den CO2-Gehalt fünfmal mehr als Ausgaben in gleicher Höhe für die Nutzung der Kernenergie! Ein rationellerer Einsatz der vorhandenen Energien würde die Unwelt sofort entlasten. Denn zwei Drittel der Energie verpuffen heute ungenutzt. Wie lange leisten wir uns noch eine derart gigantische Verschwendung?

3.

Wer berechnet eigentlich die Kosten der Kernenergie, falls es zu einem ähnlichen „Unglücksfall“ wie im fernen Tschernobyl hierzulande oder in einem Nachbarstaat kommen sollte? Wir haben weder die Mittel noch den Raun noch die medizinischen oder technischen Möglichkeiten, den Bürgern irgendeinen Schutz zu bieten. Haben Sie, Herr Tandler, oder die anderen Befürworter der Kernenergie den Mut, diese Tatsache unumwunden einzugestehen?

Unter Abwägen aller Fakten haben wir für uns entschieden, dass wir die Bedrohung des Lebens durch eine zerstörerische Technik und durch die Vergeudung von Ressourcen nicht hinnehmen wollen. Die Atomkraft ist zu einem Symbol für den Glauben an ein hemmungsloses Wachstum geworden. Wir dagegen sehen unsere Aufgabe darin, zusammen mit vielen anderen Umweltschutzgruppen den Prozess der Neuorientierung voranzubringen, ohne den diese Gesellschaft unserer Meinung nach keine Zukunft hat.

Mit freundlichen Grüßen

Mona Summers,
Vorsitzende der Mütter gegen Atomkraft e.V.

Verteiler: Ministerbüro, Bayernwerk AG, Presse


Mütter Courage. Zeitung der Mütter gegen Atomkraft 1/1990, 28 f.

Überraschung

Jahr: 1989
Bereich: Atomkraft