Materialien 1990

100.000.000.000.000.000 Becquerel am Ostbahnhof

Atomtransporte durch München

Seit Jahren ist bekannt, dass Atomtransporte aus Isar I (OHU) – es handelt sich dabei um den Transport von abgebrannten Brennelementen nach La Hague in Frankreich zur Wiederaufarbei-
tung – durch Münchner Stadtgebiet und Region fahren und zwar 7 bis 12mal pro Jahr; die genaue Streckenführung mit eventuellen Aufenthaltsorten aber kannte niemand. Trotz mehrmahliger An-
fragen des Münchner Stadtrats beim Bayer. Innenministerium war nichts in Erfahrung zu bringen. Dieses Ministerium, das von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt vor den jeweiligen Transporten informiert wird, ist lediglich verpflichtet, die betroffenen (also an der Strecke liegen-
den) Polizeidienststellen zu unterrichten. Alle anderen Ämter oder Behörden – auch das Katastro-
phenschutzamt – und erst recht natürlich die Öffentlichkeit erfahren nichts.

Diese Tatsache bewog uns – eine Handvoll Leute aus dem Münchner Anti-Atom-Plenum – im Frühjahr dieses Jahres, die Streckenführung der OHU-Transporte ans Licht zu bringen. Die Vorbe-
reitung bestand im Herausfinden günstiger Beobachtungspunkte, der Verteilung der Standorte und dem Einrichten einer Telefonzentrale. Uns war bekannt, dass die Transporte vorwiegend im Frühjahr bis Hochsommer und am Wochenanfang fahren, so mussten wir uns nicht ständig bereit-
halten. Nach Informationen aus Ohu und Landshut, dass ein Transport unterwegs sei, gelang uns dann am 25. Juni 1990 und am 2. Juli 1990 in den späten Abendstunden die lückenlose Beobach-
tung in München und Umgebung. Der Zug nahm die S 1-Strecke von Freising (21.10 Uhr ) über Feldmoching (21.30 Uhr ) nach Laim (21.43 Uhr), zweigte dann ab zum Südbahnhof (27.50 Uhr) und durchfuhr den Ostbahnhof (22.08 Uhr), um in Berg am Laim (22.15 Uhr) zu rangieren. Nach ca. zwei Stunden Aufenthalt fuhr er um 0.15 Uhr dieselbe Strecke nach Laim zurück, um dann auf der S 3-Route über Pasing und Lochhausen das Stadtgebiet in Richtung Olching (1.02 Uhr) – Augsburg wieder zu verlassen (s. Stadtplan). Insgesamt war der Transport also ca. dreieinhalb Stunden auf Münchner Stadtgebiet unterwegs.


Friedenheimer Brücke am 2. Juli 1990, 21.46 Uhr, Foto: M. Kaufmann-Ott

Wir verfassten eine Presseerklärung mit Foto, über die am 11. Juli 1990 tatsächlich von allen an-
geschriebenen Tageszeitungen z.T. sehr ausführlich berichtet wurde. Der Bayerische Rundfunk sendete einen Kurzbericht, Radio Gong 2000 und Radio FFB brachten Interviews mit uns. Unsere Euphorie über die umfangreiche Berichterstattung verflog allerdings sehr schnell, da fast keine Resonanz folgte. Weder von offizieller Seite (immerhin wurde nicht dementiert!) noch aus der Bevölkerung reagierte man auf unsere Recherchen. Entgegen unserer Annahme scheint die Tat-
sache, dass hochgefährliche Transporte an ihrer Haustüre vorbeifahren, die BürgerInnen nicht zu erschrecken.

Einzige vernehmbare Konsequenzen: Der Münchner Stadtrat beschließt im Juli auf einem Hearing zum Katastrophenschutz, noch in diesem Jahr eine Anhörung zu Atomtransporten durchzuführen. Der Olchinger Gemeinderat fordert vom Landratsamt (gleichzeitig Katastrophenschutzbehörde) Aufklärung zu den Transporten aus OHU durch den Brucker Landkreis. Einen Antrag zur Aufklä-
rung stellte auch eine Bürgerversammlung im Münchener Stadtteil Lochhausen.

Ursprünglich hatten wir für den Juli noch wertere Beobachtungen beabsichtigt und dazu auch die Presse geladen. Erstaunlicherweise fuhren aber nach unserer Veröffentlichung bis Anfang August keine weiteren Atomzüge mehr durch München, obwohl normalerweise die Transporte eines Jah-
res in wenigen Wochen hintereinander abgewickelt werden. Denkbar ist, dass die Fahrpläne an-
schließend ganz erheblich geändert wurden. Möglicherweise waren die beobachteten Transporte aber auch die beiden letzten für dieses Jahr. Weitere Aktionen erscheinen uns für 1990 nicht mehr sinnvoll.

Allgemeines zur Situation der Atomtransporte in Deutschland

Pro Jahr verkehren auf dem ehemaligen Gebiet der BRD mehr als 3.000 genehmigungspflichtige Atomtransporte allein aus der Energienutzung (insgesamt sind es über 400.000). Sie finden statt auf dem Weg von der Uran-Mine (in fast allen Kontinenten) über die Uran-Anreicherungsanlagen (in ganz Europa), die Fertigungsanlagen für die Brennelemente (in Lingen und Hanau) zu den Kernkraftwerken (in ganz Deutschland); von dort über Zwischenlager (bei den AKWs, in Ahaus und Gorleben), Wiederaufarbeitungsanlagen (La Hague, Sellafield) und Konditionierungsanlagen (zukünftig in Gorleben) zu den Endlagern. Da es Endlager aber bislang nicht gibt, werden weitere sinnlose Transporte von Zwischenlager zu Zwischenlager folgen. Knotenpunkte bei all diesen Transporten sind die AKWs, die Wiederaufarbeitungsanlagen, die Häfen, die großen Güterbahn-
höfe und auch die Flughäfen. Die Zahl der Transporte wird in Zukunft ganz erheblich zunehmen, da ab 1993 der aufgearbeitete Müll aus Frankreich und England zurückkommt und die Zwischenla-
ger bei den AKWs bald völlig überfüllt sind. Dazu kommen dank deutscher Vereinigung die Trans-
porte von und zu ostdeutschen AKWs und auch Transporte zum dortigen Endlager Morsleben (für schwach- und mittelaktiven Müll), das allerdings bundesdeutschen Sicherheitsvorstellungen kaum entsprechen dürfte.

„Sicherheitskonzept“

Die gefährlichsten Atomtransporte sind die mit abgebrannten Brennelementen. Sie dürfen bei uns praktisch nur noch über die Schiene abgewickelt werden. Befasst damit ist die NCS (Nuclear Cargo + Service), eine hundertprozentige DB-Tochter, bestehend aus der Führungsmannschaft der Transportabteilung der ehemaligen Skandalfirma Transnuklear!

Je nach Behältertyp werden pro Transport 7 bis 32 Brennelemente gefahren, das ergibt ein Inven-
tar von bis zu 100 Millionen Milliarden Becquerel (eine 1 mit siebzehn Nullen!), das ist etwa ein Zehntel des gesamten Tschernobyl-Fallouts. Doch zu dem Unfall kommt es nur einmal in 15.000 Jahren, behauptet das „Projekt Sicherheitsstudien Entsorgung“ (PSE), eine 1985 erschienene, vom Bundesminister für Forschung und Technologie in Auftrag gegebene Risikostudie, mit deren Teil-
bereich „Transporte auf der Schiene“ wieder der Fa. Transnuklear befasst war. Dabei ging man von einem Beobachtungszeitraum von sieben Jahren aus: allen Unfallabläufen, die in dieser Zeit nicht passiert waren, wurde einfach die Wahrscheinlichkeit Null zugeordnet. Die IAEO (Internationale Atomenergie-Organisation) hat Testkriterien entwickelt, denen ein Behälter für abgebrannte Brennelemente standhalten (dabei allerdings nicht völlig dichthalten!) muss, beispielsweise ein Fall aus 9 m Höhe, ein 30minütiges Feuer bei 800 Grad C der Druck bei 15 m Wassertiefe über 8 Stunden. Diese Tests werden meist nur mit Prototypen, v.a. aber nur mit neuen Behältern und häufig lediglich unter simultanen Bedingungen durchgeführt. (Übrigens testete früher die Fa. Transnuklear selbst ihre eigenen Transportbehälter!) Zudem sind natürlich Unfallabläufe denkbar, die mit diesen Tests nicht erfasst werden: so gibt es Brücken, die höher sind als 9 m, Schiffe fahren auch durch Gewässer, die tiefer sind als 15 m, und Brände über 800 Grad C sind keine Seltenheit, v.a. wenn es auf Güterbahnhöfen, wo auch Chemietransporte rangiert werden, zu Explosionen kommt. Außerdem treffen bei schweren Unfällen häufig mehrere urvorhergesehene Ereignisse zusammen, und das kann in keine Risikoanalyse eingehen. Es sind durchaus schon gravierende Transportunfälle passiert (1984 sinkt ein mit Uranhexafluorid beladener Frachter; 1985 verun-
glückt auf der Hamburger Reeperbahn ein LKW mit Atommüll; 1986 kippt ein ebensolcher LKW um; 1989 entgleist in England ein Güterzug mit abgebrannten Brennelementen …), nur zu einer großflächigen Verseuchung ist es, zumindest soweit bislang bekannt, in Europa glücklicherweise noch nicht gekommen (in den USA schon!).

Obwohl die Gefahr an sich schon groß genug ist, werden von Atomkraftgegnern häufig noch Schlampereien und Regelverstöße aufgedeckt. So fährt ein Atommülltransport aus Neckarwest-
heim über eine Brücke, die für ein so hohes Gewicht gar nicht ausgelegt ist; ein Straßentransport vom selben AKW fährt mit einem nicht ausreichenden Bremssystem; in Krümmel werden defekte Gleisanlagen entdeckt; Atommüll wurde auf normalen Passagierfähren unbewacht nach Schweden verschifft; z.T. liegt die Oberflächenstrahlung über den zulässigen Grenzwerten, auch Außenkon-
taminationen an Transportbehältern sind schon festgestellt worden; die Züge halten sich oft nicht an die vorgeschriebene Geschwindigkeitsbegrenzung …

Und die Vorgänge um Transnuklear, die sicher noch allen in Erinnerung sind, geben das beste Beispiel, wie z.T. mit dem hochgefährlichen Material umgegangen wird. Doch auch ohne Unfall, Schlamperei und Regelverstöße bedeutet die atomare Fracht eine Strahlenbelastung für die Perso-
nen, die sich in der Nähe der Transporte befinden. Bei einer Oberflächenstrahlung von bis zu 200 mrem/h sind vor allem Rangierarbeiter, die häufig mit Atomtransporten zu tun haben, z.T. einer höheren Belastung ausgesetzt als AKW-Arbeiter. Aber auch die Bevölkerung, die nahe an den häu-
fig angefahrenen Güterbahnhöfen wohnt, bleibt von zusätzlicher Strahlung nicht verschont. So wurde für der Umgebung des Braunschweiger Güterbahnhofes bereits eine mögliche Belastung errechnet, die über den zulässigen Abluftgrenzwerten von Kernkraftwerken liegt.

Doch damit nicht genug. Gerade Atomtransporte könnten Ziel eines kriminellen Anschlags wer-
den, weil sie – dank z.T. minimaler Bewachung (in Berg am Laim sahen wir zwei Bahnpolizisten) – wesentlich leichter zugänglich sind als andere kerntechnische Anlagen. Auch die Möglichkeit der Abzweigung von z.T. bombenfähigem Material ist bei Atomtransporten besonders groß.

Nicht umsonst kommt wohl deshalb auch die PSE zu dem Ergebnis, dass „strahlende Frachten den größten Beitrag zum Gesamtrisiko der Entsorgung leisten“!

Geheimhaltung

Gerade der letztgenannte Aspekt Diebstahl und Sabotage dient dem Bayerischen Innenministe-
rium als Grund, die Transporte geheim zuhalten. Und wie uns die wenigen Reaktionen auf unsere Veröffentlichung zeigten, ist diese Ansicht auch in der Bevölkerung verbreitet. Doch was hier ein paar Atomkraftgegner in drei Monaten schaffen, dürfte doch wohl für andere, die einen Anschlag planen, auch kein Problem sein. Außerdem ist es schon erschreckend zu hören, dass Bürger bereit sind, eine Technologie zu akzeptieren, die vor ihnen geheimgehalten werden muss.

Der wahre Grund für die Geheimhaltung ist die Furcht vor einer informierten Öffentlichkeit, der plötzlich erkennt, dass die Gefahren der Atomenergie nicht in weiter Ferne liegen, sondern vor der eigenen Haustüre vorbeifahren. Wäre die Bayrische Staatsregierung wirklich am Schutz ihrer Bür-
ger interessiert, so würde sie zumindest die Katastrophenschutzbehörden vor der Durchfahrt der Transporte in Kenntnis setzen.

Diese Geheimhaltungstaktik begünstigt auch in hohem Maße die Schlampereien und Regelverstöße im Umgang mit der strahlenden Fracht. Transporte, von denen keiner weiß, kann auch niemand kontrollieren.

Unsere Konsequenzen

Gerade der lasche Umgang mit Atommülltransporten ist für uns Grund genug, auch weiterhin alles zu unternehmen, ihre Durchfahrt publik zu machen. Allerdings: wirklich sicher ist nur der Atom-
transport, der nicht stattfindet! Der Atommüll darf nicht von Zwischenlager zu Zwischenlager transportiert werden, um die Entsorgungsmisere zu vertuschen. Nur die sofortige Stillegung der Kernkraftwerke und ernsthafte Bemühungen um das bestmögliche Endlagerkonzept für den bereits entstandenen Müll werden die Atommülltransporte irgendwann zum Stehen bringen. Darüber hinaus fordern wir, dass bereits im Genehmigungsverfahren für Endlager die entstehen-
den Atomtransporte berücksichtigt werden.

Im Frühjahr 1991, wenn erneut OHU-Transporte zu erwarten sind, werden wir unsere Beobach-
tungen wieder aufnehmen und durch die Presse, mit Infoständen und Flugblättern an die Öffent-
lichkeit gehen. Wir halten es für sehr wichtig, dass sich viele Bürger gegen die Atomtransporte zur Wehr setzen. Es gibt eine Menge Beispiele, wo der Protest der Bevölkerung dazu geführt hat, dass Städte, Häfen und Flughäfen für den Transport von Atommüll gesperrt wurden (Lübeck, Emden, Wilhelmshaven, Kirchheim, Civitavecchia/Italien, Dublin/Irland, Seattle/USA, Liverpool und Manchester/England …). Wir müssen die Politiker in unseren Städten und Gemeinden daran er-
innern, dass sie die Pflicht haben, Beeinträchtigungen und Gefahren von ihren Bürgern fernzu-
halten und sie so auf kommunaler Ebene in unseren Protest miteinbeziehen.

Wertere Schwerpunkte unseres Widerstandes könnten sein:

> der Flughafen Erding, der wohl zum Unschlagplatz für das radioaktive Material des Forschungs-
reaktors in Garching (ein neuer ist geplant) werden soll;

> der geplante Transport aus den USA, der uns teuer bezahlten Atommüll zur Erprobung unserer Endlager bringen soll;

> der Rücktransport des wiederaufgearbeiteten Atommülls aus Frankreich und England 1993.

Spätestens dann wird die Situation höchst prekär, denn auch dann wird bei uns kein Endlager zur Verfügung stehen, und der Müll wird weiter hin- und hergeschoben werden. Sollen wir solange mit unserem Protest warten?

Mechthild Kaufmann-Ott (ZAG Atomtransporte)


Mütter Courage. Zeitung der Mütter gegen Atomkraft 4/1990, 9 ff.

Überraschung

Jahr: 1990
Bereich: Atomkraft