Materialien 1991
Hatten die Gefühle doch recht?
Betrachtungen einer Psychoanalytikerin zum „gewonnenen“ Golfkrieg
„Der Krieg ist zu Ende, die Aggression ist besiegt“, so die stolze Verlautbarung des amerikanischen Präsidenten. Innerhalb weniger Tage haben auch wir uns umgestellt. Wo vor wenigen Wochen noch lähmendes Entsetzen war, wo keine Begegnung zwischen Menschen möglich war, ohne über den Krieg zu sprechen, kaum eine Psychotherapie ohne tiefgehende Reaktion, da regiert jetzt das Vergessen. Schämen wir uns nachträglich unserer Angst? Bestätigt der „Sieg“, „unser Sieg“ viel-
leicht doch, dass die strategisch und juristisch argumentierenden Männer recht hatten und immer wieder rechthaben, wenn sie behaupten, Angst sei ein schlechter Ratgeber? Hatten sie nicht viel-
leicht doch recht, wenn sie die Angst vor der durch einen Krieg möglicherweise ausgelösten Klima-
katastrophe und die Angst um die vielen betroffenen Zivilisten und Soldaten als übertrieben und als Panikmache bezeichneten? Hätten wir unsere Kinder vielleicht doch vor dem Wissen um die Gefahren dieses Krieges schützen sollen, da die „starken“ Männer und Väter das Problem so leicht lösen konnten? Haben wir die Kinder unnötigerweise erschreckt, ja in unverantwortlicher Weise der Angst ausgesetzt und politisch indoktriniert?
Die Klimakatastrophe am Golf wird uns in unserem Land nicht betreffen, so scheint es; nur wenige Soldaten der alliierten Streitkräfte haben den Tod gefunden; es wurden kein Giftgas und keine Atombomben eingesetzt. Die Überlegenheit der elektronischen Waffen hat diesen „kurzen“ Krieg möglich gemacht. Es sieht fast so aus, als seien die Gefühle, vor allem die der Frauen und Kinder, wieder einmal diskreditiert. Warum haben sie den Männern und Vätern nicht vertraut? Wäre es nicht besser gewesen, von Anfang an auf der Welle der Siegesphantasien mitzuschwimmen und dabei die Opfer der Gewalt zu vergessen, als sich nutzlose Gedanken zu machen und den „notwen-
digen“ Gang der Dinge durch sinnlose und wirkungslose Proteste und Demonstrationen aufhalten zu wollen? Zeigt das nicht wieder einmal, wie unfähig zur Politik Frauen und Kinder und auch die-
jenigen Männer sind, die sich von Gefühlen leiten lassen?
Ich glaube, dass diese Zweifel über den Sinn gefühlsgeleiteten Handelns in der Politik eine Gefahr bedeuten, eine Gefahr für unser Selbstverständnis als ein Volk, das seine Verantwortung darin sieht, innenpolitische und außenpolitische Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Es besteht die Gefahr, dass der Sieg Ängste, Schuldgefühle und Trauer beseitigt. Schon im Zweiten Weltkrieg versuchte die nationalsozialistische Führung hektisch von Sieg zu Sieg, von Siegversprechen zu Siegverspre-
chen „voranzueilen“, um die Bevölkerung trotz immer weiter zunehmender Leiden hinter sich hal-
ten. Auf diese Weise konnten die Schuldgefühle wegen bisheriger Grausamkeiten durch immer neue „siegreiche“ Grausamkeiten unterdrückt werden, so wurden die eigenen Leiden als „notwen-
dig für den Endsieg“ annehmbar gemacht.
Wir alle sind verführbar durch Siege. Die Zustimmung auch zu diesem Krieg wuchs sowohl in den USA als auch bei uns rapide mit den Erfolgsnachrichten. Der Erfolg bestätigt die Mittel, er beruhigt Ängste und verdrängt das Mitgefühl mit den Opfern. In den USA und auch in England scheint er derzeit auch über die Niederlage in Vietnam bzw. über die (wirtschaftliche) Depression hinwegzu-
helfen und ein „stolzes Selbstwertgefühl“ zu ermöglichen, das auf der Phantasie beruht, unschlag-
bar zu sein. Schuld, Scham und die so sehr diffamierten „Selbstzweifel“ scheinen vergessen zu sein. Da wir immer hoffen, dass das Gute bzw. der Gute siegt, wird unversehens in unserer Vorstellung der Sieger zum Guten, der Verlierer zum Bösen. Die Effektivität der Mittel scheint als Argument für diese Wertung zu genügen.
Aber geht das wirklich? Kann man auf dem Sieg über andere, auf der Unterdrückung der eigenen Gefühle ein sicheres Selbstwertgefühl aufbauen? Kann man sich wirklich „wieder gut fühlen“, wenn man die Opfer der Gewalt im eigenen Volk und bei den sogenannten Feinden vergisst? Kann man die Aggression durch Aggression besiegen? In den ersten Tagen dieses Krieges fiel mir immer wieder ein altes Kinderlied aus (hoffentlich der Vergangenheit angehörenden) militärischen Zeiten ein. Es verherrlicht die Gewalt und den Erfolg der Unterdrückung, und es vermittelt den Kindern die Botschaft, dass Sicherheit nur durch überlegene Stärke und Rücksichtslosigkeit zu gewinnen ist:
Ein kleiner Schelm bist Du,
weißt Du, was ich tu’?
Ich steck’ Dich in den Habersack
und bind’ auch oben zu.
Und wenn Du dann noch schreist:
Bitte lass’ mich raus!
Dann bind’ ich nur noch fester zu
und setz’ mich oben drauf.
Dieses Lied spiegelt die Ursachen und Folgen des Krieges innerhalb der Personen und zwischen den Personen und Völker: Innerhalb unserer eigenen Person haben wir wohl alle mehr oder we-
niger die Tendenz, störende Gefühle „in den Habersack“ zu stecken und uns oben drauf zu setzen, um uns selbst überlegen zu sein, um funktionieren zu können, um Krieg führen zu können. Wür-
den wir unser Mitgefühl nicht „in den Habersack“ stecken, wir könnten nicht Krieg führen, wir könnten andere Menschen und Völker nicht verletzen. Deshalb waren die Demonstrationen der Friedensbewegung so „störend“, machten sie doch deutlich, dass hier die Gefühle riefen: Bitte lass’ mich raus! Aber diese Gefühle wurden als Parteinahme für die andere Kriegspartei diffamiert.
Das Kinderlied scheint es in den USA auch zu geben, denn ich fand am 26. Februar 1991 in der taz folgende Meldung: „‚Wir stecken die Republikaner-Garde in einen Sack, binden ihn zu, versiegeln ihn und hauen drauf.’ So beschrieb ein Pentagon-Vertreter gestern in Washington das Ziel, das die US-Streitkräfte und ihre Verbündeten in wenigen Tagen zu erreichen hoffen.“ Wer in seiner Fami-
lie diese Beziehungsstruktur (das In-den-Habersack-Gesteckt-Werden) als Opfer kennen gelernt hat, und wer dazu noch glauben gelernt hat, dass dieser Umgang mit „Sündern“ sowohl nötig als auch gerechtfertigt ist, der erschrickt nicht bei solchen Ankündigungen, bestätigen sie doch nur sein bisheriges inneres Lebenskonzept.
Der Generalinspektor der Bundeswehr Wellershoff beklagte am 11. März 1991 bei einer Komman-
deurstagung die „Schwäche“ der deutschen Außenpolitik während des Golfkrieges so: „Das Ausle-
ben der Angst und nicht ihre Überwindung wurde zur nationalen Tugend“. Wie viele andere hat er wohl gelernt, dass die Überwindung der Angst eine Tugend sei. Und diese Überwindung wird in unseren Kinderstuben systematisch eingeübt, indem das Kind sich der Aussichtslosigkeit seiner Proteste zu beugen lernt. Nicht der Dialog ist zumeist das Grundprinzip unserer Beziehungen – und damit auch unserer Beziehung zu unseren Kindern – sondern das Ent-weder-Oder. Entweder das Kind setzt sich durch, oder der Erwachsene. Um „oben“ zu bleiben, muss man in dieser Bezie-
hungsstruktur den anderen „in den Habersack stecken“ und gleichzeitig auch die eigenen Gefühle für ihn. Der Ruf „bitte lass’ mich raus!“ stört bei diesem „Sieg“, er muss „überwunden“ werden. Dass Angst auch mitgeteilt werden könnte, und dass diese Mitteilung ein wichtiges Signal für die Deeskalation der Gewalt sein könnte, wird in solchen Eltern-Kind-Beziehungen nicht erfahren. Die Mitteilung von Angst (in Demonstrationen) wird deshalb als (hemmungsloses) Ausleben von Ge-
fühlen verstanden, die irgendwann einmal von einem Erwachsenen „überwunden“ wurden oder hätten überwunden werden müssen.
Wenn aber fast alle Menschen als Kinder dieses „Habersack-Prinzip“ mehr oder weniger in sich aufgenommen haben und deswegen später bei Verunsicherung zu Gewaltphantasien neigen, die alleine ihnen die verlorene Sicherheit zurückzugeben scheinen? Wie soll unter diesen Umständen das Mitgefühl mit dem Opfer, vor allem mit dem Opfer der eigenen Handlungen, zu Wort kom-
men? Sind wir nicht alle dazu verdammt, die Gewaltszenen als Opfer oder Täter zu wiederholen, weil wir schon aufgrund unserer persönlichen und kollektiven Erfahrungen gar nichts anderes denken können?
Ich meine, dass gerade die Erfahrungen mit diesem eben erlebten Krieg für uns Deutsche eine Chance sein könnte, unsere Identität neu und eindeutiger zu bestimmen. Da jede Veränderung des Selbstverständnisses nur in einer Phase der Verunsicherung vor sich gehen kann, war ich zunächst einmal über die anfängliche Unsicherheit unserer Regierung erleichtert. Diese Unsicherheit war für mich Ausdruck einer kollektiven Bewusstseinsveränderung in den letzten 45 Jahren. Wenn die alte „Nibelungentreue“ schon in den meisten vorangehenden politischen Konflikten dazu geführt hatte, dass wir uns jeweils mehrheitlich in eines der Lager eingeordnet haben, so war doch wenig-
stens bei Ausbruch dieses Krieges die Begeisterung für eine Seite, und damit für den Krieg, in un-
serem Land sehr gering. Dass wir dann die Reaktionen von außen, dem Vorwurf der Feigheit und Drückebergerei, ja der Verantwortungslosigkeit, so hilflos ausgeliefert waren, lag wohl daran, dass wir zwar wussten, was wir nicht wollten (in einen Krieg verwickelt werden), dass uns aber eine po-
sitive Definition unserer friedenstiftenden Identität noch nicht zur Verfügung steht.
Als unsere „Verantwortung“ konnte uns deshalb von außen die Verpflichtung zur Parteinahme in diesem Konflikt vorgehalten werden. Die Gefühle – auch die der meisten Männer in unserem Land – standen dem zwar entgegen, aber die Angst vor dem Etikett „Feigling“ war bei den meisten doch größer, und so versuchten wir uns vorsichtig und beschämt in die Reihen der Sieger einzuordnen. Das Ausland hatte wenig Verständnis für das Wiederauftauchen der Erinnerung an die Bombenan-
griffe in unserer Bevölkerung. Dort waren die Schrecken des Krieges vom Bewusstsein der Sieger deutlicher verdrängt worden als bei uns. Wir Deutschen hatten bei aller „Unfähigkeit zu trauern“ doch ein wenig mehr die Chance, in der Demütigung zu lernen. Wenn wir auch viele schmerzliche Gefühle schon 1945 in den „Habersack“ gesteckt haben und uns mit Hilfe von Wirtschaftswunder und Identifikation mit den Siegern auf diesen Sack gesetzt haben, so scheint doch eine Erfahrung hängen geblieben zu sein, die Erfahrung, dass es sich letztlich nicht lohnt, einen Krieg zu führen, auch wenn man voraussichtlich siegen wird wegen der Opfer auf beiden Seiten.
Freilich haben diese Erfahrungen nicht ausgereicht, um den Vorwürfen aus dem Ausland mutig und selbstsicher zu begegnen. Hier waren wir wirklich feige. Unter einer mutigen Antwort könnte ich mir vorstellen, die Gefühle aus dem Habersack wieder herauszuholen und sprechen zu lassen. Nur wenn die Gefühle, wenn die Stimmen der (potentiellen) Opfer mitsprechen und das (politi-
sche) Verhalten mitbestimmen, ist es möglich, eine aktive und selbstsichere Rolle in der Weltpoli-
tik zu spielen, die nicht dem Prinzip des Entweder-Oder folgt. Nur wenn Angst, Trauer und Hoff-
nung sich miteinander verbinden und dabei auch der rationale Überblick erhalten bleibt, kann von einem Menschen, kann von einem Land „Frieden ausgehen“. Das Problem ist die Spaltung zwi-
schen Gefühl und Rationalität, die in unseren Kinderstuben erworben wird und unser weiteres Leben prägt, auch im Kampf zwischen Männern und Frauen. Das Gegeneinander der Gefühle „im Habersack“ und der auf diesem Sack sitzenden „Vernunft“ hat zur Folge, dass immer wieder Feindbilder entstehen, dass sich immer wieder die Phantasie ausbreitet, die Welt(-ordnung) wäre besser, wenn das „Böse“ oder die „Bösen“ ausgerottet wären.
Frauen und Männer, beide begabt mit Gefühlen und Vernunft, können diese Aufgaben nur gemein-
sam lösen. Das Entweder-Oder in den Kinderstuben hängt mit dem Entweder-Oder zwischen den Eltern zusammen. Die Fähigkeit der Frauen, Leben zu bewahren, muss sich mit der Fähigkeit der Männer, äußere Schwierigkeiten zu bewältigen, verbinden. Wo der Dialog zwischen Frauen und Männern, zwischen Gefühlen und rationalen Überlegungen entgleist, müssen Frauen versuchen, das Leben gegen die Männer zu bewahren, und Männer versuchen, die Probleme dieser Welt gegen die Frauen und gegen die eigenen Gefühle zu bewältigen oder zu überwältigen.
Eine Utopie? Ein langer Weg.
Thea Bauriedl
Mütter Courage. Zeitung der Mütter gegen Atomkraft 2/1991, 5 ff.