Materialien 1994

Gedanken – Fetzen – Erörterung FRM II – Mai 1994

Schon beim Einlass wieder dieses Gefühl, etwas kriminelles an mir zu haben – eine Bombe in der Tasche? Ich hab keine drin und dennoch, ich bin nicht ganz sicher, ob nicht doch eine drin ist. Hoffentlich ist mein Pass noch gültig – hab ich ihn eingesteckt?

In der Halle: wieder die Aufteilung in hier und drüben, exakt getrennt durch eine durchgehende Tischbarriere. Die Farben im Raum sind diesmal wärmer – rot, weiß, grün – sogar die Stühle sind nur diskret befestigt, erlauben mir Bewegungen in alle Richtungen. Ich fühle mich friedlicher, aber auch weniger aufmerksam als in Augsburg. Wird’s diesmal vielleicht doch anders?

Szene: Situationskomik – Wir lachen herzlich – drüben lacht keiner, obwohl es wirklich für alle zum Lachen wäre. Ich lache einen grauen Behördenherren an, versuche ihm Mut zu machen, einfach mitzulachen. Es gelingt ihm ein gequältes Lächeln – eigentlich darf er nicht!?

Szene: Es wird um eine Gedenkminute für die Opfer von Tschernobyl gebeten. Die blaue Frau gibt statt. Wir stehen auf. Drüben zwei Atemzüge nichts. Die blaue Frau erhebt sich – wie an Marionettenfäden kommt unsichere Bewegung in die Glieder der grauen Herren.

Vision: Die Herren Antragsteller sitzen auf einem Boden. Er ist wie eine dicke Platte, undurchsichtig, undurchlässig, was drunter ist, bleibt den Herren verborgen. Über ihnen wölbt sich ein schier unendlicher Horizont, wie eine riesige Haube. In der Mitte ist die Schaltzentrale. Der Roboter ist weiblich, er fällt auf durch die blauen Haare. Daneben die Sachberater der Behörde. Sie sitzen in kleinen Zellen, wie Telephonhäuschen. Werden sie angerufen, dürfen sie reden. Es kommt selten ein Anruf. Sie langweilen sich.

Das Spiel Erörterung läuft. Schon in den Eingangsworten macht die blaue Frau keinen Hehl daraus, wie dünn das Mäntelchen der Glaubwürdigkeit ihrer Behörde ist. Die Spielregeln bestimmt sie. Ihre einprogrammierte Richtlinie scheint an sein: der FRM II soll gebaut werden! Die Spielregeln verlesen darf nur sie, sie verändern darf nur sie. Die Einwender müssen „erzogen“ werden – schwarze Pädagogik pur: Regelschraube anziehen, entstandene Aggressionen besänftigen, um Verständnis heucheln. Es klappt! Viele von uns sind zum ersten Mal auf einer Erörterung. Sie sind der blauen Frau ausgeliefert, sie fühlen sich mit Recht in ihrer menschlichen Würde verletzt, sie reagieren empört, fordern ihre Rechte laut und undiszipliniert, erkennen die Macht der Frau nicht, wollen sie nicht anerkennen, trotzen – die Stimme wird ihnen entzogen – Mikrophonausschaltung, willkürliche Unterbrechung der Verhandlung.

Meine Freundin springt über die Barriere, stößt die Wachleute zur Seite wie Strohpuppen, läuft zur blauen Frau. Sie weint – meine starke Freundin weint. Sie verschwindet mit der blauen Frau, um mit ihr zu sprechen. Das ist gut! Die blaue Frau zeigt ihre Karten: die Provokation zum Abbruch durch die Einwender ist bewusst in Kauf genommen.

Das Spiel geht weiter. Die Regeln werden verschärft. Redezeitbegrenzung auf 5 Minuten, egal wer wie viel einzuwenden hat, nach 5 Minuten Mikrophonentzug, die Antragsteller müssen nicht antworten, sollen keiner Inquisition ausgesetzt sein, Sachbeistände erhalten kein Rederecht. Rechtsbeistände werden ignoriert, sie erhalten kein Mikrophon. Ohnmächtige Wut, Resignation, Depression – Abbruch – endlich raus aus dieser entwürdigenden Situation.

Gio Göring


Mütter Courage. Zeitung der Mütter gegen Atomkraft 2 vom August 1994, 26.

Überraschung

Jahr: 1994
Bereich: Atomkraft