Materialien 1988

Rede gegen die WAA VIII

Gunver Clements-Höck, Mütter gegen Atomkraft, Vorstandsmitglied

Erörterungspunkte der Mütter gegen Atomkraft am Erörterungstermin um den Bau der WAA in Neunburg v.W. am 21. Juli 1988

1)

Eine WAA gibt im Normalbetrieb ein Vielfaches der Radioaktivität ab, die von einem Kernkraftwerk ausgeht. Ich verweise auf die Kurzbeschreibung der DWK, Januar 88, (S. 66) der Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf:

U.a. geht es jährlich um
1,75 Milliarden beq. Jod 129,
6 Milliarden beq. Plutonium,
1,5 Billiarden beq. Tritium,
160 Billiarden beq. Krypton,
13 Milliarden beq. Caesium.

Diese hochgefährlichen Gifte werden durch den 200 m hohen Kamin in die Umwelt verteilt, auf Luft, Wasser, Boden, Pflanzen, Tiere und Menschen. Da sich die radioaktiven Teilchen nicht gleichmäßig verteilen, ist es schwierig festzustellen, wie hoch die radioaktive Belastung gebietsweise sein wird.

Beruflich strahlenexponierte Personen tragen bei ihrer Arbeit ein Dosimeter, das monatlich ausgewertet wird. Die Strahlenbelastung von Menschen in der näheren und weiteren Umgebung atomarer Anlagen, also auch der WAA Wackersdorf , wird jedoch nicht gemessen. Sie wird auf Grund von Modellen und einer Unmenge von Daten, die mehr oder weniger gut bekannt sind und einen großen Schwankungsbereich aufweisen, berechnet. Kontrolliert auf radioaktive Bestrahlung wird die Bevölkerung aber (noch) nicht. Wie sollen die Menschen in der näheren und weiteren Umgebung der WAA also wissen, ob und wie hoch sie radioaktiv belastet sind, d.h. wie können sie sich schützen vor zu hoher Strahlenbelastung? Ich denke da natürlich auch an bereits vorliegende Untersuchungen in der Umgebung von Sellafield u.a. WAA-Anlagen. Oder ist diese Frage mit dem Begriff „zumutbares Risiko“ auch für die Betreiber der WAA Wackersdorf bereits erledigt?

Wir Mütter gegen Atomkraft wollen wissen, welche Überlegungen die Betreiber zum vorbeugenden Gesundheitsschutz angestellt haben und welche Konsequenzen sie daraus zu ziehen gedenken.

2)

Die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) gibt in ihrem Papier 26, aus dem Jahre 1977, den Risikofaktor 100 zusätzliche Krebstote pro 1 Million Personen pro rem an.

Neuere Untersuchungen – ich verweise auf das Como-Statement von September 1987 – an Strahlengeschädigten aus Hiroshima und Nagasaki haben ergeben, dass dieser Risikofaktor viel zu niedrig angesetzt war. Die Strahlendosen waren nicht so hoch, wie ursprünglich angenommen, d.h. die beobachteten Krebsfälle sind schon bei niedrigeren Dosen aufgetreten. Unter den Experten wird seitdem gestritten, wie hoch bzw. niedrig der Risikofaktor nun gesetzt werden soll . Prof. Dr. Jakobi vom Institut für Strahlenschutz und Umweltforschung in Neuherberg hat, basierend auf den neuen Ergebnissen, einen erhöhten Risikofaktor von immerhin 300 – 500 Toten pro 1 Million Personen pro rem abgeleitet. Die Internationale Strahlenschutzkommission lässt sich Zeit bis wahrscheinlich 1990, um ihre 1977 angegebenen Risikofaktoren zu korrigieren.

Wenn man sich als Laie in die einschlägige Literatur und Berichte von Konferenzen vertieft, mutet einen das Jonglieren und Abwägen zwischen 100 und 500, oder sogar noch mehr (japanisch-amerikanische Untersuchungen) Krebstoten pro Million unheimlich, ja makaber an.

Ich frage mich, ob einem Wissenschaftler je dabei der Gedanke kommt, dass z.B. seine eigene Frau, sein Kind, ja er selber zu diesen 100, 500 oder mehr Toten gehören könnte, und ob er versucht, sich vorzustellen, welches Leid hinter jedem einzelnen dieser Toten steht, bzw. stehen wird.

Was aber am allermeisten befremdet, ist der Ausdruck „Referenzperson“. Das ist ein ca. 40-jähriger, 20 kg schwerer, gesunder Mann mit festgelegten Lebensgewohnheiten. Diese Referenzperson dient als Grundlage der Berechnungen. Der Mensch wird so zur atomgerechten „Puppe“ degradiert, mit völlig identischen körperlichen und seelischen Komponenten. Die bei jedem Menschen unterschiedlichen genetischen Veranlagungen, Empfindlichkeiten und durch äußere Faktoren bedingte Anfälligkeiten (ich denke da auch an den synergetischen Effekt) werden einfach nicht berücksichtigt.

Prof. Gofman, seit langem einer der führenden Wissenschaftler der Radiologie, hat nach Auswertung der bis 1980 erschienenen Literatur das Strahlenrisiko eines Säuglings 300fach höher eingeschätzt als das eines 60-jährigen, d.h. die z.Zt. gängigen Risikofaktoren unterschätzen das Strahlenrisiko eines Säuglings um das Zehn- bis Dreißigfache. Angesichts dieser Untersuchung ist die (schriftliche) Äußerung von Rechtsanwälten der DWK, dass die Gruppe der Säuglinge und Ungeborenen in den einschlägigen Berechnungsgrundlagen des Bundesinnenministeriums des Inneren zu § 45 der Strahlenschutzverordnung als nicht zu betrachtende Personengruppe auszuweisen ist, Ausdruck größter Menschenverachtung.

Einerseits wird plädiert für den Schutz des ungeborenen Lebens, andererseits wird gerade die Gruppe ausgegrenzt.

Wir Mütter gegen Atomkraft erwarten von der DWK zu diesem Punkt ausführliche und genaue Erklärungen, bzw. eine offizielle Distanzierung!

3)

Es ist mit einer Überschreitung des Schilddrüsendosisgrenzwertes in der Umgebung von Wackersdorf zu rechnen, da es Probleme bei der Rückhaltung von Jod, insbesonders Jod 129 gibt. Das bedeutet eine Erhöhung der Schilddrüsenkrebsgefahr. Die ICRP hat den Wichtungsfaktor für die Schilddrüse besonders niedrig angesetzt mit der folgenden Begründung (S. 6): „‚Heilbare’ Krebserkrankungen werden als vernachlässigbar behandelt, bzw. nur Krebstod gilt als Risiko. Krebs, der vielfach geheilt werden kann, wird nicht berücksichtigt.“ (Grundgesetz, Art. 2, Abs. 2!!)

Aus einem Bericht des BMI aus dem Jahre 1995 geht aber hervor, dass die Sterblichkeit durch Schilddrüsenkrebs höher ist als von der Internationalen Strahlenkommission angenommen wird.

Frage an die Herren der DWK: Sind Sie über diese Studie unterrichtet – und wenn ja, wie verhält sich diese Tatsache zum sogenannten Minimierungsgebot?


Mütter gegen Atomkraft e.V. (Hg.), Reden gegen die WAA, München 1988, 16 f.

Überraschung

Jahr: 1988
Bereich: Atomkraft