Materialien 1988

Rede gegen die WAA XVI

Professor Dr. med. Roland Scholz, 8035 Gauting, Leutstettener Str. 20, 089/8505542

Vortrag anlässlich der Anhörung in Neunburg vorm Wald, Oberpfalz, im Rahmen des Genehmigungsverfahrens für die Errichtung einer Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstoffe in Wackersdorf an 28. Juli 19881

Herr Vorsitzender, meine Herren!2

Ich spreche für meine Kinder und Enkel und für die Mütter, die am vergangenen Donnerstag hier ihre Bedenken und Sorgen vorgetragen haben.

Ich bin Arzt und Biochemiker und lehre Physiologische Chemie an der Universität München. Als Wissenschaftler arbeite ich auf dem Gebiet der Zellbiologie, deren Ziel es ist, die lebendige Orga-
nisation auf der Ebene der Zelle zu entziffern. Die Komplexität der Lebensvorgänge ist jedoch so ungeheuer groß, dass unsere Erkenntnis immer nur modellhaften Charakter haben kann. Unsere Theorien gründen sich auf Indizienbeweisen; sie gelten so lange, bis neue Beobachtungen ihnen widersprechen. Wer das erkannt hat, weiß, wie vorsichtig wir sein müssen, wenn auf dem Boden heutiger Erkenntnis Entscheidungen für Morgen getroffen werden.

Sie haben betont, beim atomrechtlichen Verfahren gehe es allein um Fragen des Standorts. Der Standort der Emission ist die WAA, der des Schadens die Zelle. Strahlenschäden sind primär ein zelluläres Problem; denn Krebs, Leukämie, Erbkrankheiten als Sekundärschäden gehen immer nur von einer einzelnen Zelle aus. Dies wird bei der Bewertung von Strahlenbelastungen nicht berück-
sichtigt. Nach gängiger Vorstellung wird der ganze Körper bzw. ein Organ – als homogene Masse gedacht – bestrahlt. Es sind Physiker, die im offiziellen Strahlenschutz den Ton angeben, Zellbio-
logen könnten da mehr zur Klärung von Standortfragen beitragen.

Meine Beziehung zur Strahlenproblematik ist zunächst die Zellbiologie, insbesondere das Problem der „Radikale“. Strahlenschäden werden vorwiegend durch Radikale vermittelt. Ich befasse mich u.a. damit, wie in der Zelle Radikale vernichtet werden. Außerdem arbeite ich seit 20 Jahren mit Radioaktivität und bin Strahlenschutzbeauftragter an einem Universitätsinstitut. Wie es bei Anwendern und Betreibern üblich ist, habe auch ich lange nicht hinterfragt, womit ich umging, – bis zu jenem 1. Mai 1986. Ein Liter Wasser aus meiner Regentonne enthielt zwanzigmal mehr ß-Aktivität, als ich in den Laborausguss schütten darf.3 Ich hätte ihn in die Abklinganlage geben, zwischenlagern und eventuell endlagern müssen.

Es heißt: im Anhörungsverfahren sollen die Bedenken der Bürger ausgeräumt werden. Zu diesem Zweck präsentieren Sie Ihre Sachverständigen. Die Bürgen sollen erkennen, dass zu ihrer Linken2 Kompetenz im Detail gepaart mit Weitsicht und Vorsicht versammelt ist. Am vergangenen Don-
nerstag wurden hier zu Fragen der Gesundheitsgefährdung Antworten gegeben, die wahrlich unsere Bedenken nicht zerstreut haben. Die Mütter fragen sich, ob sie mit dem nötigen Sach-
verstand und der gebotenen Vorsicht beraten werden. Die Mütter haben mich gebeten, einige Gedanken zum Gehörten zu sagen.

Ich möchte sprechen
erstens, vom wirklichen Experten,
zweitens, von der Sicherheit des Wissens,
drittens, vom Problem, Äpfel und Kartoffeln vergleichbar zu machen,
und viertens, von der Kunst, Probleme gar nicht erst zu sehen.

Erstens, zum „wirklichen“ Experten

Was ist ein „wirklicher Experte“?4 Verzeihen Sie, wenn mir dabei k.u.k Österreich einfällt. Dort gab es den Hofrat, den geheimen Hofrat und den wirklich geheimen Hofrat. Letzterer wusste im vor-
auseilenden Gehorsam genau was k.u.k. Majestät zu denken geruhte.

Bei uns ist es die „Bruderschaft“5 der Experten, die dem Bundesinnenminister (seit 1986 dem Um-
weltminister) in der Strahlenschutzkommission dienen dürfen. Von der Ausbildung her sind es meist Physiker; die wenigen Mediziner darunter sind mehr Anwender von Strahlen als Ärzte. Die Minister holen sich also ihren gesundheitspolitischen Rat bei Physikern. Tun sie es auch, wenn es um die eigene Gesundheit geht?

Zwar haben wir hier gehört, wie ein früheres Mitglied dieser Kommission seine ärztliche Kompe-
tenz betonte. „Frau Kollegin, auch ich habe mehrere Jahre auf einer Krebsstation gearbeitet.“ Die Ärztinnen unter den Müttern haben jedoch wenig ärztliches Verständnis wahrgenommen.6

Und woher stammt das Expertenwissen? Meist aus Institutionen, die „auf die forschungspolitische Zielsetzung der Bundesregierung ausgerichtet“ sind. So steht es im. Jahresbericht 1984 der GSF.7 Der Brotgeber der „wirklichen Experten“ gibt das Ziel vor. Und wenn das Ziel heißt: „Durchsetzen der zivilen Nutzung der Atomenergie“, dann ist der Freiraum für kreativen Widerspruch schmal.

Zwei Jahre Warteschleife in London machen 20 Jahre im Umfeld der GSF nicht wett, obwohl in Großbritannien, – trotz einer Regierung, die auf Kernenergie setzt, – ein wissenschaftliches Klima herrscht, das den offiziellen Strahlenschützern Freiräume gibt. Zwar tut sich auch dort der Vor-
sitzende der Strahlenschutzkommission schwer mit der Tatsache , dass es in der Nähe von Atom-
anlagen mehr Leukämien gibt. Das darf nicht sein und kann auch nicht sein; denn Radioaktivität, die beim Normalbetrieb entweicht, ist ungefährlich, auch in England. Dennoch:

„Wenn die Häufung der Leukämiefälle in der Umgebung von Sellafield, Dounreay und anderen britischen Atomanlagen wirklich mit der ionisierenden Strahlung zusammenhängt, dann ist entweder unser Wissen von der tatsächlichen radioaktiven Freisetzung falschoder da ist etwas hinsichtlich der radioaktiven Stoffe im menschlichen Körper, was wir nicht verstehen.“8

Dahinter steckt mehr Nachdenklichkeit, mehr Bescheidenheit, mehr Wissen um die Begrenztheit unseres Wissens, als wir letzten Donnerstag hier hören konnten.

Zweitens, zur Sicherheit des Wissens

Sie machen sich sachkundig mit der Hilfe von Wissenschaftlern und Technikern. Wir erhoffen uns, dass Erstere beim Entscheidungsprozeß die wichtigere Funktion haben; denn ein Wissenschaftler ist jemand, der beobachten kann, der nach Zusammenhängen fragt, der zu denken wagt, was der-
zeit undenkbar ist; jemand, der weiß, dass die Erkenntnisse von heute morgen schon überholt sein können, dass es keine Sicherheit des Wissens gibt.

Ein Techniker dagegen wendet Wissen an; er hinterfragt es nicht; er verwaltet Wissen; – wobei das nicht wertend gemeint ist. Und ein Techniker mag vielleicht sagen „bei meiner Ehre versichere ich, dass die Brücke richtig berechnet ist und mit Sicherheit nicht einstürzen wird“, – auch wenn es meines Erachtens allemal vermessen ist, Sicherheit 100-prozentige Sicherheit, mehrfache Sicher-
heit zu garantieren; denn „Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand!“

Wissenschaftler, insbesondere Bio-Wissenschaftler, würden sich weigern, derartige Garantien zu geben, insbesondere, wenn es um spätere Auswirkungen auf die Gesundheit geht. Bis zum letzten Donnerstag wäre folgender Satz undenkbar gewesen:

„Bei meiner wissenschaftlichen Ehre versichere ich Ihnen, dass es im Umkreis von Wackersdorf nachweislich keinen Leukämiefall geben wird, der durch radioaktive Emissionen verursacht ist.“

So oder ähnlich (ich lasse mich gerne durch das Protokoll korrigieren) war der Satz hier zu hören. Scheint es seit Kiel Mode zu werden, die Ehre zu bemühen, wenn die Glaubwürdigkeit schwindet? Was gibt Ihrem Sachverständigen die Sicherheit zu dieser Aussage? Bestimmt nicht das Studium der wissenschaftlichen Literatur, eher die Lektüre von Hochglanzbroschüren!

Auch ihm müsste bewusst sein, dass die Geschichte der Radioaktivität eine Geschichte ihrer ständigen Unterschätzung ist. Nur langsam reifte die Erkenntnis vom besonderen Gefähr-
dungspotential. Unstrittig ist inzwischen, dass Radioaktivität in jeder Form und in jeder Dosis nach langer Zeit Krebs und Leukämie verursachen kann. Es ist deshalb töricht, eine Garantie-
erklärung für die WAA abzugeben, und peinlich, sie auch noch mit der Ehre zu besiegeln. Strittig ist nur, wie viele Opfer gebracht werden müssen, wenn eine bestimmte Aktivitätsmenge eine Population über Jahre hinweg trifft. Strittig ist die Größe des Menschenopfers, das wir für einen fragwürdigen Fortschritt bringen müssen.

Anfang der 60er Jahre war man noch überzeugt, dass Strahlendosen, die keine Akutwirkungen haben, auch keine Spätschäden verursachen. Lediglich genetische Schäden, die zum Auftreten von Erbkrankheiten nach etlichen Generationen führen, wurden damals für den Bereich niedriger Strahlendosen diskutiert.9 Dass Krebserkrankungen, gleich den genetischen Schäden, von Muta-
tionen der DNS im Zellkern ausgehen, war noch unbekannt.10 An zellbiologische Experimente zum Nachweis der mutagenen Wirksamkeit niedriger Dosen war noch nicht zu denken.11 12

Erst in den späten 50er Jahren wurde deutlich, wie sehr man sich geirrt hatte. Bei den Überleben-
den von Hiroshima/Nagasaki nahm zunächst die Erkrankungshäufigkeit an Leukämie zu, dann die an Krebs.13 Es hat lange gedauert, bis man den Folgen des Fallouts aus den Atombombenversu-
chen nachging14, deren Ausmaß wahrscheinlich erheblich größer ist, als bislang bekannt wurde. Nur langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass auch die diagnostische Anwendung von Röntgenstrahlen nicht harmlos ist.15 16

Beim Strahlenschutz argumentieren Verwalter und Anwender aber mit dem Erkenntnisstand aus den 60er, höchstens frühen 70er Jahren. Der ominöse Risikofaktor „ein Krebstoter pro 10.000 Personen-rem“ in der ICRP-Empfehlung von 197717 basiert auf den Erhebungen in Hiroshima/
Nagasaki bis 1972.13 Heute, 15 Jahre später, ist dort die Krebsrate noch immer erhöht. In der letztjährigen Publikation des Hiroshima-Instituts wird der Risikofaktor bereits mit 17 Toten pro 10.000 Personen-rem angegeben.18 Von den gleichen Daten leiten die amerikanischen Professoren Gofman19 und Radford20 überlineare Dosis/Risiko-Beziehungen ab. Bei einer Strahlenbelastung im Bereich von einem rem wären es 3020, wenn nicht sogar 12019 Tote pro 10.000 Personen-rem. Radford vermutet, dass das Risiko der Kinder mindestens achtmal größer ist.20.

Niemand kennt das ganze Ausmaß der Gefährdung! Die Risikofaktoren. abgeleitet von Hiroshima/
Nagasaki, stehen allesamt auf tönernen Füßen, sowohl die der ICRP von 197717, von 198721 und die vom Hiroshima-Institut18, als auch die von Gofman19 und Radford20. Sie geben nur einen unge-
fähren Anhalt für die möglichen Folgen einer äußeren Strahlenbelastung durch ein einmaliges Ereignis. Strenggenommen gelten sie nur für diejenigen Überlebenden dieser beiden Städte, welche die Notjahre bis 1950 überlebt haben, also nur für die genetisch Stärkeren der früheren Bevölkerung;22 und sie gelten – das ist wichtig! – nur für die einmalige Einwirkung hoher Dosen von vorwiegend γ-Strahlen und nicht für die langdauernde Einwirkung von ß-Strahlen in niedri-
ger Dosierung.

Eine Dauerbelastung durch die Teilchenstrahlung von inkorporierten Radionukliden, der die Bevölkerung durch den Betrieb kerntechnischer Anlagen ausgesetzt ist, könnte aber wesentlich mehr Opfer fordern, als nach den Erfahrungswerten von Hiroshima/Nagasaki zu erwarten wäre. Die Verwalter und Anwender scheinen vergessen zu haben, dass das Äquivalentdosis-Modell, nach dem die Wirkungen von innerer und äußerer Bestrahlung, von Teilchen- und Wellenstrahlung, gleichgesetzt wird, auf weitgehend unbewiesenen Annahmen beruht. Aus zellbiologischer Sicht
ist eine Gleichsetzung höchst fragwürdig; denn nicht die deponierte Energie im Makrovolumen, sondern die Dichte der Schadensereignisse im Mikrovolumen des Gewebes ist entscheidend für die Spätfolgen.

Die aus Hiroshima/Nagasaki abgeleiteten Risikofaktoren sind somit kaum auf andere Populatio-
nen, kaum auf andere Situationen übertragbar. Zum Beispiel lassen sie sich nicht mit den Beob-
achtungen in den amerikanischen Weststaaten, die Ende der 50er Jahre vom Bomben-Fallout besonders getroffen wurden, in Einklang bringen14 und auch nicht mit den Sterbestatistiken der Arbeiter in der amerikanischen Atomindustrie.23 Mit diesen Faktoren lässt sich kaum abschätzen, was uns auf lange Sicht erwartet, wenn mehr und mehr Radioaktivität freigesetzt wird. Über die Langzeitwirkung von Teilchenstrahlung aus inkorporierten Radionukliden wissen wir schlichtweg zu wenig, als dass man „rechnen“ könnte.

Doch die offiziellen Strahlenschützer, angesiedelt bei der GSF, können „rechnen“. Mit buchhalte-
rischer Akribie haben sie zahlenmäßig alles im Griff, jede Population und jede Situation. Ein Jahr nach Tschernobyl stand fest, wie viel Radioaktivität wir inkorporiert hatten und wie viel Opfer es geben wird. „Im Bereich München eine mögliche zusätzliche Krebshäufigkeit von etwa 50 bis 300 Fällen“24, „gerechnet mit den neuen Zahlen aus Hiroshima“.25 Aus den derzeit verfügbaren Fakten wird, ohne die sie bedingenden Faktoren zu berücksichtigen, Allgemeingültigkeit abgeleitet. Um die wahre Aussage der Hiroshima-Statistiken zu verstehen, scheint mehr vonnöten zu sein als bloße Zahlengläubigkeit!

Seit 1976, dem Jahr, in dem die geltende Strahlenschutzverordnung erlassen wurde, haben sich unsere Vorstellungen gewandelt. Der Verdacht, dass auch niedrige Strahlendosen in nicht uner-
heblichem Maße Spätschäden verursachen können, wird gestützt durch die Fortschreibung der Hiroshima-Statistik18, durch Untersuchung der Fallout-Folgen14, durch zellbiologische Experi-
mente12, durch die neue biologische Dosimetrie26 und durch jüngste Erkenntnisse aus Krebs-, Gen- und Radikalenforschung und Immunologie. Selbst die GSF kann sich dem nicht verschließen, auch wenn ihre Vertreter die neue Einsicht nur zögernd, dafür aber mit dem Anspruch auf Urhe-
berschaft verkünden.27

Dennoch wird nach wie vor Strahlenschutz betrieben und werden nach wie vor Anlagen genehmigt auf der Grundlage von verstaubten Erkenntnissen. Der angeblich vorbildliche deutsche Immis-
sionsschutz, das 30-mrem-Konzept, geht zurück auf eine Empfehlung der Deutschen Atom-Kom-
mission aus dem Jahre 196928 und die wiederum beruft sich auf eine ICRP-Empfehlung von 19659, welche den Stand der frühen 60er Jahre widerspiegelt.

Der Verordnungsgeber muss endlich zur Kenntnis nehmen, dass inzwischen mehr als 20 Jahre verstrichen sind. Das Schutzkonzept entspricht nicht mehr den Stand der Wissenschaft; es muss gründlich überdacht werden. Das Argument, man sei damals der Zeit weit voraus gewesen, trägt nicht länger. Auch wenn niemand genau weiß, wie gefährlich Radioaktivität ist; eines lässt sich jedoch sagen: Die Gefahren sind größer, als die „Bruderschaft der Experten“ es Ihnen einreden will.

Es sollte zu denken geben, dass in den USA seit 1977 ein Grenzwert von 4 mrem gilt.29 Auch wenn die Bewertungsgrundlagen unterschiedlich sind, so lässt sich dennoch sagen: Im Ursprungsland der Atomtechnologie hat der Bevölkerungsschutz einen höheren Stellenwert als bei uns. Und dabei ist die Regierung der USA nicht zimperlich, wenn es um die Durchsetzung ihrer Atomprogramme geht.30

An dieser Stelle eine Frage an die Herren von der DWK: Sind Sie sich eigentlich der Inkonsequenz Ihrer Argumentationen bewusst? Mit Teilanträgen planen Sie Ihre Anlage, um jeden Abschnitt nach dem „Stand von Wissenschaft und Technik“ zu errichten. Jedoch wenn es um den Schutz der Bevölkerung vor Ihrer Anlage geht, dann berufen Sie sich – wir haben es gestern gehört31 – auf den Erkenntnisstand vor 20 Jahren. Und das ist wahrlich nicht „Stand der Wissenschaft“.

Stand der Wissenschaft ist auch nicht mehr, die „natürliche Radioaktivität“ zum Maßstab der Un-
bedenklichkeit zu machen. Allmählich reift nämlich die Erkenntnis, dass selbst die Strahlung, die uns seit Anbeginn unausweichlich umgibt, nicht harmlos ist, geschweige denn wohltätig. Sie ist ein Teil der Lebensfeindlichkeit dieser Welt und trägt dazu bei, dass wir altern, dass wir an Krebs er-
kranken können, dass individuelles Leben begrenzt ist. Zusätzliche Strahlenbelastungen durch künstliche Radioaktivität erhöht die Lebensfeindlichkeit. Sich beim Zumutbaren an der natürli-
chen Radioaktivität zu orientieren, mag 1965 eine „elegante Lösung“32 gewesen sein, aber nicht 1988.

Bereits 1972 ging eine Kommission der National Academy of Science, USA, davon aus, dass zwei Prozent aller Krebserkrankungen durch die natürliche Radioaktivität bedingt seien.33 Inzwischen muss man ihren Anteil bei der Krebsentstehung noch höher einschätzen. Ich führe drei Beispiele an: In den USA wurde herausgefunden, dass die kosmische Strahlung die Häufigkeit einzelner Krebsarten beeinflusst.34 Ein Zusammenhang von Magenkrebshäufigkeit und Höhe der terrestri-
schen Strahlung wurde aus Japan berichtet.35 Kürzlich konnte die britische Epidemiologin Dr. A. Stewart36 belegen, dass bei mindestens der Hälfte aller Krebserkrankungen im Kindesalter die terrestrische γ-Strahlung ursächlich beteiligt ist.

Der Herr Ministerpräsident schien in diesem Falle die richtige Ahnung zu haben. Im Juli 1985, beim energiepolitischen Gespräch in der Staatskanzlei, sagte er, es sei doch wohl „unsinnig, die natürliche Radioaktivität als ungefährlich … zu kennzeichnen“.37 Er war auf dem richtigen Wege. Man hätte ihn darin bestärken müssen, dass tatsächlich jede Form von Radioaktivität gefährlich ist und dass jede Vermehrung zu unterbleiben hat. Doch im vermeintlichen Glauben, was der Herr Ministerpräsident zu hören wünscht, wurde ihm geantwortet: „Ich sehe keinerlei wissenschaftliche Begründung, irgendwelche Unterschiede von natürlicher und künstlicher Radioaktivität anzuneh-
men.“ Im Kontext: natürlich gleich ungefährlich, also auch künstlich gleich ungefährlich, solange die künstliche „sich im Schwankungsbereich der natürlichen Radioaktivität befindet“.38

Eine Chance wurde vertan. Hier hätte ein „Hofrat“ Politik machen können. Er hätte den Herrn Ministerpräsidenten vom Zwang befreien können, den Nordlichtern zu beweisen, dass in Bayern eine WAA „politisch durchsetzbar“ ist. Die Elektrizitätsindustrie könnte ihre Milliarden sinnvoller investieren. Und der Bevölkerung blieben die radioaktiven Ausdünstungen einer WAA erspart.

Natürliche und künstliche Radioaktivität – das bringt uns zum Problem, wie Äpfel und Kartoffeln vergleichbar gemacht werden können.

Beides sind Nahrungsmittel, vergleichbar unter anderem auf Kalorienbasis. Doch es gibt man-
cherlei Unterschiede. So auch bei den verschiedenen Arten energiereicher Strahlung. Zwar erzeugen sie alle Ionen, lösen eine sekundäre ß-Strahlung aus, schädigen auf direktem oder indirekten Wege Biomoleküle. Auf dem Papier sind sie vergleichbar, so wie Äpfel und Kartoffeln. Doch die biologische Wirkung ist verschieden und lässt sich schwerlich auf einen Nenner bringen. Das gilt für Kartoffeln und Äpfel, das gilt auch für die durchdringende Wellenstrahlung, die uns von außen trifft, und für die Teilchenstrahlung von inkorporierten radioaktiven Stoffen.

Die Dichte der Schadensereignisse in der einzelnen Zelle ist unterschiedlich und damit auch die Häufigkeit von Schäden. Entlang der Bahn eines durchdringenden γ-Strahls sind die Schäden gleichmäßiger verteilt und weniger dicht als auf der kurzen Wegstrecke eines ß-Strahls. Bei Letzterem wiederum gibt es viele Zellen mit wenig Treffern und wenige mit vielen Treffern. Der Strahlenphysiker mittelt über alles; der Biologe sieht die einzelne Zelle, denn ein Spätschaden geht immer von einer einzelnen Zelle aus. Das Mitteln auf dem Papier ist so, als wenn man den mittle-
ren Blutverlust bei Unfällen auf deutschen Autobahnen berechnet. Das mögen 10 ml pro Unfall-
opfer sein, also dürfte niemand verbluten.

Und hier liegt auch das Problem, wenn wir natürliche und künstliche Radioaktivität vergleichen. Mehr als zwei Drittel der natürlichen Radioaktivität trifft uns als durchdringende Wellenstrahlung, nur ein Drittel ist inkorporierte Teilchenstrahlung.39 Bei der Radioaktivität aus Atomanlagen ist das Verhältnis umgekehrt. Selbst Nuklide mit gleicher Strahlungsart sind kaum vergleichbar. Es ist etwas anderes. ob die Strahlung ausgeht von K-40, J-129, Sr-90 oder Cs-137. Das hängt nicht nur davon ab, ob und wo sich ein Radionuklid im Körper anhäuft; da spielt auch der Anteil an Zerfällen mit ß- und γ-Strahlung eine Rolle.

Letztlich sind nur vergleichbar Äpfel mit Äpfeln, vielleicht noch Äpfel mit Birnen.

Aufschlussreich ist, was der Herrn Ministerpräsident sonst noch bei ihrem Sachverständigen lernen konnte40:

„Die Halbwertszeit hat für die biologische Wirkung von Radioaktivität .überhaupt keine Bedeu-
tung. Wenn überhaupt, sind Stoffe mit langer Halbwertszeit wesentlich weniger riskant. Hinzu kommt noch, dass der größte Teil der natürlichen Radioaktivität nahezu unendlich lange Halb-
wertszeiten hat. Denn diese Stoffe sind entstanden, als die Erde entstanden ist, und strahlen immer noch. Es ist also nicht so, dass die unendlich langen Halbwertszeiten, die bei einer Wiederaufbereitungsanlage auftreten, besonders unbekannt oder besonders gefährlich sind,
im Gegenteil.“

Das ist beachtlich! Auch ohne Strahlenforscher zu sein, weiß jeder hier im Saal, dass eine Strah-
lenbelastung um so größer ist, je länger der inkorporierte radioaktive Stoff im Körper bleibt und strahlt.41 War es Unkenntnis simpler Grundlagen der Radiologie? Oder wurden nach bewährter Methode Nebelkerzen geworfen?

Und der Herr Ministerpräsident bekennt, dass er die Ausführungen des Experten „mit Interesse gelesen und dadurch“ seine „Kenntnisse erheblich erweitert“ habe.42 Bei solchen Hofräten sollten wir uns nicht wundern!

Ich fasse zusammen, was zur Vergleichbarkeit von natürlicher und künstlicher Radioaktivität,
von durchdringender Wellenstrahlung und inkorporierter Teilchenstrahlung, von kurzzeitiger Exposition mit hohen Dosen oder langdauernder Exposition mit niedrigen Dosen zu sagen ist:

Auf dem Papier sind dank dem Äquivalentdosis-Modell und dank der Zauberei mit den Dosis-
faktoren alle gleich. Doch in der Zelle, in subzellulären Kompartimenten, im Mikromaßstab der lebendigen Organisation, dort, wo der Strahlenschaden gesetzt wird und wo eine spätere Krebs-
krankheit ihren Anfang nimmt, da ist es anders. Dort entscheidet die Dichte der Schadenser-
eignisse, und die ist unterschiedlich, von Strahlenart zu Strahlenart, ja selbst entlang der Bahn eines einzelnen Strahls. Was dort vor sich geht, können wir kaum erfassen und mit Zahlen beschreiben, zumindest nicht mit konstanten Faktoren.

Doch wenn’s zu kompliziert wird, dann muss man halt mitteln; denn jedes Problem lässt sich ver-
waltungstechnisch in den Griff kriegen. Mitteln und Gleichmachen, das sind die Methoden, mit denen man sich der Komplexität der Natur entledigt. Und je stärker das Denken eines Wissen-
schaftlers bürokratisiert ist, um so weniger Skrupel hat er dabei. Juristen werden’s danken; denn Gleichmacherei vereinfacht das Verfahren für die Genehmigungsbehörde, für’s Gericht, auch wenn die Realität des Lebens eine andere ist.

Und damit bin ich beim letzten Punkt. Der handelt von der Kunst, Probleme gar nicht erst zu sehen.

Das mag manchmal eine goldene Regel sein; doch nicht, wenn es um das Aufdecken von unbekannten Gefährdungspotentialen geht. Was sagt dazu Ihr Sachverständiger?

„So ist es verständlich, dass … immer wieder die Durchführung demiologischer Untersuchungen gefordert … wird … Solche … Untersuchungen lösen kein Problem, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Sie schaffen nur Probleme.“43

„Es wird gesagt, dass die Leukämierate … zehnmal höher sei als im Durchschnitt der englischen Bevölkerung. (gemeint ist Sellafield, d.V.) Es gibt einige sehr sorgfältige Untersuchungen, die zeigen, dass dieses Ergebnis rein auf Zufall beruht. (Dass die Erhöhungen im Umkreis von Dounreay und Sellafield jedoch keine zufälligen Cluster sind, hat er selbst an vergangenen Donnerstag hier zu Protokoll gegeben. d.V.) Man sollte sich dem öffentlichen Druck … große epidemiologische Studien durchzuführen, unbedingt widersetzen … Entweder findet man nichts – dann hat man es vorher gewusst: man kann übrigens auch gar nichts finden – oder man findet, wie in Sellafield, doch etwas – dann hat man sehr große Schwierigkeiten, einen solchen Zufallsbefund wieder wegzudiskutieren“.44

Sinngemäß haben wir seine Absage an die Epidemiologie auch hier gehört.

Was gibt ihm die Sicherheit, dass man nichts finden wird, wenn die Bevölkerung jahrelang Stoffen ausgesetzt ist, die potentiell cancerogen sind? In Sellafield45, in South Utah14, in Denver30 hatte man eigentlich auch nichts finden dürfen; und dennoch wurden reale Schäden gefunden, für die wahrscheinlich die Radioaktivität die Hauptursache ist.

Auch in Südbayern wurden Phänomene beobachtet, die aufgrund des räumlichen und zeitlichen Auftretens einen Zusammenhang mit den Emissionen eines Atomkraftwerks nahe legen.46. Der Verdacht wurde nach drei Jahren immer noch nicht ausgeräumt. Was aus Ihrem Ministerium dazu verlautbart wurde , reicht nicht aus.47 So wie es Ihr Sachverständiger vorausgesagt hat: Sie haben große Schwierigkeiten, diesen Befund „wegzudiskutieren“. Hätte der Herr Staatsminister auf ihn gehört und die Materialien 24 nicht in Auftrag gegeben, wären ihm etliche Probleme erspart geblieben.

Die Häufung der Leukämiefälle in der Umgebung kerntechnischer Anlagen, Sellafield45, Dounreay48, möglicherweise auch Würgassen49, dürften nach bisheriger Vorstellung nicht aufgetreten sein. Dabei ist Leukämie nur der „Indikatorkrebs“. Wo gehäuft Leukämien gefunden werden, auch wenn es zunächst nur wenige Fälle sind, muss man fürchten, dass ein Jahrzehnt später die allgemeine Krebshäufigkeit steigt.13

In den umfangreichen Dokumentationen, die jahrelang mit Fleiß in den Behörden angelegt wer-
den, stecken sicherlich noch manch andere Hinweise, die nicht im Einklang mit der gängigen Vorstellung stehen, dass kerntechnische Anlagen im Normalbetrieb ungefährlich sind. Mir ist
zum Beispiel Folgendes aufgefallen:

Erstens. 1976/77 streuen die dokumentierten Messergebnisse für Krypton-85 in der Luft erheblich; sie liegen bis zum Dreifachen über dem Trend des kontinuierlichen Anstiegs seit Mitte der 60er Jahre.50

Zweitens. 1976 ist auch das Jahr, in dem für Rotwild eine mehrfache Erhöhung der radioaktiven Belastung dokumentiert wird.51

Drittens. 1977 wurden in der Bundesrepublik 10 Prozent mehr Kinder mit Fehlbildungen geboren als im Mittel der Jahre davor und danach.52

Sind die Einzelbeobachtungen nur ein Spiel des Zufalls? Wenn nein, ist die zeitliche Koinzidenz zufällig? Oder besteht etwa ein Zusammenhang zwischen der erhöhten radioaktiven Verseuchung 1975 und der Fehlbildungshäufigkeit ein Jahr später? – Ein „Zufallsbefund“, der schleunigst „weg-
zudiskutieren“ ist, damit nur ja kein Verdacht aufkommt? Oder ein weiterer Hinweis, dass da etwas ist „mit der Wirkung der Radioaktivität, das wir nicht verstehen“?8

Irgendetwas kann nicht stimmen? Was ist falsch: die Beobachtung oder die gängige Vorstellung von der Ungefährlichkeit? Der Beamte misstraut der Beobachtung, weil er die offizielle Bewer-
tung nicht zu hinterfragen wagt. Ihr Sachverständiger macht’s nicht anders. Der Vorsitzende der britischen Strahlenschutzkommission aber sagt: „Da scheint etwas zu sein mit der Wirkung der Radioaktivität, das wir nicht verstehen.“8 So stelle ich mir einen Regierungsberater vor, der sich seiner Verantwortung bewusst ist. Doch bei uns wird geraten: besser gar nicht erst nach schauen!

Dabei kann es keinen Zweifel geben: Große epidemiologische Untersuchungen sind zwingend notwendig, um Gefahrenpotentiale aufzudecken. Zwar liefern sie selten den Beweis für einen kausalen Zusammenhang, aber Hinweise, Steine, die im Mosaik vielfältiger Beobachtungen zu Erkenntnissen führen. Es ist allemal ein mühsames Unterfangen; denn Umweltnoxen nachzu-
weisen ist schwierig.53

Epidemiologische Untersuchungen sind eine Herausforderung, der sich Wissenschaft und Politik stellen müssen. Es geht darum, weitere Schäden von der Bevölkerung abzuwenden; denn erheb-
liche Opfer sind bereits gebracht, Schäden sind bereits eingetreten, bevor die verursachende Noxe erkennbar wird. Die Epidemiologie macht immer nur post festum deutlich, wo ein Gefahrenpo-
tential steckt. Leider ist es so: Ein Kind muss erst in den Brunnen gefallen sein, bevor die Gefahr gesehen wird!

Es ist unverantwortlich, wenn jemand mit vermeintlich wissenschaftlicher Autorität den Politikern einredet, epidemiologische Untersuchungen seien überflüssig; man würde sich damit nur Proble-
me einhandeln.

Die Hinweise für die Bedrohung durch Umweltnoxen sind erdrückend. Seit Jahren nimmt die Todesursache Krebs zu. „80 Prozent aller Tumore durch Umgebung und Lebensumstände ausge-
löst“54, eine Aussage vom diesjährigen Weltchirurgenkongress. Krebsforschern ist dies schon lange bekannt.31 Es kann auch nicht länger behauptet werden, Krebs sei der Tribut für unser Älterwer-
den. Krebs tritt heute bereits in Altersklassen auf, in denen er noch vor 20 Jahren äußerst selten war.

Die Mütter haben hier Arbeiten aus Universitätsfrauenkliniken zitiert.56 57 Daraus geht hervor. dass die Brustkrebshäufigkeit in den frühen 70er Jahren rapide anzusteigen begann; sie steigt noch immer; in Erlangen seither auf das Vierfache, in Tübingen auf das dreifache. Gleichzeitig ist das Erkrankungsmaximum um fast zehn Jahre vorgerückt. Was ist die Ursache dieser erschreckenden Statistik?

Für die Entwicklung des Brustkrebses vom Initialschaden bis zur Manifestation wird eine Latenz-
phase von mindestens 15 Jahre angenommen. Was also war 15 Jahre vor Beginn des rapiden Anstiegs? Welche Noxe hat Ende der 50er Jahre die Bevölkerung getroffen? Vieles ließe sich anführen, u.a. Einführung der Pille. Beginn der Chemisierung der Umwelt, Intensivierung der Röntgendiagnostik, schließlich auch der Bomben-Fallout aus den oberirdischen Atomtests. Der stieg 1958 sprunghaft an und erreichte 1964 einen Höhepunkt.58

Die weibliche Brust, besonders in der Phase des Wachstums, ist neben dem Knochenmark eines der strahlenempfindlichsten Organe. Bestehen hier etwa Zusammenhänge mit dem Bomben-Fallout? Keiner weiß es! Epidemiologische Studien liegen nicht vor. Wir haben viel zu lange geschlafen, getreu der Devise: nur ja keine Probleme schaffen! – so wie es Ihr Sachverständiger dem Herrn Ministerpräsidenten einreden will.

Sollte sich der Verdacht bestätigen, dass ein Zusammenhang besteht, dann könnte es bereits zu spät sein, um unsere Vorstellungen von der Gefährlichkeit inkorporierter Radioaktivität grund-
legend zu revidieren. Schließlich betrug die zusätzliche mittlere Strahlenbelastung durch den Bomben-Fallout in Mitteleuropa maximal 10 mrem pro Jahr, vorwiegend bedingt durch Stron-
tium- und Cäsium-Inkorporation mit einer hohen Knochenmarksbelastung.58 Die seit 1955 akkumulierte Fallout-Dosis wird auf ungefähr 100 mrem geschätzt;59 das ist soviel wie die mittlere zusätzliche Strahlenbelastung in Süddeutschland im ersten Jahr nach Tschernobyl.60 Während aber der Bomben-Fallout unser Land ziemlich gleichmäßig traf, hat der Tschernobyl-Washout ein kleinräumiges Muster von hoch- und geringbelasteten Regionen hinterlassen61, über die nach bewährter Methode gemittelt wird.60

Und in dieser Zeit des Umdenkens, in der immer deutlicher wird, dass wir uns viel zu lange in falscher Sicherheit gewiegt haben, sowohl bei der Radioaktivität als auch bei den chemischen Giften, in solch einer Situation wagt ein Sachverständiger hier zu sagen: „Bei meiner wissenschaft-
lichen Ehre versichere ich Ihnen, dass es im Umkreis von Wackersdorf nachweislich keinen Leu-
kämiefall geben wird, der durch radioaktive Emissionen verursacht ist.“ Kein Wunder, dass die Mütter empört waren, dass sie nicht länger bereit sind, derartige Beschwichtigungen hinzuneh-
men.

Werden solche gutachterlichen Äußerungen in das Genehmigungsverfahren einfließen? Werden Sie sich weiterhin solcher Sachverständiger bedienen? Ich denke, es ist an der Zeit, sich nach anderen umzuschauen. Sachverstand gibt es nicht nur im Unfeld von Institutionen, die „auf die forschungspolitische Zielsetzung der Bundesregierung ausgerichtet sind7 oder die der Kernin-
dustrie nahe stehen.

Zum Schluss noch eine Anekdote:

Am Pfingstsamstag 1986 hielt ich in der Katholischen Universität Eichstätt einen Vortrag zum Tschernobyl-Problem. Ich versuchte den Zuhörern die diffusen Ängste zu nehmen; denn Angst lähmt; konkrete Furcht macht kreativ. Hinterher sprach mich eine ältere Dame an: „Herr Pro-
fessor, ich bin dem HERRN ja so dankbar für dieses Tschernobyl. In seiner Liebe und Güte hat er uns ein Zeichen gegeben, damit wir so nicht weiter machen. – Ich sorge mich aber, ob auch der Herr Bischof das Zeichen sieht – und auch der Herr Ministerpräsident. Der soll ja ein gottes-
fürchtiger Mann sein; aber was der in den letzten Wochen so alles gesagt hat!?“

Sollte ich dieser Dame einmal wieder begegnen, dann möchte ich sagen: „Liebe gnädige Frau, der Herr Ministerpräsident könnte vielleicht zur Einsicht kommen, – wenn nur die wirklichen gehei-
men Hofräte nicht wären, die ihm so gefährliche Dummheiten einreden.“

Herr Vorsitzender,
ich bitte Sie dringend: Verlassen Sie sich nicht auf die Hofräte! Und sorgen Sie um Gottes Willen dafür, dass die „Büchse der Pandora“ verschlossen bleibt!

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Anmerkungen:

1 Überarbeitete und ergänzte Fassung des Vortragsmanuskripts. Kopieren und Verbreitung erwünscht; dabei beachten: Es gilt die Fassung vom 6. August 1988.

2 Vor dem Rednerpult, hinter der Absperrung – links DVK, rechts TÜV und GSF, auf der Bühne Unweltministerium – saßen ausschließlich Männer.

3 „Ein Liter Wasser enthielt zwanzigmal mehr ß-Aktivität, als ich in den Ausguss schütten darf.“ Diese Aussage bezieht sich auf den Vergleich mit 14C-Radioaktivität. Radioaktiver Kohlenstoff gilt aber (laut Dosisfaktoren in „Allgemeine Berech-
nungsgrundlagen“ BMI 1979) als wesentlich geringer radiotoxisch als Jod-131, Tellur-132 und andere Radionuklide des Tschernobyl-Fallouts, von denen die hohe ß-Aktivität im Regenwasser ausging.

4 Brief von Prof. Dr. Alexander Kaul, Institut für Strahlenhygiene des Bundesgesundheitsamtes auf dem Gelände der GSF in Neuherberg, vom 27. Januar 1987 an Dr. Franz Alt, Leiter des Fernsehmagazins Report Baden-Baden: „Es wäre fair und der Wahrheit dienlich, wenn Sie dem Bürger eine Chance gäben, sich auch von ‚wirklichen’ Experten informieren zu lassen!“

5 Der Spiegel, Nr. 46/1986, Seite 281 – 282, Bericht über das Anhörungsverfahren zum Strahlenschutzvorsorgegesetz, überschrieben mit „Strahlenschutz: Hastiges Machen: … übrig blieb … die weitgehend einige ,Bruderschaft der Fachleute’, wie einer der amtlich bestellten Strahlenschützer verräterisch bekannte …“

6 Wenig ärztliches Verständnis ist auch in den Äußerungen anlässlich einer Veranstaltung des Wirtschaftsbeirates der Union zu erkennen, über die in der Süddeutschen Zeitung am 16. Mai 1980 berichtet wurde: „Für ‚weit übertrieben’ hält … Professor Klaus-Rüdiger Trott … die Maßnahmen, die nach dem sowjetischen Reaktorunfall in der Bundesrepublik ergriffen worden sind.“ Er „räumte zwar ein, dass wir über einen längeren Zeitraum Cäsium und Strontium über die Nahrungsmittel zu uns nehmen werden, meinte aber weiter, das zusätzliche Strahlenrisiko sei ‚extrem klein’. Auf Fragen, wie sich schwan-
gere Frauen jetzt verhalten sollten, erklärte der Strahlenbiologe, „sie sollten ein ‚möglichst normales Leben führen’. Sie könnten Gemüse aus dem Garten essen und ‚Milch trinken, soviel sie wollen’“. Man beachte: Das war zwei Wochen nach Durchzug der Wolke aus Tschernobyl! Damals wurden in südbayerischer Milch noch Spitzenwerte von 2.000 Bq/l gefun-
den; ein Liter Milch mit zulässiger Jod-131-Kontamination (500 Bq/l) gab Schilddrüsenbelastungen von 25 mrem beim Erwachsenen und 210 mrem beim Kind (laut Dosisfaktoren in „Allgemeine Berechnungsgrundlagen“ BMI 1979). Dabei schreibt die Strahlenschutzverordnung von 1976 vor, dass auf keinen Fall die Schilddrüse mit mehr als 90 mrem pro Jahr belastet werden darf. Dieser Wert wäre beim Erwachsenen mit 4 Litern Milch, beim Kleinkind bereits mit einen halben Liter überschritten worden! Selbst wenn die Strahlenschutzverordnung in den Augen dieses Experten „katastrophaler Unsinn“ sein mag, als Arzt hätte er zur Vorsicht mahnen müssen. Die Empfehlung, Schwangere könnten „Milch trinken, soviel sie wollen“, ist wahrlich kein Zeugnis für besonderes Verantwortungsbewusstsein; sie diskreditiert ihn als Sach-
verständigen im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren.

7 Aus dem Geschäftsbericht 1984 der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung, München-Neuherberg: „Die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten der GSF sind auf die forschungspolitische Zielsetzung der Bundesregierung ausgerichtet mit den Hauptpunkten Umwelt und Gesundheit.“

8 Professor Sir Richard Southwood, FRS, Chairman, National Radiological Protection Board (NRPB), Chilton, UK in: „Radiation and Health: The Biological Effects of Low-Level Exposure to Ionizing Radiation“, International Conference held at Hammersmith Hospital, London, November 1986, edited by Robin Russell Jones and Richard Southwood, John Wiley, Chichester, 1987, page 277: „Personally I would agree with those who suggest that if these excesses, these clusters, are to have a causative relationship with ionizing radiation then either our knowledge of the actual releases is out by a very large factor – or there is something about the way particular radionuclides behave that is outside our present understanding.“

9 International Commission for Radiation Protection, 1965, Publication No. 9, Pergamon Press, Oxford, 1966.

10 Zur Geschichte der verschiedenen Krebsentstehungstheorien und zum Konzept einer einheitlichen Krebstheorie siehe: Professor Dr. Harald zur Hausen (1988): „Mechanismen der Krebsentstehung: Ein Erkenntnisprozess im Wandel“ in: Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Kultur, 43. Jahrgang, Heft 5, Seiten 597 – 607. – Eine allgemein-
verständliche Darstellung der Krebstheorie, ausgehend von Mutationen der DNS als Primärschaden, findet man in: Readings from Scientific American: „Cancer Biology“ Freeman, New York, 1985, ed. Errol C. Friedberg, insbesondere
die Kapitel von Cairns, Howard-Flanders, Devoret, Temin, Bishop, Weinberg und Hunter.

11 D. F. R. Griffiths, S. H. Davies, D. Williams, G. T. Williams, E. D. Williams (1988): „Demonstration of somatic mutation and colonic crypt clonality by X-linked enzyme histochemistry”, Nature 333: 461 – 463. – D. J. Winton, M. A. Blount , A. J. Ponder (1988) „A clonal marker induced by mutation in mouse intestinal epithelium“, Nature 333: 463 – 466.

12 Ch. Waldren, L. Correll, M. A. Sognier and Th. T. Puck (1986): „Measurement of Low Levels of X-Ray Mutagenesis in Relation to Human Disease“, Proceedings of the National Academy of Sciences, USA, Vol. 83, 4839 – 4843. – In Kulturen von Säugetierzellen wurde nachgewiesen, dass die Mutationsrate aufgrund von Strahlenbelastung bis in einen relativ niedrigen Dosisbereich linear-proportional zur Dosis ist, dass aber die Zahl der Zellen mit Letalmutationen im höheren Dosisbereich unverhältnismäßig stark ansteigt (cell killing effect). Dadurch bedingt bleiben im niedrigen Dosisbereich relativ mehr mutierte Zellen lebensfähig, die – übertragen auf die Bedingungen im menschlichen Körper – später zu Krebszellen mutiert werden können, als im Dosisbereich. Diese und nachfolgende zellbiologische Studien haben das be-
stätigt, was viele Strahlenbiologen schon lange vermuteten, nämlich dass geringe Strahlenbelastungen relativ gefährlicher sind als hohe. „The new data demonstrate that the true mutagenesis efficiency at the low doses of ionizing radiation that approximate human exposures is more than 200 times greater than those obtained with conventional methods.“

13 I. M. Moriyama, H. Kato (1973): „Mortality experience of A-bomb survivors 1950 – 72”, BCC-Technical Report 15 – 73.

14 Carl J. Johnson (1984): „Cancer Incidence in an Area of Radioactive Fallout Downwind from the Nevada Test Site“, Journal of the American Medical Association, JAMA, Vol. 251, 230 – 236. – Bei Mormonen in Süd-Utah, 200 bis 300 km entfernt vom Atomtest-Gebiet, wurde eine Erhöhung der Krebshäufigkeit um 61 Prozent gefunden (Vergleich: gesamte Mormonen-Bevölkerung des Staates Utah). Betroffen waren Organe, die seit den Erfahrungen von Hiroshima/Nagasaki als besonders strahlenempfindlich gelten. Die Leukämie-Rate war bereits nach 7 Jahren auf das 5-fache angestiegen. Nach 20 Jahren war die Brustkrebs-Rate verdoppelt; Hautkrebs war 3-fach, Schilddrüsenkrebs 8-fach und Knochenkrebs 11-fach vermehrt.

15 A. M. Stewart, G. W. Kneale (1970): „Radiation dose effects in relation to obstretic X-rays and childhood cancers“, Lancet ii, 1185 – 1188.

16 E. L. Diamond, H. Schmerler, A. M. Lilienfeld (1973): „The relationship of intra-uterine radiation to subsequent mortality and development of leukemia in children“, Amer J. Epidemiology 97: 283 – 313.

17 International Commission for Radiation Protection, Publication No. 26, Pergamon Press, Oxford, 1977. – Zur Ab-
schätzung des Strahlenrisikos wurde ein Risikofaktor von 100 Krebstoten pro 1 Million Personen, bestrahlt mit je einem rem, empfohlen.

18 D. L. Preston, D. A. Pierce (1987): „The Effect of Changes in Dosimetry on Cancer Mortality in the Atomic Bomb Sur-
vivors“ Radiation Effects Research Foundation, Hiroshima, RERF TR 9 – 87. – Die Fortschreibung der Krebsstatistik bei den Überlebenden in Hiroshima/Nagasaki zusammen mit der Dosisrevision und einer neuen Berechnungsweise der Strahlenbelastung ergab Risikofaktoren, die bis zu 17-fach über den bisher offiziell angeführten Faktoren (ICRP-26) liegen. Bei linearer Extrapolation und je nach Bewertung der Neutronenstrahlen ergaben sich Risikofaktoren für Ganzkörperbe-
lastungen zwischen 800 und 1.200, für Organbelastungen sogar zwischen 1.500 und 1.700 Tote pro Million Personen-rem.

19 John W. Gofman (1988): „Cancer-Risk Among A-Bomb Survivors in Both the Old and New Dosimetries“ unpublished manuscript. – Professor Gofman zeigt anhand des Datenmaterials in RERF TR 9 – 97 (Fußnote 18) und der Tendenzen
in den Erhebungen des Hiroshima-Instituts seit 1978, dass die Dosis-Risiko-Beziehung überlinear ist (mit relativ mehr Krebstoten im Bereich niedriger Dosen). Der Risikofaktor ist keine Konstante, sondern eine Variable, die mit sinkender Strahlenbelastung einen größeren Wert annimmt. Bei einer Belastung mit 1 rem soll der Risikofaktor angenähert 4.000 Tote pro Million Personen-rem betragen. Bei Hochrechnung auf die noch zu erwartenden Krebsfälle könnte der Wert sogar auf 12.000 Tote pro Million Personen-rem ansteigen.

20 Edward P. Radford (1987): „Recent Evidence of Radiation-induced Cancer in the Japanese Atomic Bomb Survivors“ In: „Radiation and Health: The Biological Effects of Low-Level Exposure to Ionicing Radiation” (Fußnote 8), p. 87 – 96. – Die Strahlendosen, die für eine Verdopplung der spontanen Krebsrate erforderlich sind, nehmen mit steigender Strahlenbe-
lastung zu (bei 3 rem: doubling dose 92 rem; bei 16 rem: doubling dose 175 rem; bei 94 rem: doubling dose 315 rem). Daraus lässt sich ebenfalls eine überlineare Dosis-Risiko-Beziehung ableiten mit einem Risikofaktor von 3.000 Krebstoten pro Million Personen-rem im Bereich vom 1 rem. Radford selbst legt sich aber nicht fest, indem er schreibt „the lifetime absolute excess risk is at least 1 excess cancer case per 1000 persons exposed per rem, for all ages, and substantially higher for irradiated children“. Das heißt: Das Risiko ist mindestens 10-fach größer als bisher offiziell angenommen wird.

21 W. Jacobi (1987): „Types and Risks of Radiation Effects“ Vortrag auf der „Ständigen Konferenz für Gesundheit und Sicherheit im Atomzeitalter“, 5./7. Oktober 1987 in Luxemburg, veranstaltet von der EG-Kommission. – Bei diesem Vortrag wurde m.W. erstmals von einem Mitglied der Internationalen Strahlenschutzkommission in der Öffentlichkeit angedeutet, was auf der ICRP-Tagung im September 1987 in Como hinter verschlossenen Türen erörtert worden ist: Aufgrund der Veröffentlichung aus Hiroshima, RERF TR-987 (Fußnote 18), müsse man eine Anhebung des Risikofaktors von 100 auf 500 Krebstote (für Leukämie von 20 auf 50) pro 1 Million Personen-rem empfehlen. (In der offiziellen Verlautbarung war nur von einer Anhebung um den Faktor 2 die Rede, die sich allein auf die Dosisrevision bezieht, ohne die Fortschreibung der Hiroshima-Statistik zu berücksichtigen.)

22 A.M. Stewart, G. W. Kneale (1988): „A-bomb survivors as a source of cancer risk estimates: confirmation of suspected bias”, Vortrag auf der 14. L. H. Gray Conference: „Low Dose Radiation biological bases of risk assesment“.

23 G. Kneale, T. Mancuso, A. M. Stewart in: „Biological Effects of Low-level Radiation“ IAEA, Wien 1983, Seite 363 – 372 „Job Related Mortality Risks of Hanford Workers and their Relation to Cancer Effects of Measured Doses of External Radiation“.– Die mittlere Dosis einer äußeren Strahlenbelastung, die zur Verdopplung der „spontanen“ Krebsrate führte, wurde auf 34 rad geschätzt, was einem Risikofaktor von 7.000 Toten pro 1 Million Personen-rem entsprechen könnte. Da
es sich bei den Atomarbeitern um sorgfältig ausgewählte, gesunde männliche Erwachsene handelte, muss angenommen werden, dass für Kinder (Leukämie), für Frauen (Brustkrebs), für Kranke (geschwächtes Immunsystem) und für strahlen-
sensible Menschen (genetisch bedingte Schwäche der Reparatursysteme) die Verdopplungsdosis geringer bzw. der Risikofaktor höher ist. Es wird oft versucht, die Schlussfolgerungen aus den Hanford-Analysen mit einem Plausibilitäts-
argument zu widerlegen: Träfen die Risikofaktoren von Kneale-Manusco-Stewart zu, dann müssten mindestens 60 Prozent der Menschen allein aufgrund der natürlichen Strahlung an Krebs sterben, (u.a. Dr. Paretzke, GSF, am 4. August 1988 in Neunburg). Diese Behauptung ist unverständlich und rechnerisch nicht, nachvollziehbar.
Zur genetisch bedingten Schwäche der Reparatursysteme siehe u.a.: H. C. Paterson, M. V. Middlestadt, M. Weinfeld, R. Mirzayans, N. E. Gentner (1985): „Human Cancer-Prone Disorders, Abnormal Carcinogen Response and Defective DNA Metabolism” in: „Radiation Carcinogenesis and DNA Alterations“, Plenum, 471 – 498.
„Although as many as 90 % of all human malignant neoplasms are said to have environmental causes, by far the most potent risk factor is the genetic component. There exists a repertoire of loci in the human genome, any one of which, in its mutated form, can confer a marked increase in cancer risk in response to an environmental factor.“
Ein Beispiel ist der Defekt von Reparaturenzymen bei Ataxia teleangiectasis (AT). Diese autosomale rezessive Erbkrankheit hat eine Häufigkeit von 1 : 40.000; demnach müssen etwa 1 Prozent der Bevölkerung heterozygote Träger des Defekts sein. Sie haben eine erhöhte Strahlensensibilität und die Neigung, frühzeitig an Krebs zu erkranken. Es wird vermutet, dass 5 bis 10 Prozent aller Krebsfälle, die vor dem Alter von 45 Jahren auftreten, AT-Heterozygote sind.
A. M. R. Taylor, D. G. Harnden, C. F. Arlett , S. A. Harcourt , A. R. Lehmann, S. Stevens, B. A. Bridges (1975): „Ataxia-teleangiectasia: a human mutation with abnormal radiation sensitivity“, Nature 258: 427.
M. Swift, L. Sholman, M. Perry, C. Chase (1976): „Malignant neoplasms in the families of patients with ataxia-teleangiectasia“ Cancer Research 36: 209 – 215.
M. C. Paterson, P. B. Smith , P. H. M. Lohman, A. K. Andersen, L. Fishman (1975): „Defective excision repair of γ-ray-damaged DNA in human (ataxiateleangiectasia) fibroblasts“, Nature 260: 444.
M. C. Paterson, S. J. MacFarlane, N. E. Gentner, B. P. Smith (1985): „Cellular hypersensitivity to chronic γ-radiation in cultured fibroblasts from ataxis-teleangiectasia heterozygotes“ in: „Ataxia-teleangiectasia: Genetics, Neuropathology and Immunology of a Degenerative Disease of Childhood“, Alan R. Liss Inc., p. 73 – 87.

24 Professor Dr. Wolfgang Jacobi, Institut für Strahlenschutz der GSF, am 26. April 1987 im Bayerischen Fernsehen „Die Sprechstunde: ein Jahr nach Tschernobyl“ auf die Frage, was die Folgen des Reaktor-Unfalls sein könnten: „Wir gehen davon aus, dass hier im Bereich München eine zusätzliche Krebshäufigkeit von etwa 50 bis 300 Fällen möglich wäre.“ Reporter: „Also, ich darf noch einmal wiederholen: 50 bis 300 Leute sterben zusätzlich mehr an Krebs. Jacobi: „Ja, ja, und sterben dadurch weniger an anderen Ursachen, – das muss man auch dazu sagen. Denn sterben müssen wir alle.“ Das sagt der maßgebliche Strahlenschützer der Bundesrepublik und Erfinder des effektiven Äquivalentdosis-Modells der ICRP! Bei den Tschernobyl-Folgen geht es wahrhaftig nicht darum, dass wir alle sterben müssen, sondern wann und wie die Opfer sterben. Unter den 300 zusätzlichen Krebstoten, die er berechnet hat, werden die meisten in einem Alter sein, in dem bisher der Krebstod selten ist. Es wird vorwiegend die treffen, die 1985 kleine Kinder waren, und zwar dann, wenn sie ins Berufs-
leben treten und Familien gründen.

25 Dr. Paretzke (laut Geschäftsbericht 1986 der GSF: „Institut für Strahlenschutz, Arbeitsgruppe: Risikoanalyse, Leiter: Dipl. Phys. H. Paretzke“) am 4. August 1988 bei der Anhörung in Neunburg: „Wir haben selbstverständlich nach Tschernobyl sofort mit den neuen Zahlen gerechnet.“

26 H. Taut (1988): Neue Ergebnisse zur Linearität der Dosis/Wirkung-Beziehung strahleninduzierter Mutationen: Untersuchungen an menschlichen Zellen im Niedrigdosisbereich“ Naturwissenschaften 75: 375 – 379.

27 Frankfurter Rundschau, 8. Januar 1988: „Radioaktivität dreimal gefährlicher als bisher angenommen: Gesundheitliche Schäden schon bei geringer Strahlenbelastung/Deutscher Experte bestätigt ausländische Studien“: „Der Experte für Radiologie der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung (GSF) in München, Herwig Paretzke, sagte … eine neue Untersuchung belege diese Erkenntnis. Danach müsse mit 300 bis 500 Krebsfällen Pro eine Million Bundesbürger mehr gerechnet werden, wenn die Strahlendosis über die gesamte Lebenszeit eines Menschen um ein Rem ansteige … Paretzke bezeichnete … die Studie als ‚absolut seriös’ … ‚Im Prinzip bestätige ich die Aussage’ … Eigene Untersuchungen der GSF führten zu ähnlichen Schlussfolgerungen.“ Diese späte Einsicht muss vor dem Hintergrund gewürdigt werden, dass die Experten der GSF jahrelang, insbesondere nach dem Tschernobyl-Unfall, als Verkünder und Verteidiger der reinen Wahrheit auftraten. Analysen von Wissenschaftlern, die aus den Hiroshima-Statistiken ein größeres Strahlenrisiko ableiteten als die ICRP, wurden entweder nicht zur Kenntnis genommen oder zurückgewiesen.
Siehe u.a.: Professor Dr. Inge Schmitz-Feuerhake, Universität Bremen, in: „Das Strahlenrisiko: Beantwortung eines Fragenkatalogs für die Enquete-Kommission ‚Zukünftige Kernenergiepolitik’ des Deutschen Bundestages“. Bereits 1980 folgerte die Wissenschaftlerin aufgrund der zu jener Zeit bekannten Hiroshima-Statistiken, dass dis ICRP-Risikofaktoren „mindestens um den Faktor 3 zu klein“ sind.

28 Protokoll der 11. Sitzung der Fachkommission IV „Strahlenschutz und Sicherheit“ der Deutschen Atomkommission am 13. Oktober 1969. – Aus dem Protokoll geht hervor, dass Ausgangspunkt für die Festlegung eines Grenzwertes die „bei noch zumutbarem Aufwand unvermeidbare“ Strahlenbelastung durch kerntechnische Anlagen war, die offensichtlich zuvor mit 30 mrem pro Jahr veranschlagt worden war. Ein Grenzwert von 30 mrem/a würde den „Bedürfnissen der Kerntechnik“ entsprechen. Erst nachträglich scheint dieser Wert medizinisch-biologisch begründet worden zu sein, indem eine Ableitung von der genetisch signifikanten Dosis konstruiert wurde, wobei man sich auf die ICRP-Empfehlung 1965 berief.

29 Zitiert nach Carl J. Johnson (1987), JAMA, Vol. 258, No. 18, p. 2528: „The International commission on Radiological protection guidelines are much less protective than the Evironmental protection Agency regulations, which limit exposure of the public to no more than 0.04 mSv/y (4 mrem/y) to any organ or the total body of ‘beta particle and photon radio-
activity from man-made radionuclides’ and, ‘if two or more radionuclides are present, the sum of their annual dose equi-
valent to the total body or to any organ shall not exceed 4 mrem/year’.” – Der Grenzwert von 4 mrem pro Jahr bezieht sich auf die Belastung durch radioaktiv verseuchtes Trinkwasser und ist festgelegt in „National Interim Primary Drinking Water Regulations“, publication tPA-570/9-76-003, Office of Water Supply, Environmental Protection Agency, 1977, p. 20402.

30 Als Beispiel dafür, was die US-Regierung ihrer Bevölkerung im Interesse der atomaren Rüstung zumutet, seien die Geschehnisse in und um Rocky Flats erwähnt, einer Atomwaffenfabrik in der Nähe von Denver, Colorado: Siehe u.a. Carl J. Johnson: „Cancer Incidence Patterns in the Denver Metropolitan Area in Relation to the Rocky Flats Plant“, American J. Epidemiology 126: 153 – 155; (1987) „Mortality Among plutonium and Other Radiation Workers at a Plutonium Weapons Facility“, American J. Epidemiology 127: 1321 – 1322 (1988).

31 Antwort von Dr. Hawickhorst, Antragsteller, bei der Anhörung in Neunburg an 2. August 1988 auf den Einwand, die DWK habe im Sicherheitsbericht nicht die Strahlenbelastung durch inkorporiertes Krypton-85 berücksichtigt: Die Allgemeine Berechnungsgrundlage zur Strahlenschutzverordnung sehe nur γ-Submission des Ganzkörpers und ß-
Submission der Haut vor. Wenn die DWK sich daran halte. käme sie ihrer Verantwortung nach. Mehr könne man von
ihr nicht verlangen.

32 Prof. Trott, früheres Mitglied der Strahlenschutzkommission, bei der Anhörung in Neunburg am 21. Juli 1988: „Wir haben diese makabre Zahlenspielerei mit den Krebstoten nicht mitgemacht, sondern haben uns an der natürlichen Strahlenbelastung orientiert. Das ist eine elegante Lösung.“

33 The National Academy of Science, Washington, DC, USA: Report of the Advisory Committee on the Biological Effects of Ionizing Radiation, 1972 (BEIR I): „The Effects on Populations of Exposure to Low Levels of Ionizing Radiation“.

34 V. E. Archer (1978): „Geomagnetism, Cancer, Weather and Cosmic Radiation“ Health Physics 34: 237 – 247. – Der Einfluss der kosmischen Strahlung auf die Krebsrate in verschiedenen Regionen der USA wurde untersucht, wobei für die einzelnen Krebsarten verschieden hohe Korrelationen gefunden wurden. Archer schließt aus seinen Beobachtungen, dass außerhalb der industriellen Ballungsgebiete bis zu 50 Prozent der Krebserkrankungen durch die natürliche Strahlenbe-
lastung bedingt sein können.

35 Y. Ujeno (1978): „Carcinogenic Hazard from Natural Background Radiation in Japan“, Journal Radiation Research 19: 205 – 212. – Terrestrische Strahlung und Krebsmortalität wurden miteinander in Beziehung gebracht. Für die in Japan häufigste Krebsart, Magenkrebs des Mannes (in Europa: Brustkrebs!), fand Ujeno eine hohe Korrelation im Bereich von 40 bis 110 mrem, dagegen nicht bei den meisten der anderen Krebsarten.

36 G. W. Kneale and A. M. Stewart (1987): „Childhood Cancers in the UK and their Relation to Background Radiation“
in: „Radiation and Health: The Biological Effects of Low-Level Exposure to Ionizing Radiation“, ed. Russell Jones and Southwood, Wiley, p. 203 – 220. – Diese sorgfältige epidemiologische Studie belegt, dass die terrestrische γ-Strahlung wahrscheinlich die wichtigste Ursache für kindliche Krebserkrankungen ist. „We would expect fetal exposures to gamma-radiation to account for at least three-quarters of all juvenile neoplasms.“

37 „Umwelt und Energie“, Band II: „Fragen und Antworten zur Energie- und Umweltpolitik in Bayern“, Staatsinstitut
für Schulpädagogik und Bildungsforschung, März 1987, Protokoll über das energiepolitische Gespräch des Bayerischen Ministerpräsidenten mit Vertretern der Energiewirtschaft und Wissenschaftlern am 10. Juli 1985 in der Bayerischen Staatskanzlei, Seite 312 – 313: MPr. Dr.h.c. Strauß: „Würden Sie mir zustimmen, dass es genauso unsinnig ist, die natürliche Radioaktivität als ungefährlich und die aus der Technik kommende Radioaktivität als gefährlich zu kenn-
zeichnen? Beide werden nach denselben internationalen Standards gemessen.“ Prof. Trott: „Ich sehe keinerlei wissen-
schaftliche Begründung, irgendwelche Unterschiede in der Wirkung von natürlicher und künstlicher Radioaktivität anzunehmen. Das entbehrt jeder wissenschaftlichen Begründung.“

38 Bei den oft angeführten „Schwankungen der natürlichen Radioaktivität“ handelt es sich nicht um zeitliche Schwankun-
gen, denen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ausgesetzt ist, sondern um regionale Schwankungen. Für die jeweilige Bevölkerung ist die natürliche Strahlenexposition konstant, sofern nicht eine außergewöhnliche Lebensweise vorliegt (z.B. ständiger Wechsel zwischen Bremen, 95 mrem/a, und Kerala in Indien, 3.000 mrem/a!). Auf diesen konstanten Betrag wird bei Konfrontation mit künstlicher Radioaktivität ein zusätzlicher Betrag gesetzt. Die terrestrische Strahlung ist vor-
wiegend bedingt durch die γ-Strahlung des Kalium-40; die regionalen Schwankungen hängen ab vom Kaliumgehalt der Bodenmineralien (z.B. Kalkstein 0,1 Prozent, Sandstein 1 Prozent, Granit 3,5 Prozent). Die Aufnahme von Kalium ist jedoch weitgehend unabhängig vom Kaliumgehalt der Böden und der darauf erzeugten Nahrungsmittel. Die Strahlenbelastung durch inkorporiertes Kalium-40, das den quantitativ größten Anteil an der inneren Strahlung ausmacht und vermutlich am folgenreichsten ist, unterliegt folglich kaum zeitlichen und regionalen Schwankungen.

39 „Strahlenschutz – Radioaktivität und Gesundheit“, herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium für Landes-
entwicklung und Umweltfragen, 3. Auflage, September 1985. – Der Mittelwert der natürlichen Radioaktivität in der Bundesrepublik wird mit 125 mrem/Jahr angegeben; der Bereich erstreckt sich von 95 (Bremen) bis 207 mrem/Jahr (Landkreis Wunsiedel). 70 Prozent werden durch äußere Strahlung (kosmisch und terrestrisch) verursacht; die Belastung durch innere Bestrahlung (inkorporierte Stoffe, vorwiegend Kalium-40) ist weitgehend konstant und beträgt 20 mrem/
Jahr. Eine zusätzliche innere Bestrahlung erfahren Knochen und Lunge, (Knochen: plus 60 mrem/Jahr infolge Ablagerung von Radium, Thorium und Blei; Lungenalveolen und Bronchialepithel: plus 650 bis 1.700 mrem/Jahr: bedingt durch Inhalation von Radon und dessen Folgeprodukte, je nach Region, Baumaterialien und Lebensweise). Neuerdings wird versucht, das Modell der effektiven Äquivalentdosis durchzusetzen, bei dem die Organdosen durch die relative Häufigkeit eines Krebstodes gewichtet und zu einer Ganzkörperdosis summiert werden. Die Strahlenbelastung kann dann als eine einzige Zahl angegeben werden, ohne dass – je nach Art der inkorporierten Radioaktivität zwischen unterschiedlichen Organbelastungen differenziert werden muss. Bei diesem rechnerischen Verfahren zur „Vereinfachung der Buchhaltung“ bekommt die Radonbelastung ein so großes Gewicht, dass das Verhältnis innerer zu äußerer natürlicher Strahlung sich umkehrt (vorher 1 : 2, jetzt 2 : l). Strahlenbelastungen sind jedoch so komplex, dass sie sich nicht durch eine einzige Zahl beschreiben und bewerten lassen. An der Erfindung der effektiven Äquivalentdosis wird deutlich, was die offiziellen Strahlenschützer bewegt: mehr die Frage, wie die Verwaltung sich vereinfachen lässt, weniger der Versuch, die Realität zu erfassen. Bürokratie statt Wissenschaft!

40 Aus Fußnote 37, Seite 312.

41 Die Strahlenbelastung durch inkorporierte Radioaktivität hängt ab u.a. von der Bestrahlungsdauer; die wiederum ist bedingt durch die biologische und die physikalische Halbwertszeit. Die Aussage, die Halbwertszeit habe keinen Einfluss auf die Gefährlichkeit, ist somit schlichtweg falsch. Aus dem Text geht nicht hervor. ob der Experte möglicherweise die Massen der Radionuklide gemeint hat. Selbstverständlich ist die Aktivität von 1 g Jod-131 sehr viel größer als die von 1 g Jod-129 (umgekehrt proportional den Halbwertszeiten);’nur käme niemand auf die Idee, die Gefährlichkeit kurz- und langlebiger Radionuklide auf der auf der Grundlage ihrer Massen (g-Atom) zu vergleichen, anstatt sie – wie üblich – aufgrund ihrer Aktivität (Becquerel) zu messen und zu bewerten. Mit unklaren Formulierungen und Teilwahrheiten lässt sich trefflich der wahre Sachverhalt verschleiern! Das oft von Politikern vorgebrachte Argument, die langlebigen WAA-Radionuklide seien ungefährlicher als die aus Tschernobyl und genauso ungefährlich wie die natürliche Radioaktivität, scheint hier seinen Ursprung zu haben.

42 Aus Fußnote 37, Seite 236.

43 Prof. Dr. Klaus-Rüdiger Trott (1987) „Wirkung ionisierender Strahlen“, in: „Entsorgung von Kernkraftwerken“ Symposiumsbericht, herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen, Econ-Verlag, Zitat auf Seite 95.

44 Aus Fußnote 37, Seite 318 – 319.

45 E. Roman, V. Beral, L. Carpenter, A. Watson, C. Barton, H. Ryder, L. Aston: „Childhood Leukaemia in the West Berkshire and Barsingstoke and North Hampshire District Health Authorities in Relation to Nuclear Establishments in the Vicinity“, British Medical Journal, Vol. 294, 17 – 22 (1987). – Einen guten Überblick über diese sowie über weitere Arbeiten zum gleichen Thema im British Medical Journal gibt der Artikel von Dr. med. Renate Jäckle „Atomanlagen und Leukämie: in Großbritannien werden mögliche Zusammenhänge offen diskutiert“, veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung vom 11. Mai 1987.

46 Materialien 24, herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen, Sep-
tember 1984, Th. A. Angerpointner und E. Mrozik: „Kindersterblichkeit, kindliche Tumor- und Fehlbildungshäufigkeit in Bayern unter besonderer Berücksichtigung kerntechnischer Anlagen“. – Es handelt sich um eine Pilotstudie, die keine Beweise für oder gegen eine Beteiligung kerntechnischer Anlagen an Gesundheitsschäden liefern kann. Das „Nicht-Finden“ von Zusammenhängen wurde jedoch als „Nicht-Existieren“ interpretiert, während deutliche räumliche und zeitliche Koin-
zidenzen von gehäuften Fehlbildungen mit dem AKW Gundremmingen übersehen wurden. Was lässt sich ohne Mühe, falls man beobachten kann, aus der Studie herauslesen? Erstens, in Südbayern war in einem west-östlichen Streifen (ungefähr der Windfahne mit Fernverfrachtung des AKW Gundremmingen entsprechend) die Fehlbildungshäufigkeit großräumig betrachtet doppelt so hoch wie im übrigen Bayern. Zweitens, die Fehlbildungshäufigkeit, bezogen auf die Zahl der Lebend-
geborenen, stieg in ganz Bayern bis 1975 an und fiel nach 1977 rapide ab. (Als Folge eines Unfalls im November 1975 war Block A des AKW Gundremmingen lange außer Betrieb; er wurde im Januar 1977 endgültig abgeschaltet). Auf diese Phänomene hat erstmals Peter Kafka in der Süddeutschen Zeitung vom 23. Mai 1985 hingewiesen: „Missbildungen durch kerntechnische Anlagen?“ Anstatt seinen Hinweisen nachzugehen und mit den vorgeschlagenen Analysen (Zeitverlauf in den Regionen mit gehäufter Fehlbildungsrate?) einen auf Gundremmingen gefallenen Verdacht schleunigst auszuräumen oder zu erhärten, wurde versucht, den Verdacht „wegzudiskutieren“ (siehe Fußnote 44). Nach den bislang vermuteten Dosis/Risiko-Beziehungen zwischen Strahlenbelastung und dem Auftreten von Fehlbildungen können die Emissionen von Gundremmingen schwerlich für die erhöhte Fehlbildungshäufigkeit in Südbayern verantwortlich gemacht werden. Was wissen wir aber über die Langzeitwirkungen der fernverfrachteten Radionuklide? Was ist bekannt über die Wirkungen zusätzlicher externer und inkorporierter Radioaktivität auf die pränatale Entwicklung beim Menschen? Was ist bekannt über Synergismen mit chemischen Noxen? Wenig, um nicht zu sagen: fast nichts! Dass bei schwangeren Mäusen eine Bestrahlung mit mindestens l rad erforderlich ist, um morphologisch erkennbare Entwicklungsstörungen zu erzeugen, sollte niemanden in Sicherheit wiegen. Und außerdem macht es stutzig, dass der Verdacht nach drei Jahren immer noch nicht widerlegt ist, obwohl das Datenmaterial dazu die Möglichkeit gäbe. Wird eines Tages der verantwortliche Minister schließlich eingestehen müssen: „Entweder ist unser Wissen von den tatsächlichen Emissionen falsch, oder da scheint etwas zu sein mit der Wirkung der Radioaktivität, das wir nicht verstehen“ (Fußnote 8)?
Zu morphologisch erkennbaren Entwicklungsstörungen in Tierexperimenten siehe u.a.:
C. Michel, H. Fritz-Niggl (1977): Radiation damage in mouse embryos exposed to 1 rad X-rays or negative pions“, Fortschr. Röntgenstr. 127,3: 276 – 280.
C. Michel, H. Fritz-Niggl (1978): Radiation-induced developmental anomalies in mammilian embryos by low doses and interaction with drugs, stress and genetic factors“ in: „Late biological effects of ionizing radiation“, IAEA, Wien.
C. Michel, M. Meier (1984): Strahleninduzierte Entwicklungsstörungen – ein Kommentar des BEIR-III-Berichtes von 1980“, Naturforschende Gesellschaft in Zürich, 129/2, Seite 105 – 123.
G. Konermann (1988): „Postnatal brain maturation damage induced by prenatal irradiation: modes of effect manifestation and dose response relations“, 14. L. H. Gray conference „Low Dose Radiation”, Oxford.

47 Leserbrief von Dr. Günther Grass, Pressesprecher des Bayerischen Staatsministeriums für Landesentwicklung und Umweltfragen, in der Süddeutschen Zeitung am 5. Mai 1985: „Das Maximum der Strahlenbelastung bei einer Kaminhöhe von 110 Metern liegt … bei einer Entfernung von einigen 100 Metern bis etwa 2 Kilometern. Dass auch noch weiter ent-
fernte Gebiete beeinflusst würden … ist beim Kernkraftwerk … auszuschließen.“ – Kommentar: Als Immissionsgebiet für das AKW Gundremmingen gilt nach Materialien 24 (Fußnote 46) nur der Landkreis Günzburg, in dessen äußerster Nordostecke das AKW liegt, dagegen nicht z.B. der 10 km weiter östlich beginnende Landkreis Augsburg. Für Günzburg wird eine Fehlgeburtenrate von 2,0 Prozent, für Augsburg/Land von 2,4 Prozent und für Augsburg-Stadt von 1,9 Prozent angegeben (gesamt Bayern 1968 – 1980: 1,5 plus/minus 0,2 Prozent). Das sonst vorhandene Stadt /Land-Gefälle ist bei Augsburg und München aufgehoben (1,9/2,4 Prozent für Augsburg Stadt/Land, 2,3/2,3 Prozent für München Stadt /Land, im Vergleich zu Rosenheim 2,3/1,6 Prozent, Fürth 1,8/0,5 Prozent, Nürnberg 1,3/0,9 Prozent, Erlangen 0,8/0,5 Prozent). – „Der Rückgang der Fehlbildungshäufigkeit wurde nicht erst … nach Abschaltung des Kernkraftwerkes … sondern bereits einige Jahre vorher beobachtet.“ In der Arbeit selbst heißt es: „Es zeigte sich eine rückläufige Tendenz in den 70er Jahren.“ – Kommentar: Dies trifft nur zu für die absoluten Zahlen der jährlichen Fehlbildungen, nicht für die relativen Zahlen, bezogen auf die Geburtenrate! Die unbedingt notwendige Normierung – eigentlich eine Selbstverständlichkeit – wurde jedoch in Materialien 24 nicht vorgenommen. Eine Aussage zum zeitlichen Verlauf der Fehlbildungshäufigkeit lässt sich folglich mit den Angaben der Autoren nicht machen; die Interpretation einer „rückläufigen Tendenz in den 70er Jahren“ ist falsch. Dieser Fehler ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Materialien 24 von Kinderärzten an einer Universitätsklinik verfasst wurden, denen der starke Rückgang der Geburtenrate in den 70er Jahren nicht entgangen sein sollte. Bezieht man korrekterweise die Fehlbildungen auf die Anzahl der Lebendgeborenen, so steigt während der Betriebszeit von Gundrem-
mingen die Häufigkeit ständig an; sie sinkt nach dem Abschalten innerhalb weniger Jahren auf die Hälfte. Diese zeitliche Koinzidenz – zunächst übersehen (?), dann geleugnet – ist zwar noch kein Beweis für Kausalität, wohl aber ein Hinweis, den man hätte ernstnehmen müssen statt ihn wegzudiskutieren. Allerdings scheint man im Umweltministerium zwei Jahre nach Aufdeckung der eindeutig falschen Interpretation immer noch nicht den Sachverhalt verstanden zu haben; denn in der Antwort des Herrn Staatsministers auf eine Landtagsanfrage am 24. Juli 1985 heißt es nach wie vor: Die „landesweite Entwicklung“ der „Fehlbildungsquote“ war „von einem Rückgang im Laufe der 70er Jahre gekennzeichnet“.

48 Frankfurter Rundschau, 10. Mai 1988: „Atomkraftwerk im Verruf: Bericht erhärtet Verdacht auf erhöhte Krebsgefahr“. „Ein regierungsamtlicher britischer Ausschuss hat in der Umgebung des schottischen Atomkraftwerks Dounreay eine ungewöhnliche hohe Zahl von Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen entdeckt und diese mit dem Atommeiler in Verbindung gebracht. Der Ausschuss bezeichnete es als ‚wahrscheinlich’, dass die erhöhte Krebsrate durch den Betrieb des Kraftwerks verursacht worden sei, und forderte weitere detaillierte Untersuchungen in dieser Frage.“

49 Matthias Demuth (1988): „Leukämiemorbidität bei Kindern und Jugendlichen in der Umgebung des Kernkraftwerkes Würgassen“ Internationales Symposium „Die Wirkung niedriger Strahlendosen auf den Menschen“, 26./27. Februar 1988, Universität Münster.

50 „30 Jahre Überwachung der Umweltradioaktivität in der Bundesrepublik“. Abbildung x zeigt, wie der Gehalt der Luft an Krypton-85 kontinuierlich ansteigt – von weniger als 0,2 Bq/cbm im Jahre 1960 auf nahezu 1 Bq/cbm im Mittel des Jahres 1985. Die Messwerte in 1976/77 streuen erheblich und haben Spitzenwerte bis 2 Bq/cbm (d.i. dreifach über das Jahresmit-
tel von 1975 – 78). Seit 1980 treten häufiger ähnlich hohe Spitzenwerte auf. Ein Gehalt von 1 – 2 Bq Krypton-85 pro cbm Luft ist an sich noch nicht gefährlich (wahrscheinlich oder hoffentlich!). Krypton-85 ist aber ein Indikator für die zuneh-
mende weiträumige radioaktive Verseuchung durch kerntechnische Anlagen, die seit 1960 um das Fünffache zugenommen hat. Wo wurde 1976/77 in Europa vermehrt Radioaktivität freigesetzt?

51 Jahresberichte „Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung“ des Bundesinnenministeriums (Zahlenwerte zitiert aus der Antwort des Staatssekretärs Stroetmann in der Bundestagssitzung an 28. Januar 1988:
Radioaktivität in Rotwild (Bq/kg CS-137)
1971: 54
1972: 41
1973: 24
1974: 8
1975: 10
1976: 33
1977: 4
1978: 35
1979: 9
1980: 13
1981: 86
1982: 10
1983: 49
1984: 3
1085: 125
Die fallende Tendenz in der radioaktiven Belastung von Wildbret seit Ende der oberirdischen Atomwaffenversuche wunde 1976 erstmals unterbrochen. Seither ist wieder eine steigende Tendenz zu verzeichnen (siehe Fußnote 50). Die Belastung von Schweine- und Rindfleisch, Milch und Geflügel wird für die Jahre 1974 – 77 mit 0,5 bis 2 Bq/kg bzw. Bq/l angegeben. Die deutlich höheren Werte bei Rotwild zeigen die besondere Empfindlichkeit des Öko-Systems Wald als Indikator für die radioaktive Verseuchung unserer Umwelt.

52 „Todesursachen der Gestorbenen, Fehlbildungen bei Geborenen“ Band 77 der Schriftenreihe des Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, Kohlhammer-Verlag 1980, Tabelle 10:
Geborene mit bei der Geburt erkennbaren Fehlbildungen, je 100.000 Geburten
1975: 267 (98 Prozent)
1976: 263 (96 Prozent)
1977: 295 (108 Prozent)
1978: 270 (99 Prozent)
(Prozente des Mittelwertes aus den Jahren 1975 – 1978)

53 Gesundheitsschäden durch Umweltnoxen nachzuweisen ist schwierig, denn …
Umweltnoxen wirken ein
– in kleinsten, oft kaum nachweisbaren Mengen,
– in langen Zeiträumen,
– auf große Räume, ohne scharfe Begrenzung,
– unregelmäßig hinsichtlich Menge, Zeit und Raum,
– zusammen mit einer Vielzahl von anderen Noxen aus anderen Quellen.
Umweltnoxen wirken
auf eine Population von unterschiedlich empfindlichen Individuen bedingt durch
– Alter, Geschlecht,
– Gesundheitszustand,
– Ernährungs- und Lebensumstände,
– genetisch verankerte Fähigkeit zum Widerstand (z.B. Radikalenvernichtung , Reparaturenzyme, Immunsystem).
Ihre Auswirkungen (Schäden) sind zu erkennen …
– erst nach langen Zeiträumen, oft erst nach Jahrzehnten,
– ohne Spezifität für die jeweilige Noxe,
– nur als Ansteigen der Häufigkeit von Erkrankungen, die auch ohne diese Noxe auftreten.
Schäden werden oft erst ausgelöst durch Wechselwirkung mit anderen Noxen.
Ein Nachweis …
– ist nur zu erbringen in großen Populationen,
– ist erschwert durch das Fehlen von Kontrollgruppen hinsichtlich Raum, Zeit und Dosis,
– liefert bestenfalls nur Hinweise für einen kausalen Zusammenhang, keine Beweise.
Ein kausaler Beweis im naturwissenschaftlichen Sinne ist nur erbracht, wenn neben zeitlichen und räumlichen Zusammen-
hängen auch die Dosis/Wirkungs-Beziehung nachgewiesen wurde. Dies ist aber nur in seltenen Fällen möglich! Dennoch: Nicht-Beweisen-Können heißt nicht, dass Kausalität nicht existiert! Der klassische Beweis der Monokausalität ist folglich in Umweltprozessen kaum zu erbringen. Deshalb haben es Verursacher in der Regel leicht, sich der Verantwortung zu entzie-
hen, und umgekehrt Geschädigte schwer, Ansprüche durchzusetzen. Vor Gericht gibt es keine „Waffengleichheit“ der beiden Seiten. Ein „Neues Denken“ in Gesetzgebung und Rechtsprechung tut not. Ein Umdenken scheint sich in Japan anzubahnen. Dort wurde bereits in einigen Umweltprozessen der „Kausalbeweis“ durch den „epidemiologischen Plausi-
bilitätsbeweis“ ersetzt (S. Tsuru , H. Weidener (1985) „Die Erfolge der japanischen Umweltpolitik“, Kiepenheuer + Witsch, Köln). Wenn im Umkreis eines Emittenten von potentiell gesundheitsschädlichen Stoffen bestimmte Krankheiten vermehrt auftreten, ist der epidemiologische Nachweis erbracht. Vor Gericht kommt es zu einer Umkehrung der Beweislast: Nicht der Geschädigte muss beweisen, dass er durch einen bestimmten Stoff aus einer bestimmten Quelle geschädigt wurde, sondern der Emittent muss beweisen, dass er nicht der Verursacher ist.

54 Bericht vom Weltchirurgenkongress im Madrid in der Süddeutschen Zeitung vom 11. Juli 1988: „Mehr Krebs-
erkrankungen durch Umwelteinfluss – 80 Prozent aller Tumore durch Umgebung und Lebensweise ausgelöst.“

55 „Judging from the epidemiology of cancer in man, it seems clear that almost all forms of cancer are caused, largely or entirely, by factors in our environment that vary from one place to another and from one generation to the next. Even without knowing what these factors are, we can deduce – in principle at least – that cancer should be a preventable disease.” R. Doll, zitiert nach John Cairns, 1978, „Cancer: Science and Society“.

56 E. M. Paterok (1986): „Brustkrebs: Lebensalter und Tumordurchmesser“ in: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 46: 898 – 901, sowie persönliche Mitteilung über Aktualisierung der Daten bis 1987. – Angegeben sind die Anzahl der Erstdiagno-
sen „Mammacarcinom“ pro Jahr (von 1953 bis 1983 bzw.1987 in der Universitätsfrauenklinik Erlangen) sowie eine Auf-
schlüsselung des Patientinnenalters und der Tumordurchmesserverteilung. Die Häufigkeit hatte bis 1973 eine leicht steigende Tendenz (1963 – 65: 40, 1970 – 73: 65 Diagnosen pro Jahr ), um sich dann innerhalb von 2 Jahren zu ver-
doppeln. Bis 1987 ist sie auf das Vierfache angestiegen (270 pro Jahr) mit weiterhin steigender Tendenz. 1963 war die Hälfte der Patientinnen jünger als 59, 1983 jünger als 52 Jahre. Die Tumordurchmesser blieben unverändert, was die Hypothese, eine verbesserte Diagnostik sei für das „scheinbare“ Vorrücken des Erkrankungsalters verantwortlich, widerlegte.

57 A. E. Schindler, E. M. Donath (1986): „Mamma- und Genitalkarzinome: Trends von 1957 – 1983“ gynäkologische praxis 10: 409 – 414. – Die Arbeiten Fußnote 56 und 57 sind Auflistungen aus den jeweiligen Kliniken ohne weitergehende Analysen, also keine epidemiologischen Studien. Zum Beispiel wurde die Altersverteilung nicht an die sich verändernde Altersstruktur der Bevölkerung angepasst. Hinsichtlich möglicher Störgrößen wird lediglich erwähnt, dass Einzugsgebiet, Anteil verschiedener Kliniken und Diagnostik das Ergebnis nicht beeinflusst haben. Verallgemeinernde Schlussfolgerungen und Erstellung kausaler Zusammenhänge sind deshalb derzeit nicht möglich. Dennoch zeigen die Arbeiten Tendenzen auf, denen unbedingt nachgegangen werden muss. Die im Vortrag angesprochene Vermutung, dass beim rapiden Anstieg der Brustkrebshäufigkeit in den frühen 70er Jahren ein Zusammenhang mit dem radioaktiven Fallout der Atomwaffenversuche in den späten 50er, frühen 50er Jahre bestehen könnte, wurde von den Autoren nicht geäußert.

58 Aus Fußnote 8, Seite 224, Figure 1.

59 United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation UNSCEAR 1982, Suppl. No. 45: „The average dose commitment to inhabitants of the Northern Temperate Zone due to tests conducted up to 1980 has been estimated to be 107 mrem”, zitiert nach Merril Eisenbud: “Environmental Radioactivity“, Academic Press, mic Press, 1987.

60 Bericht der Strahlenschutzkommission beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vom 16. April 1988: Als Folge des Tschernobyl-Unfalls wird für Südbayern (Voralpengebiet) eine zusätzliche Strahlenbelastung für das erste Jahr von 120 mrem und eine Gesamtbelastung einschließlich der folgenden Jahre vom 380 mrem geschätzt. Auch hier wieder das bewährte Mitteln: Mittel der Bevölkerung vom höchstbelasteten Berchtesgadener Land bis zum relativ wenig belasteten Miesbacher Raum (Fußnote 61).

61 Prof. Dr. Edmund Lengfelder (1988), Strahlenbiologisches Institut der Universität München: „Tschernobyl – Ergebnisse, Bewertung und Folgerungen nach einem kerntechnischen Unfall aus ärztlicher Sicht“ (in Vorbereitung).


Mütter gegen Atomkraft e.V. (Hg.), Reden gegen die WAA, München 1988, 39 ff.

Überraschung

Jahr: 1988
Bereich: Atomkraft