Materialien 1961

Seid gut zu den Tieren!

Sputnik X, der etwa ein Jahr nach dem sensationellen Start des ersten Satelliten von der Sowjet-Union in den Weltraum geschossen wurde, hatte außer einer Legion von Insekten auch wieder eine Hündin an Bord, nachdem die Nummern ÜI bis IX ohne Säugetiere geflogen waren; erst die Konstruktion X nämlich war geeignet, neue Erfahrungen über das Verhalten von Warmblütlern im schwerelosen Raum zu vermitteln.

Nun hatte sich die Weltöffentlichkeit eigentlich schon ganz über das Schicksal des ersten Himmelhundes beruhigt, nur selten versuchte ein Massenblatt, seine Seiten aufzupulvern mit Schlagzeilen wie „SIBIRISCHER FÖRSTER TRAUERTSEINE JAGDHÜNDIN GEBAR SPUTNIKHUND“. Die schon eingeschlafene Erregung flammte aber – initialgezündet durch die neuerdings verletzten Gefühle der Tierfreunde – verstärkt auf, als wieder eine Hündin durch den Weltraum getragen wurde.

Es begann in Europa: Die Morgenzeitungen schon, die über den neuen Trabanten berichteten, brachten gleichzeitig Nachrichten von den ersten bekannt gewordenen Protesten der Tierschutzvereine; und der Satellit hatte kaum hundertmal die Erde umkreist, als in allen Städten Europas Massendemonstrationen stattfanden: Am Trafalgar-Square, am Arc de Triomphe, auf den großen Plätzen Roms, Athens, Münchens drängten sich Zehntausende von Demonstranten – eine europäische Volksbewegung entstand. Die Tierschutzvereine nutzten ihre Stunde: waren sie bisher zwar eifrige, aber wenig beachtete Gesellschaften gewesen, so blähte sie jetzt der Sturm des Volkszornes zu gewichtigen Interessenverbänden. Sie lernten nicht nur Massenaktionen veranstalten, sondern sie begriffen auch schnell den Wert des Lobbying. Die Parlamentarier nahmen es sich zu Herzen, wenn die Interessenvertreter des Tierschutzes an ihre Gefühle appellierten. Es sei hier nur an jenen Abgeordneten des westdeutschen Parlamentes erinnert, der sein Begehren nach Einführung der Todesstrafe so zu begründen wusste: man könne, gäbe es wieder Todesurteile, die Erdsatelliten (Westdeutschland sei es seiner Weltgeltung schuldig, demnächst einen solchen zu bauen) mit todeswürdigen Schwerverbrechern bemannen. Damit vermeide man es, wie er sagte, „die hilflose Kreatur unbeschreiblichen Qualen auszusetzen“. (Bei diesen herzbewegend vorgetragenen Worten erhoben sich übrigens die Mitglieder des Hauses spontan von den Sitzen.)

Der Aufruhr der Tierfreunde hätte sich allerdings bald erschöpft oder hätte jedenfalls keine tiefgreifenden Folgen gehabt, wäre er auf den alten Kontinent begrenzt geblieben.

Zunächst sah es allerdings gar nicht so aus, als wolle Amerika in die Empörung der Europäer mit einstimmen. Nur bei der routinemäßigen Pressekonferenz, die das Weiße Haus nach dem Sputnik-Start veranstaltete, erklärte der Sprecher, dass die USA in ihren Satelliten – der endgültig und unwiderruflich nächste Woche abgeschossen werde – keine Säugetiere stecken würde. Sonst schickte sich Amerika an, über Sputnik X zur Tagesordnung überzugehen. Das änderte sich erst durch Father Angelus. Dieser, Freikirchenbischof und Leiter des bestgehenden Tempels in New York, erfreute sich seit einiger Zeit in den dortigen besseren Kreisen wegen der Würde und Lebensnähe seiner Predigten großer Popularität. In einer Sonntagspredigt, die von 30 Fernseh- und 50 Radiostationen in einer Coast-to-Coast-Sendung übertragen wurde, verfluchte er die gottlosen Sowjet-Wissenschaftler, die er „Red Eggheads“ nannte, und forderte die westlichen Regierungen zu Aktionen für die Hündin auf. Die berühmt gewordenen letzten Worte seiner Predigt „I’ll be damned, if they get away with it“ wurden die – mit Neonlicht von den Wolkenkratzern gestrahlte, in Fernsehsendungen flimmernde, von Kindern auf Transparenten gezeigte – Parole einer Protestbewegung, die jene in Europa bald mit amerikanischer Wucht überflügelte.

Inzwischen aber war die Hündin – die immer noch lebte – schon ein Politikum geworden: Der Oberste Sowjet hatte den Titel „Verdienter Hund des Volkes“ sowie den Lenin-Orden verliehen und hatte weiter verfügt, dass sie nach ihrer Rückkehr zur Erde einzubalsamieren und auf dem Roten Platz neben Lenin und Stalin aufzubahren sei. Während die Weltpresse sich noch mit diesen Maßnahmen beschäftigte (die Presse der westlichen Länder entrüstet oder spöttisch, die der Satellitenstaaten voll Lobes über die „kollektive Weisheit der KPdSU“), lieferten die USA eine neue Sensation. Deren Präsident nämlich konnte nicht länger die wie ein Tornado durch die Staaten rasende Protestwelle ignorieren und sah sich veranlasst, eine Radiobotschaft („Again a little bitch is straining the world’s nerves“) zu verlesen.

Diese Rede griff ein Senator der Südstaaten auf, als er über Maßnahmen des Präsidenten gegen Rassenausschreitungen des Ku-Klux-Clan polemisierte. Er warf dem Präsidenten Heuchelei angesichts seiner „Verachtung der Rechte der weißen Mehrheit und dieser angeblichen Tierliebe“ vor und meinte, die Russen hätten nur „ein Wort sagen brauchen und sie hätten aus Texas einen dreckigen Nigger gratis bekommen“. Von liberalen Politikern wegen dieser Äußerung scharf kritisiert flüchtete der Senator in die Öffentlichkeit. Er nannte seine Gegner „nigger-lovers“ und beschuldigte sie „unamerikanischer Indolenz gegenüber Tieren, Babies und Müttern“. So gelang es ihm, die Volksstimmung – die ja nur auf ein konkretes Ziel wartete – gegen die Liberalen zu richten, von denen rechte Zeitungen bald schrieben, sie seien Freunde der Kommunisten (wobei sie dahingestellt ließen, ob nur objektiv oder auch subjektiv). Die angegriffenen Senatoren mussten nun – um nicht bei der nächsten Wahl durchzufallen – einen drastischen Beweis für die Unrichtigkeit der Vorwürfe liefern. Nach einer eiligen und erregten Beratung beschlossen sie daher, mit einem Initiativ-Antrag im Senat die US-Regierung aufzufordern, bei den Vereinten Nationen wegen der Hündin im Sputnik zu protestieren.

Nach vielem Hin und Her in den Senatsausschüssen legte schließlich die US-Delegation der Vollversammlung der UN den Entwurf einer Resolution vor, die die „Versendung von Säugetieren in unbemannten, hochfliegenden Objekten“ verurteilte. Da aber der Vertreter Indiens erklärte, er halte den Menschenschutz für vordringlicher, ohne nun den Antrag der USA in Bausch und Bogen zu abzulehnen, enthielten sich die Vertreter der Bandung-Staaten der Stimme und die Vorlage scheiterte an einer knappen Mehrheit.

Trotz seines parlamentarischen Misserfolgs hatte jedoch dieser Antrag der USA weitreichende politische Folgen: Abgesehen davon, dass die UN-Debatte die Empörung in den westlichen Ländern auf den Höhepunkt getrieben hatte, war die kleine Hündin im Weltraum nun zu einer Prestige-Angelegenheit der großen Staaten geworden. Die PRAWDA sprach von „heuchlerischer Provokation“, das State Departement konterte mit dem Vorwurf „brutaler Missachtung der Rechte der Kreatur“. Reden der Staatschefs und diplomatische Noten jagten sich auf beiden Seiten. Die internationale Lage spitzte sich derart zu, dass die USA schließlich ihr strategisches Luftkommando aufsteigen ließen, während die Russen ihren interkontinentalen Raketen die H-Köpfe einsetzten.

Während nun die Großen diese gar nicht ernst gemeinte Demonstration ihrer tödlichsten Waffen veranstalteten, lief bei einem obskuren Ort Nordbayerns ein kleiner Hund über die Grenze, die den amerikanisch beeinflussten Teil Deutschlands von der Interessensphäre der UdSSR trennte. Ein Grenzpolizist der russischen Seite, ärgerlich darüber, dass er gerade an diesem Tag Dienst hatte, warf einen Stein nach dem Hund. Dies sah ein Polizist der anderen Seite, der schrie – gerade am Tage vorher hatte er eine Protestversammlung der lokalen Tierschutzorganisation besucht – dem drüben zu: „Habt Ihr roten Säue denn gar nichts anderes mehr zu tun als Tiere zu quälen?“ Als der als „rote Sau“ apostrophierte mit „Blödes Arschloch“ antwortete, gab ein Wort das andere. Als dem einen, der bei dem Streit lebhaft gestikulierte, die MPi von der Schulter rutschte, missverstand der andere die Bewegung, mit der die Waffe zurecht geschoben wurde, und gab aus seiner Dienstpistole einige Schüsse ab. Es gab sofort Alarm an der ganzen Grenze. Streifen von beiden Seiten schossen aufeinander und es setzten sich Alarmeinheiten der beiden deutschen Armeen in Marsch. In das Gefecht griffen – wie sich später herausstellte infolge eines falsch durchgegebenen Funkspruches – Panzer der russischen und demzufolge auch der amerikanischen Armee ein. Die Nachricht davon erreichte mit Blitzgespräch das Weiße Haus. Man weckte den Präsidenten und informierte ihn kurz. Vom Schlaf benommen, erklärte dieser unüberlegt – man erwartete einen raschen Entschluss von ihm –, dies sei der „casus belli“ (seit seinem dritten Schlaganfall hatte er nämlich den Golfschläger mit dem Lateinbuch vertauscht).

Der anwesende Verteidigungsminister gab daraufhin sofort den Einsatzbefehl an das strategische Luftkommando – dieses stieg gleichzeitig mit den großen Raketen der Russen auf. Gerade als der westdeutsche Generalstab voll Stolz melden konnte, dass „die siegreiche Bundeswehr bereits fünfzehn Kilometer deutschen Bodens befreit“ habe, explodierten die H-Bomben über New York, Moskau, Stalingrad, Los Angeles und vielen anderen Städten …

Als alles vorbei war, brach für die Hunde der Welt, um deren Wohl es schließlich gegangen war, das goldene Zeitalter an. Sie konnten herum laufen und hin pinkeln, wo sie wollten. Vor allem hatten sie lange nicht zu hungern. Es gab nämlich Aas im Überfluss.


Ungedrucktes Manuskript, Bestand Konrad Kittl, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

Überraschung

Jahr: 1961
Bereich: Internationales