Materialien 1976

Thesen und Stichpunkte

zu Herbert Marcuses Referat vom 14. Juli 1976 in der lmu

I. Eine radikale Veränderung scheint auf einen unbestimmten Zeitpunkt vertagt.

II. Der Kapitalismus ist seit seinem Sieg über den Faschismus in Westeuropa in eine Phase der Stabilisierung getreten, bedingt durch Rationalisierungsmassnahmen in der Wirtschaft und der damit verbundenen Fusion der politischen Macht.

1) Faktoren der Stabilisierung

a) Neoimperialismus
b) Export von technischem Wissen an Stelle fertiger Gebrauchsgüter
c) “Detente” mit UdSSR und VR China
d) Integration der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Industrieländern

2) Tendenzen des Kapitalismus in der Phase der Stabilisierung an der Basis

a) Die Produktivität wird technisch immer mehr gesteigert. Gleichzeitig wird menschliche Arbeitskraft aus dem Produktionsprozess ausgeschaltet. Somit sinkt die Profitrate. Das Kapital ist folglich gezwungen, neue Quellen der Mehrwertproduktion zu schaffen.

b) Der verhältnismäßig hohe Lebensstandart in den fortgeschrittenen Industrieländern und die Introjektion der kapitalistischen Normen in die Triebstruktur bedingt ein konformistisches Bewusstsein der Arbeiterklasse und ist Ursache für deren Integration.

III. Die traditionellen Voraussetzungen für eine Radikalisierung sind gegeben,

1) stärkere Ausbeutung (Rohstoffmarkt, Rationalisierung)
2) Konkurrenz auf dem verengten Weltmarkt
3) nationale Freiheitsbewegungen
4) Krise des Kapitalismus

aber kann man tatsächlich von einer Radikalisierung sprechen?

zu 1), 2) und 3): Entwicklungsländer sind auf Kooperation mit dem Kapital angewiesen (OPEC!).
zu 3): Das Ende von Freiheitsbewegungen bringt Nachfrage nach kapitalistischen Investitionen (Nordvietnam, Portugal).
zu 4): Zwar haben wir in England, in den USA und in der BRD eine Krise, aber keine Radikalisierung.
zu 1) und 4): Die Strategie der westeuropäischen KPs ist zweifelhaft, scheint die (erkannten?) Mängel eher zu perpetuieren.

IV. Der traditionelle Revolutionsbegriff ist nicht mehr adäquat, er muss an die neuen historischen Bestimmungen angepasst werden:

1) Ein neuer Revolutionsbegriff hat totalisierenden Charakter (ökonomisch, politisch, kulturell).
2) Eine veränderte Arbeiterklasse, die auch Teile der Mittelklasse und der Intelligenz umfasst, ist Subjekt der Revolution.
3) Es geht nicht mehr um eine zentralisierte Machtergreifung, sondern um örtliche und regionale Rebellion mit entsprechender Organisation (z.B. Übernahme einzelner Betriebe). Es geht um das Herausbrechen von Teilen aus dem System, was sich wegen der großen Abhängigkeit des Ganzen vom Funktionieren seiner Teile als sehr wirkungsvoll erweisen kann.
4) Die Motivationsbasis erweitert sich von der unmittelbaren materiellen Not zu einer Rebellion gegen eine Gesellschaft im Überfluss.

V. Die Möglichkeit des revolutionären Umschlags ergibt sich aus den inneren Widersprüchen des Kapitalismus:

Der Kapitalismus kann sich nur durch immer mehr erweiterte Produktion erhalten. Es werden immer mehr Waren für ein “besseres Leben” produziert. Damit werden aber auch Bedürfnisse produziert, die das Kapital nicht befriedigen kann. Schließlich rückt die Reduzierung der Arbeitszeit das “Reich der Freiheit” in Sicht, so dass das Bedürfnis nach Befreiung der Arbeit wächst. Da dies jedoch das Sinken des Mehrwerts zur Folge hat, produziert der Kapitalismus folgenden Widerspruch: Die entfremdete Arbeit wird perpetuiert mit dem “Versprechen”, ein Leben ohne Entfremdung zu erreichen. Damit rückt die Entfremdung ins Bewusstsein, womit der Umschlag in ein neues Realitätsprinzip möglich wird.

VI. Postulate für eine totalisierende Veränderung auf Grund eines neuen Realitätsprinzips:

1) Veränderung der Objektivität UND der Subjektivität (veränderte Triebstruktur)
2) Wir müssen erst uns selbst befreien, bevor wir andere organisieren.
3) Entwicklung der sozialistischen Struktur im Einzelnen: Emanzipation von Autoritarismus, Sexismus, Rassismus
4) Befreiung von einer fetischisierten marxistischen Theorie
5) Die organisierte Spontaneität der einzelnen muss als utopisches Moment des Marxismus in die Politik eingehen: DIREKTE DEMOKRATIE (Rätebewegung)

“ES wird noch Jahrzehnte dauern — aber gebt nicht auf!”

H.M.

P.S.: Ich habe meine Notizen von Marcuses Referat für Euch alle abgetippt, einmal, weil ich die Gedanken hier wichtig finde, wichtig für uns als einzelne, aber vor allem für uns als Arbeitsgruppe, als Fachschaftsinitiative. Ich meine, dass sich daran politisches Selbstverständnis diskutieren ließe. Zum anderen, ich habe das Referat nicht in allem richtig gefunden, aber, was wichtiger ist, es hat mir Mut gemacht und damit meine derzeitige Resignation verringert. Aber Mut verfliegt, wenn er in der Vereinzelung bleibt. Ein persönlicher Grund mitzuteilen, was mich beeindruckt hat. Übrigens ist alles, was hier steht, ohne Gewähr auf Vollständigkeit und Genauigkeit. EVA


Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: StudentInnen