Materialien 1980
Für Bine
Bine ist tot. Sie wurde ein Opfer des brutalen Krieges, der Tag für Tag auf unseren Straßen tobt; die Statistiken darüber erinnern an die Verlustlisten nach den Bombennächten des letzten Krieges. Dass sie auf diese Art und Weise sterben musste, grenzt an Tragik.
Man kämpft für eine bessere Welt, zu der auch die Befreiung vom technischen Terror gehört, man muss sich dabei der Mittel bedienen, die man eigentlich zerstören möchte. Als ich den Wagen auf dem Bildschirm sah, hoffte ich, dass sie keine Sekunde den Schmerz verspüren musste.
Bine ist tot. Sie kam aus unserer Scene, sie lebte und arbeitete mit uns zusammen, im alten Zentrum, in der Graf-Konrad-Straße, in der Roten Hilfe, in der „Arbeitersache“, im „Blatt“. Wie oft fuhr ich mit ihr kreuz und quer durch die BRD, um irgendjemandem zu helfen, der auf unsere Hilfe angewiesen war. Und sie machte dabei keinen Unterschied, ob es sich um einen politischen Gefangenen handelte, ob der nun einen bekannten Namen hatte oder nicht, oder ob er aus einem Fürsorgeheim abgehauen war. Und wenn es die Notwendigkeit dabei erforderte, dann traten wir auch als Vater und Tochter auf. Dabei war ich es, der von ihr lernte, der versuchte so zu sein wie sie, der von ihr geprägt wurde, von ihrem Engagement, ihrer Solidarität, ihrem Wissen um politische Zusammenhänge. Nie ging es dabei tierisch ernst zu, sie war weder verbittert noch verbiestert, wir lachten und scherzten, wir sangen auf den langen Fahrten und wir schätzten einen guten Kaffee, ein Stück Kuchen. Die Rote Hilfe war damals eine Gemeinschaft von Menschen, die sich als Vorboten einer neuen Gesellschaft fühlten.
Bine ist tot. An dem Tag, an dem sie eine Zeugin in Berlin gesehen haben will, wie sie einen Blumenstrauß für Drenkmann kaufte, saß ich mit ihr und anderen zusammen, um ein Flugblatt für den toten Holger Meins zu entwerfen. Es war ein Tag, der sie tief geprägt hat; der sie veränderte. Sie lächelte seltener.
Bine ist tot. Ein Tag vor ihrem Tode erhielt ich die Nachricht, dass ein Verfahren gegen mich eingestellt war, in dem auch sie eine Rolle spielte. Es handelte sich um eine der vielen kriminellen Vereinigungen, die in den Köpfen der Staatsanwaltschaft geboren wurden, um die Roten Hilfen, die Knastarbeit zu kriminalisieren. Nach 5 Jahren mussten sie zugeben, dass ihre künstlichen Beweiskonstruktionen wie ein Kartenhaus zusammengefallen waren. Aber 5 Jahre lang wurden wir bespitzelt, verfolgt, überwacht, an den Landesgrenzen schikaniert, in die Befa-Listen aufgenommen.
Bine ist tot. Als die gefühllose Stimme des Nachrichtensprechers ihren Tod bekannt gab und meldete, sie hätte im Untergrund den Decknamen „Bine“ geführt, wusste ich nicht, ob ich vor Wut heulen oder lachen sollte. Jeder von uns in München kannte sie seit jeher nur unter diesem Namen, die meisten wussten nicht einmal, dass sie Juliane Plambeck hieß. Sie gehörte zu unserer Geschichte, die sie heute liquidieren wollen, entweder mit der Pistole eines Polizisten oder mit den Betonmauern der Hochsicherheitstrakte. Den Kugeln konnte sie entkommen, den Mauern entzog sie sich durch eine spektakuläre Flucht; sie wurde vom Moloch Technik vernichtet. Angesichts dieser Realitäten theoretische Diskussionen über die Gewalt zu führen, halte ich für sinnlos.
An dem Tag, an dem sie nach Berlin zog, sah ich sie zum letzten Mal. Wir gingen verschiedene Wege, aber das Ziel blieb das gleiche. Ich habe mich nie von dem anderen Weg distanziert.
Bine ist tot. Für uns lebt sie weiter. Nicht als die verklärte Heldin des antiimperialistischen Kampfes, der wir ein Denkmal errichten, nicht unter einem roten oder schwarzen Fahnenwald, nicht mit Parolen, die nur noch Hüllen ohne Inhalte sind. Sie lebt weiter in unseren Geschichten, die uns verbanden, Geschichten aus der konspirativen Hektik dieser Zeit, kleinen Geschichten des Alltags, lustigen und traurigen Geschichten, Geschichten, die sich einmal zu unserer Geschichte verdichten werden.
Peter Schult
Blatt. Stadtzeitung für München 177 vom 1. August 1980, 4.