Materialien 1980

lieber journalist

peter schults „für bine“, blatt nr. 177

die geschichtsschreibung ist schon so eine geschichte, besonders dann, wenn es geschichten gibt, die sich einmal zu unserer geschichte verdichten werden. es gibt geschichtschreibung, es gibt geschichtsverfälschung, es gibt geschichtsfälschung, es gibt geschichtsunterschlagung, es gibt geschichtenfabulierer, es gibt geschichtenerzähler. mit einem gewissen münchhausen haben wir uns über diese problematik einmal eingehend unterhalten. das hat uns dann sehr geholfen, uns mit vielen menschen auseinanderzusetzen, und vor allem uns und sie in das RECHTE licht zu setzen: mit einem gewissen karl marx sind wir in kutschen kreuz und quer durch europa gezogen, wir haben gute zigarren geraucht und excellent gegessen. dabei haben sich natürlich auch politische diskussionen entwickelt und der kalle hat uns dabei gestanden, dass er eigentlich für die bibel und nicht für das kommunistische manifest ist. irgendwann waren wir und kalle dann in lausanne. da haben wir und kalle unseren freund michael bakunin getroffen. Mike hat uns dann gestanden, dass er den kalle unheimlich gern mag und dass er von tiefstem herzen ein verfechter des staatssozialismus ist. dafür gibt es mehrere zeugen, die wir benennen können, und die mit eigenen augen und ohren gesehen und gehört haben, wie mike zum kampf gegen die anarchisten aufforderte.

besonders in erinnerung ist uns folgende geschichte geblieben: in unserem bewegten leben hielten wir uns auch einmal einige tage in finnland auf. nachts klopfte es leise an die tür, wir machten auf und vor uns stand eine vermummte gestalt. sie sagte „grüß gott!“. wir erkannten ihn sofort an seiner stimme: waldemar lenin persönlich. er schob uns einen riesensack rüber und sagte: „hier sind 500.000 rubel. bring sie mal zum machno. ich bin deswegen extra zum zweiten mal nach finnland gefahren. erzähl bloß nix meinen genossen“ – und dann verschwand er in der nacht.

zwei menschen sind tot. einen von den beiden, den du, Peter, AUCH kanntest, hast du ganz einfach unterschlagen. du schreibst „für bine“. meinst du, bine hätte wolfgang beer auch unterschlagen? du hast bine ihre geschichte geraubt, du hast sie geteilt. bine war bei der RAF und diese realität übergehst du, die unterschlägst du, weil es nicht in deinen kram passt, in deinem gezeichneten bild der bine von „damals“. das ist nichts anderes als entmündigung und inbesitznahme. es geht nicht darum, an der RAF und dem anti-imperialistischen kampf keine kritik zu haben. es geht vielmehr darum, noch so etwas wie einen funken anstand zu haben. tote können sich nicht wehren. sie können nichts mehr dagegen tun, dass ihre geschichte missachtet, geraubt, untergraben wird und sie funktionalisiert werden. bine ist tot und sie hat in der RAF gekämpft. das war IHRE entwicklung, und ihre zeit hier in münchen, in der „scene“, war EIN abschnitt ihres kampfes. die andere geschichte ihres kampfes zu rauben und sie zu teilen, dabei für eigene ziele zu funktionalisieren und noch die frechheit zu haben, zu behaupten, „ich habe mich nie von dem anderen weg distanziert“, ist das schäbigste, was es gibt. bine hätte – wenn überhaupt – im umgekehrten fall kein derartiges machwerk geschrieben. dass so was gedanken- und kommentarlos veröffentlicht wird, sagt eine ganze menge über eine „scene“, die bine jetzt nach ihrem tod für sich reklamiert.

mit verbitterten und verbiesterten grüßen

Wolfgang Lupperger
Roland Otto


Blatt. Stadtzeitung für München 179 vom 29. August 1980, 35.

Überraschung

Jahr: 1980
Bereich: Alternative Szene