Materialien 1980

Besuche in Sackgassen: Pilgersheimerstrasse 11

Leo ist misstrauisch. Bevor er mir das Bier auf den Tisch stellt, kassiert er zwei Mark. Leo kennt anscheinend seine Kunden, vor allem, wenn sie neu sind, denn er ist Kellner im Bierstüberl, für manchen die letzte Etappe vor dem Übernachtungsheim für Obdachlose und Nichtsesshafte in der Pilgersheimer Straße Nr. 11. Das war am vergangenen Dienstag. Ich wollte einmal als „Obdachlo-
ser“ und „Stadtstreicher“ dort übernachten und trank mir nun etwas Mut an, denn irgendetwas in mir sträubte sich gegen diesen Plan, den ich seit mehr als einem Jahr im Kopf hatte. Endlich, ge-
gen 21.00 Uhr, stand ich auf und ging ein Haus weiter. Der graue, unfreundliche Bau beflügelte nicht gerade mein Vorhaben, ich blieb erst einmal im Vorraum sitzen, der dem Wartesaal eines Provinzbahnhofs im Jahre 1945 glich. Auf den Bänken hockten einige meiner zukünftigen Schlaf-
genossen, teils in zerlumpten alten Klamotten, teils in verschlissenen Anzügen mit Hemd und Kra-
watte, fast jeder hatte eine Plastiktüte oder eine Tasche in der Hand, in der die gesamte Habe ver-
staut war. Mit einem Ruck raffte ich mich auf und ging in das „Empfangszimmer“ nebenan, wo ein schmächtiger Herr mit längeren, angegrauten Haaren, anscheinend ein Aufsteiger aus dem Milieu, mich fragend ansah. Ich sagte ihm, dass ich einen Schlafplatz für die Nacht bräuchte, doch er schüttelte nur den Kopf und brummte: Alles belegt! Ich machte auf dem Absatz kehrt und verließ ohne jegliche weitere Frage den Raum. Innerlich war ich froh, dass man mir einen Grund gegeben hatte, meinen Plan aufzugeben.

Am Donnerstag machte ich den zweiten Anlauf. Diesmal kam ich bereits um 16.00 Uhr, da um diese Zeit das Heim geöffnet wird. Ich hatte mich einige Tage nicht rasiert. Die Bartstoppeln und eine Plastiktüte, in der ich neben Handtuch und Seife eine Flasche Wermut – unter Fachleuten Ur-
waldmaegi genannt – in eine Bildzeitung verpackt verstaut hatte, sollte das Misstrauen der Heim-
verwaltung und Sozialarbeiter etwas abbauen. Und diesmal klappte es. Ich wurde nach meinem Namen gefragt und dann aufgefordert, im Nebenzimmer, dem bereits erwähnten Provinzwartesaal aus dem Jahre 45, zu warten. Als mein Name aufgerufen wurde, spürte ich plötzlich in mir Unruhe, ja Angst, der Knast war auf einmal da, alles erinnerte mich wieder an das Aufnahmezeremoniell in Stadelheim, in Kaisheim, in Bernau …

Personalien, Kennkarte, wo geboren, verheiratet, letzter Wohnort, Kinder? Unterschreiben Sie hier … Wann sind sie zum letzten Mal ärztlich untersucht worden? Wann wurden die letzten Röntgen-
aufnahmen gemacht? Ich hätte sagen können in Stadelheim, aber ich schwieg. Ich bekam eine Kar-
te ausgehändigt und sollte mich am nächsten Tag im Gesundheitsamt an der Dachauer Straße un-
tersuchen lassen, sonst könnte ich nicht ein zweites Mal hier übernachten. Es kostet nichts, sagte er mir tröstend. Da ich auch nicht die Absicht hatte, hier mehr als eine Nacht zu bleiben, steckte ich die Karte ein. Dann musste ich wieder im Vorraum warten, und meine Unruhe stieg! Das ver-
dammte Knast-Gefühl, das dauernd in mir aufstieg! Diesmal wurde ich von einer Frau aufgerufen. Sie stellte sich als Sozialarbeiterin vor und sah auch so aus. Ich nahm am Schreibtisch II, Buchsta-
be L – Z, Platz. Ich war nun ein „Sozialfall“. Sie blätterte in meinem Personalausweis und fragte mich, ob die dort angegebene Adresse meine letzte Wohnung gewesen wäre. Ich nickte, sagte, ich hätte am 1. Mai meine Arbeit verloren und auch die Wohnung. „Sind sie das erste Mal hier?“ Ich nickte wieder und sah mich im Büro um. An der Wand hingen zwischen Anordnungen und einigen Postkarten zwei Aufkleber: „Atomkraft – Nein Danke!“ und „Jugend für den Sozialismus – Jungso-
zialisten in der SPD“.

„Was sind sie von Beruf?“, wurde ich gefragt und sagte „Arbeiter“. „Kommen sie doch mal morgen in unser Büro in der Hans-Sachs-Straße 16, vielleicht können wir ihnen weiterhelfen.“ Sie gab mir einen Zettel und ich las: „Sozialdienst für Nichtsesshafte. Sprechzeiten Montag mit Freitag 8.30 – 11.00 Uhr und von 13.00 bis 15.00 Uhr, Donnerstag vormittag und Donnerstag nachmittag keine Sprechstunde.“ Die Mitteilung über den Wochenend-Jourdienst am Samstag und Sonntag war durchgestrichen. Ich bekam eine Platzkarte (Saal 21, Bett Nr. 253) und zwei Gutscheine, einen für das Abendessen und einen für das Frühstück.

Draußen war strahlender Sonnenschein, aber ich muss über eine Treppe in einen dunklen Keller zum Umkleideraum. Ich lese ein Schild: „Wer ohne Blaumann im Bett angetroffen wird, muss das Haus verlassen!“, und plötzlich kann ich nicht mehr. Dieses Gefühl, wieder im Knast zu sein, werde ich einfach nicht los. Ich frage, ob man noch einmal raus darf. Natürlich! Abendessen gibt es von 17.30 bis 21.30, das Haus wird um 11.00 Uhr geschlossen. Ich eile die Treppe wieder hinauf und bleibe vor dem Haus aufatmend stehen. Wieder frei! Ich fahre ins BLATT und erlebe mit abwesen-
den Gedanken den Beginn der Redaktionssitzung. Dauernd ertappe ich mich dabei, dass ich auf die Uhr blicke. Noch eine halbe Stunde. Auf der Rückfahrt zur Pilgersheimer Straße überfällt es mich heiß. Einmal in meinem Leben, es muss 1962 gewesen sein, war ich „Selbststeller“. Ich musste für 5 Monate in den Knast nach Bernau und fuhr selber hin. Das Gefühl, das ich jetzt habe, hatte ich auch damals. Man sieht alles an, als sähe man es zum letzten Mal.

Warum mache ich das alles hier? Warum gehe ich nicht einfach mit dem Presseausweis in das Heim und stelle Fragen? Nein, so nicht! Abgesehen davon, dass mir dann kaum einer meine Fra-
gen beantworten würde, und vielleicht auch nicht könnte, ich muss das selber einmal erleben. Aber ist das nicht eigentlich doch nur die Voyeurslust eines Journalisten? Nein, dafür verbindet mich zuviel mit diesen Menschen. Nicht allein die Jahre, die ich in bayerischen Knästen verbracht habe, sondern auch die Zeit, die ich selber auf Parkbänken und in Wartesälen verlebt habe, auch wenn das nun mehr als 30 Jahre her ist. Ich weiß. was es heißt, wenn man jeden Morgen überlegt, wo man abends schlafen kann, wenn das Besorgen einer Mahlzeit zum Zentralpunkt des Denkens wird. Ich kann im Leben der Penner und Stadtstreicher keine Romantik sehen. Ich halte auch nicht viel von einer sozialschwärmerischen Haltung gegenüber Randgruppen, vor allem noch, wenn man von ihnen den revolutionären Schwung erwartet, den man selber nicht mehr aufbringt.

Was mich auf die Idee brachte. Einmal selber zu erleben, wie die Stadt München eine Randgruppe behandelt, waren die Angriffe, die aus den Reihen der CSU-Stadtratsfraktion kamen, unterstützt von Law-and-Order-Schreiber, seines Zeichens Polizeipräsident der Stadt. Das Vokabular der CSU-Stadträte ist leider allzu bekannt und vielen noch in unguter Erinnerung. Für Franz Josef Delonge sind es „Betrunkene, Randalierer und Penner“. Peter Gauweiler forderte: „Unverbesserliche Pen-
ner gewaltsam zu überzeugen“ und Schreiber assistierte: „Das Ordnungsrecht ist gegenüber bin-
dungslosen Personen stumpf. Ohne Strafe hat es keinen Sinn.“

Was „gewaltsames Überzeugen“ bedeutet, wissen wir leider in Deutschland nur zu genau. Die Na-
zis steckten Randgruppen, ob es nun Juden, Stadtstreicher, Zigeuner oder Schwule waren, einfach ins Konzentrationslager und vergasten sie. Die Tendenz, die sich hier in München bei der CSU an-
deutet, ist deshalb mehr als bedenklich, sie ist gefährlich. Vergleiche bieten sich geradezu an, wenn auch manche Vorschläge der Christlich-Sozialen Züge von Komik enthalten, etwa wenn gefordert wird: „Das Liegen, Lagern und Abhalten von Zechgelagen soll untersagt werden!“, oder wenn man fordert, dass der Alkoholausschank in den S- und U-Bahnhöfen eingeschränkt werden soll. Hier wird wieder einmal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, da taucht geradezu der Ludwig Filser grinsend hinter dem Rücken der Stadträte auf. Solche Forderungen zeigen offen das geistige Ni-
veau der CSU-Fraktion.

Dass eine Leistungsgesellschaft wie die unsrige tagtäglich Menschen ausstößt, ist eine Binsenweis-
heit, sie aber dann als „Unrat“ zu bezeichnen und mit der „Abfallreinigung“ zu drohen, ist mehr als Zynismus, es ist Symptom eines Denkens, das stets an den Wirkungen herumexperimentiert, aber nie die Ursachen sieht und ändern will. Das gilt für die Stadtstreicher ebenso wie für die Kriminali-
tät und den Drogen- und Alkoholmissbrauch. Wenn man schon Leistungsdruck vom Kindergarten über die Schüle, Universität und Arbeit bis zur Pensionierung und darüber hinaus fordert und als obersten Maßstab für die Beurteilung von Menschen anwendet, dann muss man entweder so hu-
man sein, dass man die Aussteiger und Ausgestiegenen akzeptiert und toleriert oder ihnen zumin-
dest ausreichende Hilfe anbietet. Der Ruf nach der Polizei und nach Gesetzen ist stets Zeichen eines faschistischen Denkens. So ging in der Debatte auch völlig die Forderung nach geeigneten Räumen unter, in denen sich tagsüber die Stadtstreicher und Nichtsesshaften aufhalten können. Und wie sehen die Räume aus, die man ihnen (das heißt einem Teil von ihnen, denn das Heim in der Pilgersheimer Straße hat nur knapp dreihundert Schlafplätze, man rechnet aber in München mit ca. 500 bis 600 Stadtstreichern) für die Nacht anbietet? Das eben wollte ich einmal selber herausfinden.

Leo scheint mich wiederzuerkennen, auf jeden Fall musste ich diesmal nicht sofort bezahlen, er brachte sogar noch ein weiteres Bier ohne gleich zu kassieren. Ich brauchte diese Zwischenstation vor der letzten Etappe und ging dann kurzentschlossen gegen halb neun in die Höhle des Löwen. Wieder ging es durch den Wartesaal und die Empfangsräume hinab in den dunklen Keller zur Kleiderkammer. In einer Kabine bekomme ich durch eine Klappe meinen „Blaumann“ hereinge-
reicht, ein paar Filzpantoffeln und ein Handtuch. Die Zivilsachen werden auf ein eisernes Kleider-
gestell gehängt und in der Kammer verwahrt. Meine Plastiktüte mit der Flasche Wermut kann ich behalten, sie wird nicht einmal gefilzt. Nun muss ich duschen und kann dann mit den zu kurzen Hosen und der Jacke in den Essraum hinaufsteigen. Ich bin nun aufgenommen in der Zunft der Heimatlosen und kann das Gefühl nicht loswerden, wieder im Knast zu sein. Die Uniformierung spielt dabei eine große Rolle, so liefen wir auch in Kaisheim herum. Nun lerne ich auch den „Füh-
rungskörper“ des Heimes kennen, der sich durch drei Merkmale auszeichnet: Durch die Zivilklei-
dung, durch seine Wohlbeleibtheit – das Geschäft mit der Armut scheint ein einträglicher Job zu sein – und durch den Schlüsselbund, der in mir die Erinnerung an die Wächter im Knast wachruft. Es mögen drei oder vier sein, die zu den Aufsehern oder Heimleitern, oder wie auch immer man sie nennen soll, zählen. Auch sie scheinen „Aufsteiger“ aus diesem Milieu zu sein, und benehmen sich dementsprechend. Früher nannte man so etwas wohl Kapos. Von den Sozialarbeitern ist hier oben nichts mehr zu sehen.

Ich hole mir am Schalter das Abendessen, ein lieblos zubereitetes Kartoffelgemüse mit einem un-
definierbaren Stück Fleisch und setze mich an einen der vielen Tische. Der Saal, in dem etwa 120 bis 150 Blaumänner hocken, ist Essraum, Aufenthaltsraum und Fernsehraum zugleich, eine An-
häufung von Hässlichkeit, Ungemütlichkeit und Schmutz. An der Wand rechts von mir ein kit-
schig-pseudokünstlerisches Mosaik, an der Wand gegenüber bröckelt der Putz, dunkle Flecken überall. An der Stirnwand hängt ein Fernsehgerät, daneben ein übergroßes Kruzifix mit dem „Bal-
kensepp“, wie mir mein Nachbar erklärt. Beim Essen zerbreche ich zwei Plastikgabeln und ein Plastikmesser, sogar das Plastikbesteck in Stadelheim hatte eine bessere Qualität. Bier oder Alko-
hol wird nicht ausgeschenkt, nur Limo und Cola, außerdem spuckt ein Automat für 50 Pfennige eine Brühe aus, die wechselweise als Kaffee, Schokolade oder Fleischbrühe angegeben wird.

Im Fernsehen läuft eine Peter-Frankenfeld-Schau, aber zu verstehen ist nichts, da der Raum – siehe oben – vielfältigen Zwecken dient. Worte und Gesang gehen unter in einem Gewirr von Ge-
schirrklappern, Gesprächen, Rufen und herumeilenden Hauseln. Ich habe das Gefühl, hier wird alles getan, um den Aufenthalt so ungemütlich wie möglich zu gestalten, anderenfalls müsste man diesem Staat, vertreten durch die Stadt München, tiefste Menschenverachtung und antisoziales Verhalten vorwerfen. Fast in jeder kleinen Dorfkirche hängt eine Madonna oder ein Altarbild, von deren Erlös man ein menschenwürdigeres Heim bauen könnte, mit getrenntem Eß-, Aufenthalts- und Fernsehraum. Hier ist alles grau, düster, verraucht, dreckig.

Punkt 21.30 Uhr schaltet einer der Aufseher den Fernseher ab, die Küche wird geschlossen, der Saal muss geräumt werden. Ich gehe langsam die Treppen zum zweiten Stock hinauf, wo im Schlaf-
raum 21 das Bett Nr. 253 auf mich wartet. Unbewusst habe ich diesen Augenblick bis zuletzt hi-
nausgezögert, weil ich mir nach den bisherigen Eindrücken dieses Nachtlager ungefähr vorstellen kann. Beim Treppensteigen lese ich ein Schild: „Das Liegen auf den Gängen ist erlaubt.“ Und noch etwas fällt mir auf: Eine gewisse Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft unter den Insassen. Man sieht mir scheinbar den „Neuen“ an, den jedes Mal, wenn ich suchend um mich blicke, fragt mich jemand, ob ich etwas suche. Auch später mache ich diese Erfahrung noch öfters. Nirgends erlebe ich Streit oder gegenseitiges Anpöbeln, allerdings ist es eine mit Derbheit gemischte Freundlich-
keit. Man haut sich kräftig auf die Schulter und furzt laut, während man sich mit dem anderen unterhält.

Als ich die Tür zum Schlafsaal öffne, in dem bereits das Licht gelöscht ist, bleibe ich wie versteinert stehen. Eine Wolke aus Fußschweiß, Urin, Insektenpulver und Sperma fällt wie ein Hammer auf mich, entsetzt pralle ich zurück. Hier soll ich die Nacht verbringen? Unmöglich! Im Dunkeln er-
kenne ich acht Doppel- und zwei Einzelbetten. also schlafen achtzehn Mann im Raum, dessen zwei Fenster weit offen stehen, und trotzdem dieser entsetzliche Gestank. Ich schleiche mich zu meinem Bett. lege die Plastiktüte drauf, eile schleunigst wieder auf den Gang hinaus und zünde mir erst einmal eine Zigarette an. Das Rauchen in den Sälen ist strengstens verboten. Ich setze mich auf eine Stufe der Treppe und starre vor mich hin. Ich könnte jetzt gemütlich zu Hause sitzen und mir einen Film ansehen. Mir fällt ein, dass heute Abend Herbert Röttgen als Inquisitor in einem Film von Luisa Francia auftritt, das hätte mich amüsiert. Ich könnte jetzt auch mit Freunden in einer Kneipe sitzen und gemütlich quatschen. Stattdessen muss ich nun diese Nacht in einem Inferno der Hässlichkeit verbringen, in einem Nachtasyl, demgegenüber der Knast noch wohnlich wirkt. Ich fühle eine Wut in mir aufsteigen, eine Wut gegen mich selbst, weil ich freiwillig hierher gekom-
men bin und eine Wut auf unser Sozialsystem, das diese Apokalypse des Elends geschaffen hat. Die Wut weicht der Verzweiflung, ich gehe auf die Toilette, schließe mich in eine Kabine ein und mache einige Notizen.

Habe ich Toilette gesagt? Scheißhaus muss es heißen, im wahrsten Sinne des Wortes. Kot am Bo-
den, Kot an den Wänden, Kot an den Klosettdeckeln, ein entsetzlicher Gestank. Toilettenpapier ist anscheinend ein Luxusartikel, auf dem Boden liegen halbfeuchte Zeitungen, mit denen man sich den Hintern abwischen muss. Wieder zurück auf dem Gang merke ich, dass auch viele andere sich anscheinend vor den Schlafräumen fürchten. Überall hocken, stehen und laufen Leute herum, unterhalten sich, rauchen, lesen „Lassiter“ oder eine Zeitung und trinken Kaffee aus Plastikbe-
chern, denn ein Automat wie im Eßsaal steht auch hier draußen und ist die ganze Nacht über in Betrieb.

Plötzlich hockt Kurt neben mir auf der Treppe, Kurt aus Frankfurt, wie ich aus dem folgenden Gespräch erfahre, denn Kurt erzählt mir unaufgefordert sein Leben. Eigentlich fängt er damit an, dass er mir von seinem Kumpel erzählt, der von einem Auto angefahren wurde und nun in einer Klinik liegt. Den will er morgen besuchen. Kurt wohnt bereits seit August letzten Jahres hier im Heim. Er bezahlt zwei Mark für die Nacht und spart so die Miete für eine Wohnung. Kurt arbeitet tagsüber im Supermarkt als Lagerarbeiter. Aber im Grunde ist auch er ein Heimatloser, ein Nicht-
sesshafter. Es begann alles mit der Scheidung von seiner Frau.. Das war 1973. Er ging nach Ham-
burg und arbeitete im Hafen. Nach einem Unfall war er 14 Monate arbeitslos und lebte in einer Ba-
racke zusammen mit anderen „Asozialen“, wie er es selber nennt. Ich erfahre, wie er im Sommer 1975 in Amsterdam als Schausteller mit der Achterbahn verunglückte, nun ist er in München ge-
landet. Während des Gespräches, bei dem er mich zu zwei Kaffees einlädt, schluckt er Pillen und nimmt eine Medizin ein. Um Mitternacht schleicht er sich von dannen.

Plötzlich steht ein Kerl vor mir, mit einem Kreuz wie ein Kleiderschrank. Ein dicker Schädel auf einem Stiernacken, seine Hände, besser gesagt, seine Pranken, fuchteln vor meinem Gesicht he-
rum. „Do, schau mi o, wia mi die Bullen zuagricht ham“, klagt er, „dabei woit i bloß an Kiesl bsuacha. Hausfriedenbruch, ham’s gsogt. Do hob i gsogt: Ja, ja, die Groussn, die schnappts nia, aber uns Kloana finds oiwei.“ Es ist der Sepp aus Oberviechtach, ein Kerl wie ein Stier mit einem Gemüt wie ein kleines Kind. „Schau mi o“, sagt er, „i bin a Bayer und deshoib gäh i a am Samstag ins Stadion und wenn i 50 Mark für d’Kartn zoin muaß. Mia san wieda Moaster worn und deshoib gibts im Stadion Freibier.“ „Stimmt nicht“, fällt ihm ein anderer ins Wort, „das hams widerrufen.“ „Nacha gäh i hoit nach Rengschbuag zur Hochzeit vom Thurn und Taxis, do gibts auf jedn Foi a Freibier.“ Später landen wir im Waschraum, wo Sepp und Theo, so heißt der andere und kommt aus dem Waldviertel in Österreich, Groschenwerfen spielen. Sepp ist das schwarze Schaf in der Familie, seine fünf Brüder sind alle verheiratet und haben ihren Beruf, er gammelt seit 1971 in München herum, Theo übrigens seit 1973, sie kennen sich schon lange, wie sich auch fast alle an-
deren hier von irgendwo her kennen, vom Matthäser, von Schyrenplatz, von der Pilgersheimer Straße, vom Großmarkt. Wenn sich der Sepp nach den gewonnenen Groschen bückt, dann stöhnt und keucht er und muss sich mit der einen Hand aufstützen, und Theo rülpst alle paar Minuten und jammert dann: „Die verdammte Magensäure!“ Sepp ist 38 Jahre alt, Theo etwas jünger. Mir fiel auf, dass hier kaum jemand unter 30 ist, die meisten zwischen 30 und 50, einige auch älter.

Auf den Gängen draußen wird es nie ruhig, obwohl um 11.00 Uhr einer der Aufseher das große Licht gelöscht hatte und mahnte: Seids etwas ruhiger. Aber die Ruhe kehrt hier nie ein. Dauernd humpelt einer aus einem Schlafraum zur Toilette, dauernd dringt Stöhnen, Schnarchen und Husten aus den Räumen, irgendwo furzt jemand laut. Einer rennt mit den Händen herumfum-
melnd durch die Gänge und murmelt vor sich hin, spricht mit sich selber. Andere schleichen die Treppen herunter und holen sich wieder einen Kaffee. Überall liegen massenweise Plastikbecher herum. Das Haus scheint eine Schlangengrube zu sein, eine einzige Anhäufung von Elend, Ver-
zweiflung, Krankheit, Gebrechen und Paranoia. Ich sehne das Ende der Nacht herbei und habe nur einen Gedanken: Hoffentlich komme ich hier wieder heraus. Ich renne in den Wachraum, wo ich ein offenes Fenster zur Straße entdeckt habe und blicke sehnsüchtig auf die Straße, wo ab und zu ein Bus vorbeifährt, wo ab und zu ein einsamer Nachtbummler vorbeihuscht. Dass die Menschen hier sich dieses Leben gefallen lassen. Verdammt noch mal, ist denn noch keiner auf den Gedanken gekommen, einmal alles zusammenzuschlagen, die Bude anzuzünden? Dass die hier das alles so einfach hinnehmen, diese dreckigen Schlafsäle, diesen hässlichen Aufenthaltsraum, den miesen Fraß. Und das alles in einem Staat, der von Luxus überquillt, wo Millionen Autos herumfahren, Millionen Fernsehgeräte und Kühlschränke stehen, ein Staat, der Milliarden verpulvert, für die Rüstung, für die Subventionierung von wohlhabenden Fabrikbesitzern und Bauern, für die Ver-
nichtung von Lebensmitteln.

Ich muss an Mainz denken, wo sich die Stadtstreicher, Berber genannt, organisiert haben und eine Zeitung herausgeben, in der sie die Stadtverwaltung und die Polizei angreifen und ihre Probleme darstellen, oder an Stuttgart, wo es auch eine Initiative von Stadtstreichern gibt. Ich muss auch an den Berliner Pfarrer Gundolf Herz denken, der nach dem Tode eines Stadtstreichers eine provo-
kante Anzeige aufgab:

Am 15. März 1980 verstarb Paul Sanow, genannt Mause-Paul, im Alter von 54 Jah-
ren. Er lebte seit rund 25 Jahren am Bahnhof Zoo. Er war beliebt und wurde oft ge-
schlagen. Nach seiner 33. Verurteilung wegen Hausfriedensbruchs hat er nun eine Heimat gefunden. Viele haben zu seinem Tod beigetragen.

Die Reaktion darauf? Ein offener Brief in einer Springerzeitung, von dem zuständigen Polizeibe-
amten, Kriminaloberkommissar Johann Janzen: „Der Pfarrer verkennt das Problem der Obdachlo-
sigkeit. Es kann nicht hingenommen werden, dass sich Alkoholiker, Räuber und Diebe im Bahnhof Zoo einnisten.“

Klar, wer kein eigenes Haus hat, begeht halt Hausfriedensbruch. Ach, ich wünschte, der Friede in manchen Häusern würde noch viel häufiger gebrochen.

Kurz vor 2.00 Uhr raffe ich mich auf und schleiche in meinen Schlafsaal, wo immer noch der Ge-
stank wie ein Schlag auf mich einwirkt. Ich krieche angeekelt unter die Decken und versuche zu schlafen. Unmöglich! Irgendwo murmelt jemand im Schlaf, ein anderer schnarcht unerträglich, ein Dritter hustet, ein Vierter furzt laut. Ich ziehe die Flasche Wermut aus der Tüte und lasse mich vollaufen. Die Nacht scheint nie zu enden und immer wieder die Furcht – ich kann mich nicht da-
gegen wehren – es gibt kein Herauskommen aus diesem Bau. Ich dämmere so dahin und werde gegen 7 Uhr wach. Ich bin der letzte, die anderen sind schon alle fort. Ich mache das Bett und dabei merke ich, dass es die Decken sind, die so entsetzlich stinken. Das gab’s nicht mal im Knast. Ich wasche mich und gehe in den Eßsaal hinunter. Es gibt einen halben Liter Milch, die bläulich und wässerig schimmert, so dass ich sie stehen lasse, zwei watteweiche Semmeln vom Vortage, ein kleines Stück Butter und etwas Marmelade.

Ich ziehe noch einmal für 50 Pfennige die Brühe aus dem Automaten und esse dazu eine Semmel mit der Butter. Dann eile ich zum Umkleideraum und verlasse fluchtartig das ungastliche Haus. Die Schar der Stadtstreicher und Obdachlosen verliert sich mit mir in den Straßen der Stadt.

Peter Schult

P.S.: Am nächsten Abend hat mich mein Freund Cosimo zur Eröffnung seines neuen Restaurants in Haidhausen eingeladen. An der Tür begrüßen mich zwei uniformierte Diener. Sie verlangen die Einladungskarte. Ich zeige sie und sie öffnen mir mit einem Diener die Tür. Ich habe dieselben Sa-
chen an, mit denen ich am Vortage im Nachtasyl war. Es werden Cocktails gereicht, dann gibt es Artischockenherzen in Öl, Kalbsmedaillons mit Schinken und Zitronensoße, Zuppa Romana, Es-
presso, Cognac, dazu eine Flasche Barolo, Jahrgang 1973. Cosimo stellt mir seine weitverzweigte Verwandtschaft vor, und er ist untröstlich, dass ich vor Beginn der eigentlichen Feier wieder davon eile. Ich kann ihm weder meine eigene Schizophrenie noch die unserer Gesellschaft erklären. Ich kann nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, den ich am liebsten rausgelassen hätte. Wir müs-
sen mit dieser Schizophrenie leben, aber keiner kann uns sagen wie …


Blatt. Stadtzeitung für München 173 vom 6. Juni 1980, 16 ff.

Überraschung

Jahr: 1980
Bereich: Armut