Materialien 1980

Die etwas unheimliche Begegnung eines Blatt–Reporters mit einer bisher unbekannten Randgruppe

Es war nachts, so zwischen zwei und drei Uhr, auf dem Wege vom Stachus zum Marienplatz. Die Fußgängerzone lag ausgestorben vor mir, weit und breit war kein Mensch zu sehen, als ich plötzlich ein Seufzen vernahm, das in ein dumpfes Stöhnen überging.

Ich blieb wie angewurzelt stehen und sah mich um. Da entdeckte ich im Schatten des Richard-Strauß-Brunnens vor dem Bürgersaal einen Streifenwagen mit abgeblendeten Lichtern. Neugierig schlich ich mich näher und erkannte die Quelle der Seufzer und des Stöhnens. Zwei Polizisten hockten auf dem Brunnenrand, hielten sich gegenseitig umschlungen und schluchzten herzerweichend. Schon wollte ich mich diskret wieder zurückziehen, da stieß ich gegen einen der dort herumstehenden Gartenstühle. Die beiden schreckten auf, sahen mich etwas verlegen an und der eine, der kleinere von den beiden, wischte sich noch schnell mit der Hand eine Träne von der Wange.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ fragte ich rasch, um die aufkommende Verlegenheit abzubauen. Der größere der beiden, ein bulliger Typ mit einem Kreuz wie ein Kleiderschrank, schüttelte den Kopf und murmelte leise: „Uns kann keiner mehr helfen.“ „Aber vielleicht doch“, warf ich ein, „ich bin nämlich von der Presse.“ „Von der Presse?“ stöhnte der Kleine, „auch das noch. Die haben uns doch längst abgeschrieben und verschaukelt.“ „Nein, nein,“ wehrte ich ab, „von der Presse bin ich nicht, ich bin weder von der Bild-Zeitung noch vom Münchner Merkur, ich bin beim Blatt, wissen Sie, das ist eine alternative Zeitung …“ „Hören Sie auf, Mann, das Blatt kennen wir, die kümmern sich um jede nur denkbare Randgruppe, von den Zigeunern über die Stadtstreicher bis zu den Päderasten, aber für uns, eine wirklich unterdrückte Minderheit und echte Randgruppe, haben sie keine einzige Zeile übrig.“ Der Mann kam richtig in Rage.

Bevor ich auch nur ein Wort entgegnen konnte, sprudelte es nur so aus ihm heraus: „Wissen Sie, das 500 Kollegen von uns keine Wohnung haben; wissen Sie, dass 800 Kollegen von uns aus München fortwollen und nicht dürfen, dass man sie zwingt, in dieser … wie sagte doch Ihr Kollege Rädli immer … unmenschlichen, lebenstötenden Steinwüste zu bleiben? Wissen Sie, dass viele von uns einfach überfordert sind in der Großstadt, dass viele zurückwollen zur Heimaterde, auf das Land, dass sie sich nach der Scholle sehnen, dass sich bei uns eine Stadtflucht-Bewegung ausbreitet? Wissen Sie das alles?“

Ich schaute den Mann etwas ungläubig an. „Sie glauben mir nicht?“ sagte er fast böse und holte aus der Uniformjacke ein Bündel Zeitungsausschnitte hervor, die er mir fast drohend entgegenstreckte. Ich las: Für Polizeiwohnungen hat das Land kein Geld (Merkur vom 23.4.80), Unseren Polizisten stinkt es ganz gewaltig (tz vom 19.5.80), Viele junge Polizisten sind in der Großstadt überfordert (Merkur vom 2.4.80), Stadtflucht der Polizei (tz vom 19.5.80), 1.200 Polizisten wollen München verlassen (Süddeutsche Zeitung vom 7.7.80).

„Bitte entschuldigen Sie!“, murmelte ich etwas verlegen, „ich habe das wirklich nicht gewusst; es tut mir aufrichtig leid, dass ich manchmal so böse über Sie berichtete. Aber Sie haben doch auch einmalige Chancen bei der Polizei, die große weite Welt des Abenteuers, rauchende Colts, denken Sie an die GSG 9 …“

„GSG 9!“ Die beiden zuckten förmlich zusammen, und ich bemerkte ein nervöses Flackern in ihren Augen: „Mann! Sie scheinen tatsächlich keine Zeitungen zu lesen.“ Wieder kramte er in seinen Taschen und hielt mir einige Zeitungsausschnitte entgegen: Schmidts Leibwächter erschoss sich auf Flughafen (Bild vom 22.7.80), Selbstmordserie bei den Helden der GSG 9? (tz von Ostern 1980), Bereits der zweite Selbstmord unter Schmidts Leibwächtern (Bild vom 22.1.80).

„Ja, wenn das so ist, dann gibt es für Sie andere Möglichkeiten, aus München fortzukommen“, warf ich ein, „Sie müssen sich halt etwas Ausgefallenes einfallen lassen.“„Aha“, erwiderte der Kleiderschrank, „die Phantasie an die Macht, wie Sie immer in Ihrer Zeitung schreiben, aber was sollen wir denn machen?“

„Nun …“, sagte ich, das Wort in die Länge ziehend, und begann zu überlegen: „Sie könnten vielleicht keine Parksünder mehr aufschreiben. Nach einiger Zeit fällt es auf, dass keine Anzeigen mehr von Ihnen kommen, und Sie werden strafversetzt. Wäre das nichts?“ Die beiden überlegten. „Das wäre vielleicht eine Möglichkeit.“

Jetzt wurde ich hellwach, mein Kopf begann zu arbeiten, und mir fielen immer neue Möglichkeiten ein, sie in ihrer Problematik zu unterstützen, ihnen zu helfen. „Stellen Sie sich vor: Sie fahren mit einem dienstgei … Halt!“ unterbrach ich mich selbst, „das darf ich nicht sagen, das ist laut Beschluss eines Münchner Gerichts strafwürdig … diensteifrigen Kollegen im Streifenwagen und sehen plötzlich, dass einer bei Rot über die Kreuzung rast. Ihr Kollege sagt: ‚Hast du das gesehen?’ Und Sie sagen: ‚Nein’ und starren dem Auto hinterher. Der macht dann bestimmt Meldung, und wieder gibt es Strafpunkte für Sie und vielleicht eine Strafversetzung.“

Die beiden Polizisten sahen mich begeistert an, und ich merkte richtig, wie es in ihren Köpfen arbeitete.

„Oder“, ich sah weitere Möglichkeiten, „Sie mussten jemanden verhaften. Auf der Fahrt ins Polizeipräsidium halten Sie vor einer Stehkneipe, sagen zu dem Mann ,Warten Sie auf uns hier, wir müssen schnell noch ein Bier trinken’, und lassen den Wagen unabgeschlossen stehen. Wenn Sie das dann in der Ettstraße melden, werden Sie bestimmt nach Konzenberg, Post Haldenwang, Kreis Günzburg oder sonst wohin strafversetzt.“

„Konzenberg?“ Die beiden ließen sich das Wort wie Butter auf der Zunge zergehen, während ihre Augen verträumt lächelnd zu leuchten begannen.

„Es gibt Tausende von Möglichkeiten …“

Ich wurde durch einen lauten Knall unterbrochen; es hörte sich an, als hätte jemand mit einem Stein oder einem schweren Gegenstand eine Schaufensterscheibe eingeschlagen …

„Ein Schaufenster eingeschlagen?“ Der Bullige, der mit dem Kleiderschrank als Kreuz, sah mich provozierend an. „Ich habe nichts gehört. Hast Du etwas gehört?“, wandte er sich an seinen Kollegen. „Nein, ich habe auch nichts gehört“, erwiderte der und fixierte mich mit einem beinahe unverschämten Grinsen. Dann stiegen sie in ihren Funkstreifenwagen und fuhren in entgegengesetzter Richtung davon.

Peter Schult


Blatt. Stadtzeitung für München 179 vom 29. August 1980, 7.

Überraschung

Jahr: 1980
Bereich: Bürgerrechte