Materialien 1980

Besuche in Sackgassen

Nachdem das vor zwei Jahren bei Trikont erschienene autobiografische Buch von Peter Schult „Besuche in Sackgassen – Aufzeichnungen eines homosexuellen Anarchisten“ sich zum zeitweiligen Szene-Bestseller entwickelt hatte, von dem inzwischen auch ein Raubdruck existiert, tritt jetzt das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung auf den Plan: es stellt den Antrag, das Buch in die Liste der jugendgefährdenden Schriften aufzunehmen, was bedeutet, dass es aus der Öffentlichkeit verbannt ist und nur unter dem Ladentisch verkauft werden darf. Als Begründung schreibt das Staatsministerium:

Das Buch ist geeignet, bei jungen Menschen eine die Entwicklung gefährdende Verwirrung ethischer Normen zu bewirken.

Der Verfasser schildert, wie er sexuelle Beziehungen zu Kindern und Jugendlichen aufnimmt. Bis in einzelne Details beschreibt er seine sexuellen Praktiken der Knabenliebe. Er vertritt die Auffassung, dass die Gesellschaft diese Form der Sexualität zu billigen habe, dass die Verwirklichung der Forderung eine Bedingung dafür sei, dass eine Gesellschaft sich als frei und human bezeichnen dürfe.

Die entwicklungspsychologisch richtige Einsicht, dass die Sexualität des Jugendlichen nicht eindeutig heterosexuell im Sinne einer vorgegebenen Instinkthandlung geprägt ist, wird hier als eine Berechtigung interpretiert, Jugendliche zur Erfüllung sexueller Bedürfnisse „gebrauchen“ zu dürfen. Ein in unserer Kultur, im Grundgesetz und in einer anthropologisch verstandenen Humanität verankertes Bild vom Menschen wird hier grundsätzlich verneint. Den Verfasser lässt es unberührt, dass ein Kind, welches in einer sexuell ambivalenten Phase seiner Entwicklung in homosexuelle Praktiken eingeführt wird, in einer möglicherweise seine ganze weitere Lebensführung beeinträchtigenden Außenseiterrolle fixiert werden kann. Die in der Beziehung des Erwachsenen zum jungen Menschen unumgängliche sittliche Verantwortung wird hier um der Erfüllung eines individuellen Triebbedürfnisses willen missachtet.

Dabei werden Notlagen von Kindern ausgenutzt, etwa wenn sie aus Heimen oder Familien ausgerissen sind und Unterkunft suchen. Die hemmungslose individuelle Freiheit wird so als absoluter Wert gesetzt. Gleichzeitig aber wird jungen Menschen durch Verfügung über sie als Sexualobjekte, Dealer und Diebe die Möglichkeit zur freien Entscheidung genommen. Hier zeigt sich der Verfasser als ausschließlich auf eigene Trieberfüllung bezogener Feind jeder sozialen Verantwortung. Die Konsequenz dieser Haltung ist die Anarchie.

Eine weitere Tendenz des Verfassers ist nicht minder als jugendgefährdend zu sehen: er rechtfertigt den Handel mit Rauschgift. Den Einstieg bestreitet er mit Diebesgut. Diebstahl wird als legitime Möglichkeit, die eigene Situation zu verbessern, und so als selbstverständliche Möglichkeit der Lebensgestaltung dargestellt. Ebenso wird der Rauschgifthandel, dem er sich zuwendet, ohne jegliche Verantwortung hinsichtlich der möglichen Opfer als gangbarer Weg, Geld zu verdienen, gerechtfertigt. „Inzwischen kannte ich so viele Dealer, und noch mehr Kiffer, dass ich beschloss, meinen Lebensunterhalt und die Finanzierung der Wohnung einschließlich der Ausreißer (damals wohnten vier Jungens bei mir) durch den Verkauf von Haschisch zu bestreiten. Das Geschäft florierte glänzend.“ (S. 207/208). Oder: „Ich dealte einen Tag lang rund um die Uhr und hatte am anderen Tag einen Reingewinn von 10.000 DM.“

Dies alles wird politisch motiviert, indem die Gesellschaft letztlich für das individuelle Verhalten verantwortlich gemacht wird. Als Beispiel sei eine Passage aus dem „Inferno 71“ (Seite 215) angeführt: „… verwesend und stinkend wie die Gesellschaft, die hinter den mit geblümten Vorhängen verdeckten Fensterhöhlen der Betonsilos grunzend im Wohlstandsschlaf sich wälzt und den bonanzaverklärten Traum der heilen Welt träumt. In dumpfem Unterbewusstsein lauern sie auf den Startschuss zum großen Morgensturm, um sich mit Profitgier im Herzen und Mordlust in den Augen hinter die Steuerräder ihrer chromstahlverzierten Mordmaschinen zu schwingen, in sauberen Hemden schmutzigen Geschäften entgegeneilend, rücksichtslos alles niederfahrend, was sich auf dem Wege vor den Visieren ihrer Stoßstangen bewegt.“

Gerade diese Pseudologik eines legitimen Kampfes mit kriminellen Mitteln gegen eine korrupte, in sich kriminelle Gesellschaft erscheint für politisch interessierte jugendliche Leser besonders gefährlich. Es wird eine Gesellschaftsfeindlichkeit propagiert, die unmittelbar in die Isolierung und Anarchie führt.

Die in diesem Buch vertretene konsequente und militante Verneinung verbindlicher gesellschaftlicher Normen, die als Kampf um eine freiere Lebensordnung motiviert wird, ist geeignet, bei Jugendlichen eine nachhaltige sozialethische Verwirrung zu bewirken. Die damit verbundene politische Zielsetzung kommt einer gerade in der Pubertät häufigen Neigung zu radikalen Positionen entgegen.

Die Entscheidung fällt am 21. August.


Blatt. Stadtzeitung für München 178 vom 15. August 1980, 17.

Überraschung

Jahr: 1980
Bereich: Jugend