Materialien 1980

Aus der Begrüßung vor dem Gottesdienst am 3. Februar 1980

Die Matthäuskirche, liebe Gemeinde, ist am Freitag Vormittag besetzt worden. Sie haben durch den Rundfunk und durch die Presse davon erfahren. Die Verantwortlichen, der Dekan von München und die Pfarrer unserer Gemeinde, standen vor der Frage, was zu tun sei. Nach ganz kurzer Beratung haben wir das Eingreifen der Polizei, das uns angeboten worden war, in Berufung auf unser Hausrecht abgelehnt, denn Kirchenräume waren schon immer, und zwar seit dem frühen Mittelalter, Zufluchtsorte für Menschen in Not.

Wir haben die Motive der Besetzer bedacht und überlegt: Die Wohnungsnot hier in München ist tatsächlich gravierend. Weithin wird sie als unabänderlich schweigend hingenommen. Um Aufmerksamkeit und Protest gegen so manches Unrecht zu erzeugen, haben die Besetzer gemeint, einen spektakulären Schritt tun zu müssen. So kam es zur Besetzung der Matthäuskirche.

Die Wohnungsnot ist bereits am 20. August 79 Thema einer Predigt gewesen, in der Texte der biblischen Propheten ausgelegt worden sind. Einen theologischen Beitrag zum Problem des Wohnraummangels, den ich im Sommer vorigen Jahres geschrieben habe, hat das „Münchner Forum“ veröffentlicht, eine Vereinigung von Bürgern, der vorwiegend Architekten und Journalisten angehören. Ein weiterer Beitrag zu diesem Thema erschien in den „Nachrichten“, einer Fachzeitschrift für Pfarrer. Das Echo auf die drei Bemühungen, die von St. Matthäus ausgegangen sind, war nahezu null. Ich sage das, um es leichter zu machen, die Besetzung dieser Kirche zu würdigen.

Ich wurde gefragt, warum wir die Polizei, also die „Obrigkeit“, nicht bemüht haben. Ein Grund dafür unter anderen: Uns plagen Zweifel an der Obrigkeit. Es kann als sicher gelten, dass in München nicht wenige Wohnungen ohne behördliche Genehmigung in Büros umgewandelt wurden. Das hätte die Obrigkeit verhindern können; man hätte lediglich prüfen müssen, ob bei der Anmeldung eines Gewerbebetriebes in einem bisherigen Wohnhaus die Zweckentfremdung genehmigt worden war. Auch muss sich die Obrigkeit fragen lassen, ob sie ihren in der Bibel deutlich beschriebenen Auftrag (Römer 13, 1 – 7) noch recht wahrnimmt, wenn man in unserer Stadt eine erhebliche Anzahl von Wohnhäusern absichtlich verkommen lassen kann. Für den Verfall von Wohnhäusern finden sie ohne Mühe Beispiele in der nächsten Nähe unserer Kirche.

Noch ein Hinweis: Die Besetzung der Kirche ist bisher völlig gewaltfrei verlaufen. Wir wünschen uns, dass es so bleibt. Ich bitte Sie, alle Provokationen jeder Art zu unterlassen und im Kirchengebäude auch nicht zu fotografieren. Ein Fotoapparat auch in der Hand eines völlig harmlosen, kunstbeflissenen Kirchenbesuchers könnte heute leicht missdeutet werden. Ich berufe mich auf unser Hausrecht, wenn ich sage, dass auch Beamte des Verfassungsschutzes und Polizeibeamte nicht fotografieren dürfen!

Hans-Georg Lubkoll, Pfarrer an St. Matthäus und Vorsitzender des Kirchenvorstandes


Blatt. Stadtzeitung für München 165 vom 8. Februar 1980, 6.

Überraschung

Jahr: 1980
Bereich: Wohnen