Flusslandschaft 2000

Kapitalismus

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Die Mehrheit in der Bevölkerung verbindet mit dem Wort „Reform“ keine besseren Zukunftsaus-
sichten, sondern befürchtet eine Verschlechterung ihrer Lage. Deshalb sehen sich Wirtschaftsfüh-
rer veranlasst, die Leute über „die zwingende Notwendigkeit zu Reformen aufzuklären“. Die Grün-
dung der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft wird von der Metall- und Elektroindustrie mit 50 Millionen Euro Startkapital für die ersten fünf Jahre ausgestattet. Die neoliberale Propaganda gegen den „Gewerkschaftsstaat“, die „Überbürokratisierung“, die „Faulenzer“, die „Besitzstands-
wahrer“, das „Stillstandsland“ und den „Reformstau“ bekommt neuen Aufwind.

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„Im Jahr 2000 fand in Berlin im alten Reichstag ein Kongress statt. Zu dieser Zeit fanden in der Ruhr die großen Verlagerungen der Produktionsstätten in der Stahlindustrie statt. Die Stahlindu-
striellen sagten: Wir verdienen nicht genug. Es geht uns zwar gut, aber der Shareholder-Value steigt nicht rasch genug. Wir ziehen nach Osteuropa und Asien. Hunderttausende von Arbeitern und Ingenieuren, Männer, Frauen, gingen auf die Straße und protestierten. IG Metall, die größte Gewerkschaft Europas, mobilisierte diese Demonstrationen. – Wir saßen gegenüber. Gerhard Schröder, der ehemalige deutsche Bundeskanzler und Sozialdemokrat, ist ein lebendiger, kluger Mann, aber total entfremdet. Wir fragten ihn: ‚Du hast die Mehrheit im Bundestag. Warum kommt da kein Gesetz, das den Wegzug der Produktionsstätten stoppt? Das bringt doch Arbeitslosigkeit!‘ Jetzt möchte ich Herrn Schröder zitieren. Ich hatte deswegen genug Prozesse am Hals, aber ich habe die Aussage im Protokoll der damaligen Sitzung gefunden. Da sagt der deutsche Bundeskanz-
ler, der zusammen mit den Grünen die absolute Mehrheit im Bundestag hatte: ‚Niemand kann et-
was gegen die Kräfte des Marktes ausrichten. Die Industriellen an der Ruhr gehorchen den Geset-
zen des Weltmarktes. Persönlich bedauere ich ihre Entscheidung, aber es wäre eine gefährliche Torheit, sich dem Markt zu widersetzen.‘“2

Wie an der Börse an das große Geld kommen? Verkaufsschlager in Münchner Buchhandlungen ist: Dr. med. dent. Jörg Graf von Schweinitz und Krain, Mond und Börsengewinne, Delmenhorst 1999. Leserinnen und Leser erfahren, dass die Börsendaten um Neu- und Vollmond entscheidend und durch die lunaren kosmischen Gesetze bedingt sind.

Technik und Maschinen werden immer effektiver. Der Anteil der Erwerbsbevölkerung im Bereich der materiellen Produktion nimmt weiter ab. Um alle gesellschaftlich notwendigen (wer entschei-
det, was gesellschaftlich notwendig ist? der säzzer) Produkte herzustellen, reicht es, wenn jede und jeder Arbeitsfähige einige wenige Stunden in der Woche arbeitet. Darauf wies schon Charlie hin, der meinte, dass die Entwicklung der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Beziehungen die materiellen Bedingungen sind, um die kapitalistischen Produktionsverhältnisse „in die Luft zu sprengen, weil das Kapital hier – ganz unabsichtlich – die menschliche Arbeit auf ein Minimum reduziert“ und dies die Bedingung der Emanzipation der Arbeit ist, nämlich der vollen Entwick-
lung „der künstlerischen und wissenschaftlichen“3 Ausbildung der Individuen. Die Zeiten fordisti-
scher Vollbeschäftigung unter den Bedingungen wachsender Zuwachsraten sind endgültig Vergan-
genheit; die Lohnarbeitszeitgesellschaft steht selbst auf dem Prüfstand. In seinem neuen Buch „Arbeit zwischen Misere und Utopie“ fordert André Gorz, um den Ausstieg aus dem Kapitalismus sinnvoll vorzubereiten, die Umverteilung von Arbeit, die Wiederaneignung von kollektiver und individueller Zeitsouveränität sowie die staatlich garantierte Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens für jede/n.4 Diskussion und Propagierung des bedingungslosen Grundein-
kommens ist aus den Auseinandersetzungen der kommenden zehn Jahre nicht wegzudenken.

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(zuletzt geändert am 5.9.2023)


1 Grafik: Bernd Bücking. In: Aktienrausch – Crash – Börsenfieber. Grafikdienst Nr. 8, Institut für sozial-ökologische Forschung München e.V., September 2000, 31.

2 Jean Ziegler in einem Interview mit Kontrast.at am 18.4.2019, siehe https://kontrast.at/jean-ziegler-kapitalismus-neues-buch/.

3 Karl Marx, Grundrisse der politischen Ökonomie (MEW 42), Berlin 1983, 598 ff.

4 Vgl. André Gorz, Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt am Main 2000.

5 Grafik: Bernd Bücking. In: Tatjana Fuchs, Wieviel Reichtum können wir uns leisten? Von der Vielfalt menschlicher Ent-
wicklung oder – vom Reichtum, der Armut braucht, isw-Report Nr. 45. Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung München e.V., Dezember 2000, 8.

Überraschung

Jahr: 2000
Bereich: Kapitalismus