Materialien 1971

„Drecksbullen! Ihr bringt uns noch alle um!“

Münchner G’schichten

In München ereignete sich am 4. August 1971 ein Banküberfall der etwas anderen Art. Hans Georg Rammelmayr und Dimitri Todorov drangen an diesem Tag um 15.55 Uhr mit einer Maschinenpi-
stole bewaffnet in eine Filiale der Deutschen Bank in der Prinzregentenstraße ein und gaben sich als Teil der Roten Front aus. Die Forderung: Zwei Millionen Mark. Sollte die Deutsche Bank AG oder die Polizei diese Forderung nur in einem Punkt verletzen, so wird sich, laut Georg und Dimi-
tri, die Rote Front an der Bevölkerung rächen. Obwohl die beiden keinerlei Verbindung mit der Roten Front hatten, gelang es ihnen damit vorerst, Politiker_innen und die Polizei unter Druck
zu setzen. Im Laufe des Nachmittags rollten acht Hundertschaften der Polizei an, um den Bereich um die Bankfiliale vollständig abzuriegeln. Während die Stimmung bei den Politiker_innen, Vor-
standsvorsitzenden und Bullen im höchsten Maße angespannt war, entwickelte sich innerhalb des Bankgebäudes eine seltsame Dynamik zwischen Gangstern und Geiseln. Die Geiseln durften ihre Fesseln lösen und herumgehen, rauchen und sogar Sekt und Bier aus dem Kühlschrank der Filiale trinken. Die Stimmung wurde immer gelöster und nachdem die Gangster den Tresor geöffnet hatten, gaben sie jeder der Geiseln schätzungsweise 1.000 Mark „Schmerzensgeld“ und erlaubten diesen außerdem sich an der Beute selbst zu bedienen.

Auch vor dem Bankgebäude änderte sich die Stimmung. Die Straßen füllten sich mit Massen von Schaulustigen, die das Spektakel mit Pfiffen, Klatschen und Johlen kommentierten. Im Laufe des Abends wurden es schließlich rund 20.000 Münchener_innen, von denen einige Musik aus ihren mitgebrachten Kofferradios spielten. Die Atmosphäre war so erhitzt, dass nicht wenige von ihnen versuchten, die Absperrungen der Polizei zu durchbrechen, und so wurde der Großteil der Polizei-
einheiten dafür benötigt, die aufgebrachte Menge zurückzuhalten. Am 5. August entließen die Bankräuber um 14.45 Uhr den stellvertretenden Filialleiter und gaben ihm eine Probe hochbrisan-
ten Sprengstoffs für die Polizei mit, um ihre Forderung zu unterstreichen, Wenig später versicherte die Polizei den beiden freien Abzug und stellte ihnen ein Fluchtauto bereit. Die Übergabe des Lösegeldes war für 23 Uhr geplant.

Zwanzig Minuten vor Mitternacht trat ein Kassierer aus der hell erleuchteten Filiale, um einen Stoffbeutel mit zwei Millionen Mark und seine gefesselte und vermummte Kollegin, die Geisel, in das Fluchtauto zu bringen. Sekunden später trat der bewaffnete Hans Georg Rammelmayr aus der Filiale und begab sich gemessenen Schrittes und unter Beifall der Zuschauer_innen zum Auto. Um Punkt 23.41 Uhr eröffnete der erste Polizeischarfschütze das Feuer auf Rammelmayr. Daraufhin folgten augenblicklich Rufe aus der Menge: „Saubullen! Drecksbullen!“ Es fielen weitere Schüsse und innerhalb von wenigen Sekunden spitzte sich die Situation dramatisch zu. Schüsse, Blut, Verletzte und auch Tote bestimmten das hektische Bild.

Auf Opfer nahm die Polizei keine Rücksicht und auch das Schicksal der übrigen vier Geiseln war ihnen gleichgültig. Sie setzten zum Sturmangriff auf die Bank an. „Die Kugeln der Polizei pfiffen uns um die Ohren“, so eine der Geiseln. Als der überlebende Gangster bemerkte, dass er mit seinem Händen jetzt über Leben und Tod entscheiden kann, ergab er sich. Aber anstatt ihn fest-
zunehmen, verprügelten die herbeieilenden Bullen ihn und auch diejenigen unter den Geiseln, die versuchten sie davon abzuhalten.

Und auch hier hat die Polizei, beim Höhepunkt des Ereignisses, nämlich der angestrebten Flucht mit dem BMW, die Frage zwischen Geld und Tod denkbar einfach beantwortet: „Die Polizei tötet zwei Menschen und rettet den neben einer Blutlache liegenden Geldsack“.

Der Oberbürgermeisterkandidat der CSU, Zehetmeier, zog aus den Ereignissen die Lehre, dass „radikale politische Ideologien“, wonach „Bankgeschäfte Institutionen der Kapitalherrschaft seien, die nur dem Zweck dienten, die Lohnabhängigen zu unterdrücken und die es deshalb zu schädigen und vernichten gelte“ strengstens zu verurteilen wären. Der Todesweg des Bankräubers Rammel-
mayr erzählt jedoch eine gänzlich andere Geschichte: Der Staat bleibt keineswegs bei der morali-
schen Verurteilung von politischen Ideologien stehen, sondern schreckt nicht einmal vor der Er-
mordung derer zurück, die mutwillig die Spielregeln brechen und die Erfüllung ihrer materiellen Bedürfnisse nicht auf die Pension verschieben wollen, sondern diese im hier und jetzt mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln verwirklichen.

Wir benutzen den Unterstrich bei Wörtern wie beispielsweise „Anarchist_Innen“, da jedes Individuum die Möglichkeit haben sollte, sich selbst zu definieren, ohne sich dabei konstruierten Rollen wie „Mann“ oder „Frau“ unterwerfen zu müssen.

Fernweh. Anarchistische Straßenzeitung 1 vom Januar 2013, 8 (Email an fernweh@autistici.org, www.fernweh.noblogs.org).

Überraschung

Jahr: 1971
Bereich: Militanz