Materialien 1966

Revisionistica

Sätze gegen die kontemplative Demonstration

“Alles aber kauen und verdauen – das ist eine rechte Schweine-Art! Immer I-A sagen -
das lernte allein der Esel, und wer seines Geistes ist.“ Nietzsche

Unsere Polemik ist notwendig eine kontemplative Assoziationskette; denn wir sind gezwungen, nicht an einer Demonstration teilnehmen zu können, sondern Sätze niederschreiben zu müssen. Wir kommen post festum. Dies ist kein Artikel, sondern eine autoritäre Nörgelei. (Am 4. Juli, dem Tag der amerikanischen Unabhängigkeit, wurde in Frankfurt gegen die amerikanische Vietnam-
politik demonstriert – allerdings ohne Beteiligung des Frankfurt SDS, d. Red.)

Die Demonstration ist eine politische Aktionsform heute möglicher abstrakter Kritik. Sie ist ein po-
litisches Straßentheater, in dem die Abhängigen empört ihre verordnete Passivität darstellen. Sie ist eine Aktion ohne Aktivität.

Eine politische Demonstration gibt es nur von links.1

Der a priori zum Spaziergang mit der Polizei herabgesetzte politische Protest, bei dem der Bürger einmal auf der Straße, anstatt auf dem eigens für ihn eingerichteten Bürgersteig gehen darf, nimmt kritisches Erkennen in archaische Anschauung zurück.

Die Deklassierten, welche Not heute nicht beten, sondern verneinen lehrt, finden sich a priori auf die Straße gesetzt.

Liefert das legale Funktionieren der Demonstration ein Alibi für das Funktionieren der Demokra-
tie? Liefert die ausgefallene Demonstration ein Alibi für das Programm?

Die Genossen sind geneigt, die Verkehrsordnung über die demokratische Ordnung zu stellen. Was aber soll Ordnung in einem Schweinestall? (Frei nach Brecht gefragt.) Was soll gutes Benehmen, wenn wir nicht zu Tisch gebeten sind?

Schlechtes Benehmen ist nicht schon sozialistisch.

Münchener und Berliner Aktivismen sind ein blinder Reflex auf die Frankfurter Immobilität. Für diese gilt: wenn die formierte Gesellschaft ihr Grau in Grau malt, ist eine Gestalt der sozialistischen Theorie alt geworden.

Die Polizei kommentiert als friedliebende und schlagkräftige Parenthese jede Demonstration. Die eingeklammerte Demonstration ist ein politisches Kunstwerk. Ein in den Demonstrationszug fah-
render Polizist verwandelt die Genossen in panisch verwirrte kapitolinische Gänse. Diese retteten bekanntlich den römischen Staat. SEDERE AUDE!

Denn ein politischer Vorwurf ist die Bemerkung H. Marcuses, er habe in Amerika keine so gut an-
gezogene Studentenversammlung angetroffen wie hier in Deutschland. Mit einem guten Anzug setzt man sich nicht auf die Straße.

Der Tritt gegen das Schienbein eines Polizisten ist die blindwütige Antwort der hilfs- und gedan-
kenlos an die Legalität Ausgelieferten.

Die Polizisten sind gute Menschen, aber sie hetzen so (vice versa frei nach G. Büchner). In der Tat, die Polizisten sind gute Menschen; aber für wen? „Me-ti sagte: Der Staat hat kein Recht, einen Menschen für die Dauer zum Polizisten zu machen“ (Brecht).

Der „idealistische“ Versuch, die Polizei von der Regierung zu trennen, macht die Demonstranten zu Mitläufern.

Die ängstliche reservatio mentalis dem Krawall gegenüber – unter dem Vorwand, die passierende und schreibende Öffentlichkeit für die politische Kritik der Linken zu gewinnen – verkehrt die po-
litische Demonstration in einen narzistischen actus purus ästhetischer Innerlichkeit. Die Linke defiliert an sich selbst vorbei.

„Sie stelzen noch immer so steif herum, / So kerzengerade geschniegelt, / Als hätten sie ver-
schluckt den Stock, / Womit man sie einst geprügelt. / Ja, ganz verschwand die Fuchtel nie, / Sie tragen sie jetzt im Innern; / Das trauliche Du wird immer noch / An das alte Er erinnern.“ (H. Heine)

Sozialistischer „chorismos“: Die Genossen sitzen im Zimmer und besprechen den Aufstand, sie nehmen nicht teil. Ihre Delegierten aus den Vorständen nehmen an weit geöffneten Fenstern die protestierende Parade ab.

Kommentar der Genossen zur ohne sie misslungenen Demonstration: „quod erat demonstran-
dum.“ Frage: Ist das marxistische oder spinozistische Rationalität?2

Einer wandte ein: „Macht erst einmal eine Perspektive.“ Dagegen: „Jeder Schritt wirklicher Bewe-
gung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.“ (Marx)

Eine Demonstration ist keine wirkliche, nur eine scheinbare Bewegung, ebenso wie die Perspektive keine Theorie, sondern lediglich ein stalinistischer Theorieersatz ist.

Die Demonstration ist keine Praxis, vielmehr der Beweis ihrer gegenwärtigen Unmöglichkeit. Die Demonstranten sind keine Mäeutiker der Revolution.3

Die Behauptung, eine Demonstration, welche nicht das Bewusstsein des Publikums virtuell verän-
dere, sei sinnlos, beweist nur, dass die Demonstration ohne Bewusstsein stattfindet.

Der Vorwurf der Sinnlosigkeit demonstriert, dass der Protest deshalb eine begriffslose Existenz führt, weil die Wortführer der Sinnlosigkeit es vorziehen, nicht zu demonstrieren.

Kontemplativ die Sinnfrage an eine Demonstration gestellt, ist eine – im pejorativen Sinn dieses Attributs in der Marxschen Theorie – scholastische Frage, vergleichbar der nach dem Sinn von Sein oder dem des Lebens. Eine Demonstration ist eingebildetes Leben – sie hat keinen Sinn. Das macht ihre negative Natur aus: die Demonstration, die eigentlich hätte stattfinden sollen, hat nicht stattgefunden.

Die Demonstration ist ein moralisches Residuum der Empörung im politischen Rahmen: er ist es, den wir uns vorschreiben lassen oder gegen den wir protestieren.

Die Demonstration ist kein remedium universalis, vielmehr ein aufgeschlagenes Handbuch der Unmoral.

Gewiss, die Demonstration ist ein Abstraktum, aber die individuellen Demonstranten sind sinn-
lich wahrnehmbar; die Passanten können auf sie mit Fingern zeigen.

Die Demonstration gibt sich also nicht zum Religions- oder Metaphysikersatz her. Ihre Sinnlichkeit ist die „fröhliche Wissenschaft“, die beides als unnötigen Ballast kritisiert.

Die Demonstration ist der leidenschaftliche Müßiggang der an sich selbst Interessierten.

Verbieten wir uns den politischen Luxus der Demonstration um der asketischen Theorie willen?

Lenin soll im Schweizer Exil oft bis zu fünfzehn Stunden angestrengt arbeitend in der Bibliothek zugebracht haben. Kontemplation beim Begriff genommen, hört auf, interesseloses Anschauen zu sein, sondern die angestrengte Konzentration auf den Gegenstand überträgt sich auf diesen als kritische Kraft. Die Klausur bildet Revolutionäre – züchtigt sie leider auch oft zu Asketen.

Die sozialistischen Studenten lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass das Wort „Genosse“ nicht von „genießen“ stammt (frei nach Karl Kraus). Unsere enthaltsamen Demonstrationen sind der schwindsüchtige Begriff zu Fuß.

Waldemar und Jonathan Buchel

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1 Wir sind uns durchaus bewusst, dass einige Sätze unserer Polemik auf Plakaten stehen könnten; das ist ihr Vorteil.

2 per analogiam cum grano salis: „Aber eine proletarische Partei lässt sich nicht zum Gegenstand kontemplativer Kritik machen, denn jeder ihrer Fehler ist ein Produkt des Umstands, dass sie nicht durch wirksame Teilnahme besserer Kräfte davor bewahrt worden ist … Bürgerliche Kritik am proletarischen Klassenkampf ist eine logische Unmöglichkeit.“ (Heinrich Regius)

3 Die nahezu eingeebnete Differenz von Bewusstsein und produktiver Alltagspraxis, Überbau und Basis setzt Marx’ elfte These über Feuerbach in ihrer revolutionären Unmittelbarkeit außer Kraft. Wir müssen die wirkliche Welt um so revolutio-
närer interpretieren, je weniger sie sich wirklich ändert.


Neue Kritik vom Juni/August 1966, 56 f.

Überraschung

Jahr: 1966
Bereich: Alternative Szene