Materialien 1981

Herbst in Haidhausen

(Auszug aus einem unveröffentlichten Romanfragment)

… Sie hatten inzwischen die Georgenstraße erreicht und Herbert stoppte den Wagen vor der Redaktion. Allerdings klang das schon beinahe wie Hochstapelei, die Redaktion hauste in einem großen Raum, der vor Jahren eine Gastwirtschaft beherbergt hatte und nur einige kleine Nebenräume einschloss, die einstmals als Küche, Toilette und Biermagazin dienten. In einem Durcheinander aus gebrauchten Schreibtischen, veralteten Sofas, beschädigten Fernsehern, diversen Schreibmaschinen aller möglichen Bauarten, Bergen von alten Ausgaben der Zeitschrift, einer modernen Telefonanlage als einziges Zugeständnis an die Technik, neben dem Composer, einen stets unaufgeräumten Esstisch, auf dem Käse- und Wurstreste langsam austrockneten, Brotkrümel verschüttete Milch aufsaugten und ein Dutzend verschiedener Kaffeetassen unausgewaschen herumstanden, herrschte die Hektik einer im Entstehen begriffenen Zeitschrift. Die Wände zierten ein paar Hundert Titelbilder der bisherigen Ausgaben und ein Sammelsurium von Plakaten, auf denen zu längst vergessenen Demonstrationen aufgerufen oder Musikveranstaltungen angekündigt wurden. Am Lay-out-Tisch brannte helles Licht unter der Glasplatte, darauf lagen die Millimeterbögen für die neue Ausgabe und darum ein wüstes Konglomerat aus alten Fotos, Lay-out-Material, auseinandergeschnippelten Artikeln, Radiergummis, Linealen, Dreiecken, Farbstiften, Scheren, Aschenbechern, Klebstoffen, Bierflaschen, Kaffeetassen und Weingläsern. Letztere signalisierten ihm die Anwesenheit von Renate, die im Augenblick nicht zu sehen war. Die Telefonapparate waren alle besetzt, in vier Muscheln wurde gleichzeitig gesprochen, geflüstert, geschimpft, gebrüllt, die Gesprächsfetzen vermischten sich zu einer unverständlichen Geräuschkulisse. Jemand wollte wissen, was für ein Film in irgendeinem Kino lief, ein anderer gab Auskunft über eine Veranstaltung, die demnächst stattfand, ein Dritter nahm einen Bericht auf, in dem lauter ihm unbekannte Namen genannt wurden, so dass er sekundenlang überlegte, ob es sich um den Gig einer Band handelte oder um die Sitzung eines Dritte-Welt-Komitees. Aus dem Nebenzimmer drang eine helle Frauenstimme zu ihm herüber, die sich mit jemanden für später zu verabreden schien und er wusste sofort, dass es nur Renate sein konnte.

Wie immer, wenn er die Redaktion betrat. stand er etwas bedrückt und verwirrt dem Chaos gegenüber. Obwohl er seit über acht Jahren für die Zeitschrift schrieb, war er nie ganz sicher, ob all die Leute, die er stets dort antraf, zur Redaktion gehörten, oder nur mal zufällig hereingeschaut hatten und die Gelegenheit für ein Telefongespräch ausnutzten, oder ob sie eventuell hier aushalfen, denn jeder fühlte sich in der Redaktion zuhause und benahm sich dementsprechend, griff zur Bierflasche, schenkte sich einen Kaffee ein, aß ein Wurstbrot und blätterte in den soeben geschriebenen und für das Lay-out auseinandergeschnittenen Artikeln, so dass sicher in der nächsten Ausgabe mal wieder die Absätze verwechselt wurden. Wenn sich auch sonst hier nichts veränderte, die Mitarbeiter wechselten häufig, zumindest die Schar der Helfer, Composerschreiberinnen und -schreiber und Lay-outer. Wie immer, wenn er die Redaktion betrat, warf er einen Blick in die Kaffeekanne und wie immer war sie auch diesmal leer. Natürlich traute er sich nicht zu fragen, ob noch irgendwo frischer Kaffee wäre, denn sicher riet ihm dann jemand, in die Küche zu gehen und einen zu machen. So setzte er sich erst mal auf eins der wackeligen Sofas am Esstisch und wartete darauf, dass sich jemand seiner erbarmte und den Artikel in Empfang nahm, um ihn flüchtig zu lesen, dann war er wieder entlassen. Im Grunde wollte er es auch so, da er sich seit jeher geweigert hatte, Teil dieses Chaos zu werden. Aus sicherer Distanz konnte er es liebevoll betrachten, aber in ihm zu arbeiten, bereitete ihm beinahe schon physische Übelkeit, ganz abgesehen davon, dass sein technisches Know-How im Notfall dazu reichte, ein Telefongespräch zu führen, wobei er bei den modernen Apparaten schon Schwierigkeiten hatte, den richtigen Knopf zu finden, der die Leitung freigab. Er konnte weder composern noch layouten und wie jemand in diesem Durcheinander einen Artikel redigieren, geschweige denn schreiben konnte, blieb ihm ein ewiges Rätsel.

Max, der einzige Proletarier unter den ausgestiegenen Töchtern und Söhnen der Bourgeoisie, dessen Vorliebe für starke und schnelle Motorräder oft das Missfallen der eingefleischten Umweltschützer erregte, die Autos bevorzugten, war mit dem Aufkleben von Artikeln beschäftigt, so dass er ihn nicht zu stören wagte, obwohl er gerade zu ihm ein gutes Verhältnis hatte, im Gegensatz zu einigen der Redakteure, denen er jedes politische Verantwortungsgefühl absprach und die die Zeitschrift mehr als eine alternative Spielwiese ansahen. Er schätzte seinen pragmatischen Sinn für das Notwendige, denn meistens fand er aus einem Wirrwarr von verworrenen Vorschlägen die einfache Lösung. Max sah kurz von seiner Arbeit auf und winkte herüber. „Haste ihn fertig?“ Peter nickte.

Herbert hatte sich von einem Stapel herumliegender Zeitschriften eine geangelt und blätterte darin herum. Tagtäglich trafen in der Redaktion Austauschexemplare anderer Stadtzeitungen und sonstiger Infos ein, eine Flut, die keiner lesen konnte und meistens auch nicht wollte. So wartete er geduldig, bis Renate ihr Rendezvous unter Dach und Fach hatte und zurückkam. Sie begrüßte ihn bereits von der Tür her mit einem lauten „Hallo!“, eilte näher und umarmte ihn, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass seine Jacke nicht an einem der unzähligen Badges hängen blieb, die ihre zerschlissene, speckig glänzende Lederjacke zierten. Als sie sich über das Manuskript beugte, betrachtete er mit einer gewisse Neugier die grüne Haarsträhne, die ihren schwarzen Schopf durchzog. Eigentlich steht sie ihr ganz gut, überlegte er und schielte auf ihr Gesicht, um eine Reaktion auf seinen Artikel ablesen zu können, aber der Ausdruck ihrer coolen, gelangweilten Augen ließ keine Aufschlüsse zu. Man muss es diesen jungen Leuten lassen, sie sind nicht so leicht aus der Fassung zu bringen, sinnierte er anerkennend, was sie rational erfassen können, kann sie nicht erschüttern, ihre Erregung, ihre Ängste sind emotional bedingt. Sie überflog die Blätter und nickte dann zufrieden. „O.K, das kann Irmi gleich composern, wir stehen wieder einmal unter Stress, alles kommt im letzten Moment. Da liegt übrigens noch ein Artikel über den RAF-Prozess, der muss noch überarbeitet werden, das könntest du eigentlich rasch machen.“ – „Liebste Renate“, begann er entschuldigend, „ich würde es wahnsinnig gerne tun, aber wir haben noch einen Treff wegen der Knastveranstaltung nächste Woche und sind sowieso spät dran. Deshalb kam auch Herbert gleich mit, um mich hinzufahren.“ – „Wann hast du schon mal Zeit, du könntest ruhig öfters am Produktionswochenende mithelfen.“ – „Geliebtes Töchterchen, das nächste Mal, ich verspreche es!“ – „Das kommt mir irgendwie bekannt vor,“ höhnte Renate, „na ja, dann muss es eben Sigi machen, der wollte sowieso schon längst da sein.“

Sie verabschiedeten sich und sahen sich auf der Straße grinsend an. „Uff! Das wäre geschafft, und jetzt?“ – „Jetzt wäre ein Kaffee mit Cognac das richtige.“ Herbert nickte zustimmend: „Und wo?“ – „Eigentlich wollte ich ja mal wieder in das Café am Johannisplatz, die haben heute bis drei auf, aber ich weiß nicht, ich habe keine rechte Lust, mich heute in dieses Panoptikum zu setzen, mir ist mehr nach Ruhe zumute.“ – „Nanu, bist du krank, oder wirst du alt?“ – „Nee, ich habe mich verliebt und das schwingt noch in mir nach.“ – „Etwa in Chris?“ – „Wie kommst du auf Chris?“ – „Na ja, er ist ja oft genug bei dir.“ – „Du irrst, Chris ist kein Junge, in den man sich verliebt, Chris liebt man. Nein, du kennst ihn nicht, er heißt Olly, aber du wirst ihn sicher noch kennen lernen.“ – „Wie wär’s dann mit einem Espresso und einem Grappa bei unserem Italiener?“ Peter nickte.

Er kauerte sich in den Sitz und überdachte noch einmal den Besuch in der Redaktion. Er liebte seine Zeitschrift und war zu allem bereit, um ihr zu helfen, sie zu unterstützen, doch in dem Chaos zu arbeiten, da blieb er standhaft und weigerte sich energisch. Wenn ich da drei Monate drin wäre, brächte ich keine Zeile mehr zusammen. Als er vor vielen Jahren seinen ersten Artikel für sie schrieb, war die Zeitschrift noch ein kleines unbedeutendes Sceneblättchen, zwar mit einem politischen Anspruch angetreten, aber auf eine höchst unverbindliche Art, mit idealisierten Selbstdarstellungen von Männer- und Schwulengruppen. Hauptsächlich brachte man Ratschläge und Tipps für das Leben in der Stadt, die Adressen von billigen Kneipen und Esslokalen und einen noch recht spärlichen Veranstaltungskalender. Dass man die erste Stadtzeitung in der BRD war, merkte man erst später. Eine gewisse Politisierung kam erst mit der ersten größeren Hausbesetzung, übrigens ausgerechnet in Haidhausen, wie er sich lächelnd erinnerte. Allmählich wurde man dann eine Art Sprachrohr verschiedener politischer Gruppierungen und Institutionen, zumeist aus dem Bereich der undogmatischen Linken, mit einem starken Anarcho-Sponti-Touch. Aus den verkauften 500 und 800 Exemplaren wurden allmählich 2 – 3.000. Der Ton wurde aggressiver und gezielter, die Informationen präziser, die Karikaturen der Zeitschrift fanden lebhaftes Interesse und wurden in der ganzen BRD nachgedruckt, sie galten als Markenzeichen ihrer Zeitschrift. Als die Leserzahl ständig stieg, frug man sich in der Redaktion mitunter verwundert, ob es nun die politische Richtung war, die ihren Erfolg bestimmte, oder nur der immer perfektere Veranstaltungskalender und die zahlreichen, mitunter sehr witzigen Kleinanzeigen, oder die Adressen der Kneipen, Cafés, Esslokale. Im Herbst 77, dem deutschen Herbst, waren sie auf einmal ein wichtiger Bestandteil der Gegenöffentlichkeit, brachten Nachrichten, Informationen und Kommentare, die man in den bürgerlichen Medien nicht mehr fand, weil die sich selber einen Maulkorb verpasst hatten und Selbstzensur übten. So gerieten sie auch immer mehr ins Visier der Staatsschutzorgane, wurden beschattet und verfolgt, ein Verfahren jagte das andere und der Politstaatsanwalt war Stammgast in der Redaktion. Aber sie hielten mit dem Mut der Verzweifelten stand und ließen sich nicht einschüchtern. So bekamen sie einen gewissen Ruf innerhalb der Bewegung, wurden überregional bekannt und gelesen und die Auflage stieg auf nahezu 18.000.

Damit war aber auch schon der Höhepunkt erreicht. Nach dem Zerfall der Bewegung, besser gesagt nach ihrer Atomisierung, taumelten sie ziemlich richtungslos durch die alternative Medienlandschaft. Der politische Gehalt wurde dürftiger, die Redaktionssitzungen arteten oftmals in Richtungskämpfe der verschiedensten Gruppierungen aus und jede versuchte der Zeitschrift ihren Stempel aufzudrücken oder sie sogar zu vereinnahmen, Regionalisten und Ökologen, Altlinke und RAF-Sympathisanten, Frauengruppen und Körnerfreaks, Alternativler und Spontis, Stadtindianer und Landfreaks. Obskure Gurus tauchten auf und benutzten die Zeitschrift als Bühne ihrer verschrobenen Gedankenakrobatik. Zum Glück gelang es keinem, das Blatt auf eine Linie auszurichten, aber die Zahl der Leser sank beständig. Es kamen andere, geschäftstüchtige Konkurrenten und gründeten ähnliche Zeitschriften. Sie übernahmen die Fassade, aber nicht die Inhalte, wurden alternative Werbeträger ohne alternativ zu sein. Sie betrieben Public-Relations-Arbeit für Schallplattenkonzerne, Musikagenturen und Bands, aber sie sahnten dabei ab und nahmen ihrer Zeitschrift die Leser. Seine Leute waren zu anständig, um ein Geschält aus der Zeitung zu machen, aber auch zu dilettantisch, um ein politisches Blatt zu schaffen, das richtungsweisend sein konnte. So vegetierte man mehr schlecht als recht dahin und hielt sich einen Stamm von Lesern, die manchmal nur aus Treue noch die Zeitschrift kauften. Trotzdem bewahrte man natürlich den politischen Anspruch und veröffentlichte vieles, was in den anderen Blättern nicht mehr zu finden war, Berichte über politische Proteste, Mißstände in Knästen und psychiatrischen Anstalten, Willkür der Justiz, Analysen neuer Bewegungen und den Protest der Jungen. Neidisch schielte man nach Berlin und Zürich, nach Freiburg und Bremen und versuchte zu vergessen, dass man in München lebte.

Als sie sich beim Italiener gegenüber saßen und Antonio ihnen den heißen, schwarzen Espresso und den eiskalten Grappa gebracht hatte, sah Peter nachdenklich in den Rauch seiner Zigarette. „Ich habe heute eine Leichenschändung begangen.“ – „Wieso, mit wem hast du denn geschlafen?“ Peter lachte. „Ausnahmsweise mal mit keinem. Nein, ich meine den Artikel, den ich gerade ablieferte. Es sollte eine Kritik der Scene werden, eine solidarische Kritik, vielleicht sogar richtungsweisend, aber es wurde nur eine etwas gehässige Abrechnung mit einer Scene, die längst tot ist. Sie ist gestorben, wenn auch die Leute weiterleben, weiterwursteln, aber sie werden nichts mehr bewegen. Die Bewegung existiert nicht mehr.“ – „Und wie wird es weitergehen?“, frug Herbert. „Eigentlich weiß ich nur, wie es nicht weitergehen kann, nämlich so wie bisher“, erwiderte Peter und rührte gedankenversunken in seiner Espressotasse. „Wir stehen am Anfang eines Prozesses des totalen Umdenkens, von dem keiner weiß, wie er enden wird und wo er enden wird. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind wir an einem Punkt angelangt, da es Menschen möglich ist, mit einem Druck auf den Knopf die gesamte Menschheit und unseren Planeten dazu in die Luft zu pusten und nur wenige haben das bisher in seiner ganzen Tragweite begriffen. Sie ahnen es vielleicht, aber wenn sich das einmal in den Köpfen festgesetzt hat, dann wird dieser Bewusstwerdungsprozess die Menschen in einem Ausmaß verändern, wie wir uns es nicht vorstellen können. Das Christentum oder der Kommunismus haben uns vielleicht geritzt, aber der Gedanke, dass irgendein Wahnsinniger, ein Reagan oder ein Weinberger oder ein Andropow – wobei ich die Russen noch für vernünftiger halte als die Amerikaner – die Erde mit allem, was darauf ist; auslöschen kann, dieser Gedanke wird die Menschheit völlig umkrempeln. Das war vor hundert Jahren noch völlig unvorstellbar, vor fünfzig Jahren haben es einige wenige geahnt, selbst nach Hiroshima hielt man nur kurz inne und wurstelte dann weiter und auch die Antiatombewegung der 50er Jahre erkannte die Tragweite noch nicht, konnte sie auch noch nicht erkennen, weil man damals erst am Anfang einer Entwicklung stand, die in den letzten zehn oder zwanzig Jahren allen aus den Händen entglitten ist. Und seitdem hat erst das Umdenken begonnen, es dringt allmählich in das Bewusstsein der Leute.

Das geht nicht mehr von einer bestimmten politischen Richtung aus, wenn es auch manche zu beeinflussen oder für sich zu vereinnahmen suchen, das läuft quer durch alle Parteien, Religionen, Weltanschauungen, Klassen und wirft alle Etikettierungen über den Haufen. Da gibt es weder rot noch schwarz, weder links noch rechts, weder reich noch arm, weder oben noch unten. Da stehen auf einmal Kardinäle, Generäle, Kommunisten, Demokraten, Christen, Juden, Atheisten in einem Lager gegen Kardinäle, Generäle, Kommunisten, Demokraten, Christen, Juden, Atheisten im anderen Lager. Das verwirrt viele, die noch an den alten Etikettierungen festhalten, aber das sind im Grunde nur noch lächerliche Relikte atavistischen Denkens. Wenn dann plötzlich ein General im Bundestag aufsteht und die sofortige Beendigung des Wettrüstens fordert, dann können die anderen nur noch verunsichert mit Gelächter und Buh-Rufen reagieren, weil ihnen das einfach nicht in den Kopf geht und einem Kommunisten, der in der UdSSR dasselbe fordert, droht die Psychiatrisierung oder das Arbeitslager. Auch unserer Scene mit ihrem Schwarzweißdenken und ihren Argumenten aus der Mottenkiste der Weltgeschichte ist das noch nicht unter die Haut gegangen, auch wenn sie vielleicht grün wählen.

Es wirft alles über den Haufen, was wir bisher gelernt haben und ich kann mir nicht helfen, das haben die Jungen mit ein paar flotten Sprüchen zwar nicht verstanden, aber unbewusst demonstriert. Sie reagierten wie Seismographen. Kein Grund zur Panik, wir sind auf der Titanic, das umreißt unsere Situation und No-Future, das ist unsere Perspektive, vorausgesetzt, es gelingt nicht eine Änderung um 180 Grad herbeizuführen und das hieße, das System von Grund auf zu verändern, umzukrempeln. Das heißt in letzter Konsequenz, jeder, der eine atomare Aufrüstung bejaht oder unterstützt, ist letztenendes ein Feind der Menschheit, ein Verbrecher, egal ob er nun Demokrat oder Kommunist ist, Rechter oder Linker, Christ oder Atheist.

Das bringt natürlich auch alle unsere Schablonen durcheinander, nach denen wir bisher Politik gemacht und Menschen klassifiziert haben. Wir müssen bei Null anfangen, können unsere Erfahrungen vergessen, sie sind keine Richtlinien mehr, sondern höchstens Anhaltspunkte für eine neue Orientierung. Deshalb war mein Artikel heute auch nur eine Leichenschändung, er ging völlig an dem vorbei, was mich beunruhigt, bedrückt …“ – „Ist das nicht eher eine Vision, die du andeutest und kein politisches Konzept für den Alltag?“, warf Herbert ein und sah etwas verunsichert auf das Grappaglas neben der Kaffeetasse.

„Natürlich ist es eine Vision, aber keine himmlische, sondern eine sehr irdische, die Konsequenzen verlangt, von denen sich so mancher Friedensmarschierer noch keine Vorstellung machen kann. Was da abläuft, erinnert noch zu sehr an die Ostermärsche und Friedensmärsche der 50er Jahre. Anschließend geht man dann wieder beruhigt in die Fabrik zurück und produziert computergetriebene Fernsteuerungen, von denen kein Mensch weiß, wo sie eingebaut werden, oder hast du schon einmal gehört, dass die Gewerkschaften zu einem weltweiten Generalstreik gegen die Rüstungsindustrie aufgerufen hätten? Da ist mir ja unsere Scene noch hundertmal lieber, von der ich wenigstens weiß, dass sie nicht in solchen Mordwerkstätten arbeitet. Und wie viele von diesen Marschierern wählen alle vier Jahre noch eine Partei, die zu 90 Prozent die Nachrüstung bejaht? Das zeigt mir, dass der Prozess des totalen Umdenkens auch bei denen noch nicht begonnen hat.

Nein, mein Lieber, die völlig neue Situation erfordert völlig neue Wege, nur kennen wir sie noch nicht, aber wir sollten wenigstens beginnen, nach ihnen zu suchen. Natürlich gibt es Ansätze, Möglichkeiten, Modelle, von Marcuses totaler Verweigerung bis zur Theorie der Subversivität, aber die meisten endeten in Sackgassen, versagten mangels Masse oder wurden auch brutal unterdrückt. Sicher, auch mir ist klar, dass der bewaffnete Partisan zu den atavistischen Modellen gehört, zumindest in den technisch hoch entwickelten Ländern Europas und Nordamerikas, doch eine Destabilisierung des Systems, indem man den Guerillakampf in die Hirne der Menschen pflanzt, wäre denkbar. Es gibt da keine starre Strategie, keinen Plan, kein Konzept, keine Ideologie, die Zeit der Ismen ist passé, der Kampf wird hier und jetzt geführt und der Augenblick diktiert die Taktik.“

„Übersiehst du da nicht, dass es viele andere politische Probleme gibt, die einer Lösung harren, von der Umweltzerstörung in all ihren Variationen, Startbahn West, Wyhl, Gorleben, das Waldsterben, die Sovesogifte, der Rhein-Donau-Kanal über die Repressionen durch Polizei und Justiz bis zum Internationalismus von Polen bis Nicaragua?“ – „Sicher sehe ich das, aber man muss Akzente setzen können. Was nutzt uns ein gesunder Wald, wenn der Erdball in die Luft fliegt. Natürlich hebt das eine das andere nicht auf. Ich kann sowohl die atomare Aufrüstung bekämpfen wie auch die Startbahn West und dabei den armen Kerl im Auge behalten, der hilflos im Knast sitzt und sich gegen die Schikanen der Justiz wehrt, aber das Kernproblem bleibt nach wie vor, dass da ein paar Wahnsinnige sitzen und am Drücker spielen können und um sie herum leben Millionen und sind sich nicht darüber bewusst, dass sie auf einem Vulkan leben, der jeden Augenblick ausbrechen kann, oder sie wissen es und verdrängen das. Sie sitzen in unseren Parlamenten, sie haben die Medien in ihrer Hand, ihnen gehören die Unternehmen und Konzerne, sie überwachen und kontrollieren uns, sie sprechen Recht – oder besser gesagt Unrecht, sie verwalten Gesunde, Kranke, Kinder, Jugendliche, Penner, Gefangene, Süchtige, Alte, Behinderte, sie wiegen uns in den Schlaf mit Schlagern, Filmen, Opern, Operetten, Fernsehen, Videokassetten, Fußball, Theaterstücken, Romanen, Gedichten, Mallorca-Reisen, Jogging, Aerobic, Predigten und was weiß ich alles und verschleiern so das System des Wahnsinns. Da ist jedes Mittel recht, um den Schlaf der Gerechten und Selbstgerechten zu stören, um den Prozess der Sensibilisierung zu fördern, um durch Aufruhr, Ruhestörung, Verweigerung, Widerstand und Provokation die Schlafenden aus ihrer Ruhe aufzuschrecken und in München schlafen wir nun leider etwas fester als in Berlin, Zürich oder Frankfurt.“

„Aber was sich heute bei uns tut, davon wachen sie bestimmt nicht auf“, warf Herbert ein, „denk nur mal an die Kids, das kann man doch vergessen, oder glaubst du, die grüne Haarsträhne von Renate oder die Ohrringe der Punker können da etwas ändern. Das ist doch nichts weiter als Indianerspielerei, diese Spaziergänge durch die Stadt oder das Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Was soll das, das hat doch nichts mehr mit Politik zu tun.“ Peter mußte lächeln. Obwohl Herbert nur paar Jahre älter war als die Kids, wirkte er mitunter ihnen gegenüber alt. Er war in diesen Dingen oft etwas dogmatisch und richtete seine Kritik mehr auf Personen als auf Fakten.

„Ich bin da nicht ganz deiner Meinung,“ entgegnete Peter, „wenn sie heute auch noch glauben, was sie tun, wäre das etwas völlig Neues, noch nie Dagewesenes, ja wenn sie über uns lachen, oder besser gesagt uns auslachen, im Grunde sind sie doch die wahren Nachkommen der 60er Rebellion und nicht die Alternativscene, über die sie sich zu Recht lustig machen. Die haben sich tatsächlich längst von den Wurzeln der Rebellion entfernt und sind alternative Krämerseelen geworden, die Kräutertee verkaufen und die Rebellion auf ihre Art vermarkten. Die Kids sind echte Spontis, für sie ist die Rebellion noch Spiel, für uns wurde sie zur Institution, zum Ritual oder endete in theoretischen Selbstbefriedigungen. Vielleicht begann die Institutionalisierung schon im SDS, nicht umsonst kamen nach ihnen die K-Gruppen, die mit einem Salto rückwärts in den 20er und 30er Jahren landeten und die Geschichte wiederholen wollten, was natürlich schief ging, schief gehen musste, denn Geschichte wiederholt sich nicht und wenn, dann nur als Farce.

Die Kids aber begannen dort, wo die Beatniks, Gammler, Provos oder Hippies aufhörten, bei der Protestform des provokativen Lebens. Sic sind die Spaßguerilla unserer Tage und sie haben auch die Rockmusik weiterentwickelt zu neuen Ausdrucksformen, so wie wir die Stones und die Doors als Weiterentwicklung der Musik eines Bill Haley oder eines Elvis Presley ansahen, während der SDS Ernst Busch und die sozialistische Musik der 20er Jahre neu beleben wollte, was natürlich unmöglich war, weil es eine überholte Ausdrucksform war.“

„Und vor allem haben sie die Lust wieder entdeckt, während die Alternativscene in der Askese landete . Es darf wieder gelacht werden, das ist wichtig, denn nichts ist langweiliger als eine traurige Rebellion und nichts trostloser als eine sauertöpfische Jugend. Und es darf auch wieder gebumst werden, anstatt in Psychodiskussionen und Beziehungskisten langsam aber sicher zum Eunuchen zu werden. Da haben manche die Emanzipation in den falschen Hals bekommen und Lustfeindlichkeit aufs Programm gesetzt. Aber wie immer, wenn wir Deutsche etwas machen, geschieht es mit tierischem Ernst anstatt mit heiterer Gelassenheit. In anderen Ländern war eine derartige Fehlentwicklung unmöglich und auch unsere Zeitschriften und Zeitungen litten darunter, man konnte diese kleinkarierten Auseinandersetzungen nicht mehr lesen, das hat uns viele Leser gekostet und damit viele Jugendliche, die sich davon abgestoßen fühlen. Es darf auch wieder gefressen werden, anstatt verbittert und verbiestert sein Müsli zu mampfen. Was wir brauchen, sind fröhliche Festgelage und keinen alternativen Leichenschmaus, bei dem einem das Lachen vergeht. Die gesellschaftliche Veränderung, wie sie unser Pol Pot von Haidhausen an die Wand malte, hing wie ein Damoklesschwert über uns und innerlich hat sie kaum einer erwünscht.

Schon der Kommunismus scheiterte daran, dass er das Paradies auf Erdlen in eine ferne Zukunft verlegte und in der Gegenwart stets Entsagung, Verzicht und Opfer forderte. Übrigens wie alle Ismen, die den Menschen total erfassen wollen. Der Kriegskommunismus mag aus der Not geboren notwendig gewesen sein, aber wenn er sechzig, siebzig oder hundert Jahre anhält, dann ist etwas faul an der Sache. Lebensfeindlichkeit als Grundlage einer Gesellschaft ist keine anziehende Perspektive. Demgegenüber leuchtet die Forderung nach dem ‚Paradise Now!’ der Jungen wie eine Verheißung für jeden, der das Leben bejaht. Sie wollen jetzt und hier leben, lieben, Musik hören oder selber machen, tanzen, provozieren, sich antörnen, lachen, lustig sein, sie wollen die totale Befreiung des Menschen, nicht nur seine Befreiung aus ökonomischen Zwängen, auch aus sexuellen Zwängen, aus gesellschaftlichen Zwängen. Sie fordern Lebenslust und predigen nicht Askese. Askese ist stets ein Vorwand, um Menschen auf ein bestimmtes Ziel auszurichten, das weniger ihnen gilt, als einer Idee, die von Obergurus bestimmt wird.

Was die Kids heute praktizieren, das geht an die Substanz der Etablierten und wird ihnen allerhand zu schaffen machen. Sie wissen das, nicht umsonst hat sich die Repression längst auf jeden Freiraum konzentriert, den sich die Jungen geschaffen haben, sei es ein besetztes Haus, ein unabhängiges Jugendzentrum oder auch nur eine sich aus der staatlichen Kontrolle entziehende Clique. Sie wissen, dass die Domestizierung der Jugend Voraussetzung für das Funktionieren ihres Systems ist. Deswegen macht ihnen auch das wachsende Heer der jugendlichen Arbeitslosen zu schaffen, denn von dort wachsen den Kids Anhänger zu, Jugendliche, die nicht mehr nach Arbeit drängen, sondern das Leben genießen wollen. Vor den erwachsenen Arbeitslosen haben sie weniger Angst, die sind längst angepasst und können ohne Arbeit nicht mehr leben. Deshalb auch das Theater mit den Ausbildungsplätzen für Jugendliche, damit sie beschäftigt sind und nicht auf dumme Gedanken kommen. Dass sie später doch keine Arbeit bekommen, ist dem Staat egal, Hauptsache sie sind erst mal weg von der Straße. Sie wissen, was sie tun, wir sollten wissen. was wir zu tun haben …

Peter Schult


Die Aktion 26/27 von 1984, 353 ff.

Überraschung

Jahr: 1981
Bereich: Alternative Szene