Materialien 1959
Damals ohne Peter
Peter Schult gewidmet
1959. Wir wollten abhauen, fliehen aus dem Kinderheim, weg von den Nonnen. Im Sommer hatten es einige der Vierzehnjährigen gewagt. Hinter den Büschen am Johannisplatz könne man sich gut verstecken, die Brote und Apfel aus der Anstaltsküche würden den ersten Hunger stillen, in den Isarauen gäbe es Erdhöhlen zum sicheren Unterschlupf. Die Buben irrten durch die Stadt, hungerten, froren, wußten keinen Platz zum Schlafen. Meine Freunde blieben nicht lange unentdeckt. Ein Polizeiwagen lieferte sie ins Haidhauser Heim zurück, die Schwester Oberin beleidigte sie tadelnd vor den versammelten Zöglingen, eine Fürsorgerin vom Jugendamt holte sie ab in das weit entfernte Erziehungsheim.
ICH FAND KEIN ZUHAUSE … DAMALS: OHNE PETER!
Die Lehrer in der Kirchenschule mühten sich mit der Horde der Halbwüchsigen in unsrer überfüllten Klasse. Es blieb keine Zeit, die Klagen der Heimkinder zu hören. Keine Extratouren! Für die Anstaltsbuben wurde zu Weihnachten bei Mitschülern Geld für Geschenke gesammelt. Niemand beachtete unsere Scham, wenn wir ihre Päckchen nehmen mussten, uns bedankten, schnell die Kirchenstraße überquerten, um hinter der Anstaltsmauer zu verschwinden. Wir wurden nicht gefragt, mit uns wurde nicht lange gesprochen.
ICH HATTE KEINEN ZUHÖRER … DAMALS: OHNE PETER!
Die Nonnen warnten uns vor der Sünde der Fleischeslust, noch ehe wir unsre Begierden kannten. Im Beichtstuhl verstärkten Formeln unsre Furcht, nährten Drohungen den Ekel vor unsrem Körper. Stadtbuben erzählten uns von käuflicher Liebe, von Frauenbrüsten, von strafbarer Zärtlichkeit zwischen Männern. Geil schielten wir hinunter zu den halbnackten Leibern der Badenden, wenn unser Spaziergang über eine der Isarbrücken führte. Heimlich spürten wir unsre Lust, vereinten uns hastig, in Angst vor den Prügeln der strafenden Nonnen.
ICH WURDE NIE ZÄRTLICH BERÜHRT … DAMALS: OHNE PETER!
Ich floh in Träumen zu einem Menschen, einer Frau, einem Mann, der mich mit einem Kosenamen ansprach, mich zu Bier und Essen einlud, sein Zimmer mit mir teilte, mit mir Schallplatten hörte, mein Erzählen begleitete, meinen Haß mitfühlte, mit mir lachte, meinen nackten Knabenkörper liebkoste, mich brauchte.
Ich kannte keinen PETER in Haidhausen … damals: 1959.
Gustl Angstmann
Die Aktion 26/27 von 1984, 344.