Materialien 1976

Richter Sauters Lektion – nur für Schwule?

die wut und die angst, die der urteilstext in uns ausgelöst hat, ist zunächst unbeschreibbar. die scheinbar objektive richtersprache läßt nur zähneknirschend zu, dass wir sie ihrer autorität berauben. halbherzigen aufklärern wollen wir durch die darstellung unserer betroffenheit klar machen: das urteil richtet sich nicht nur gegen uns schwule, sondern gegen alle, die ihre sexualität nicht von den gesellschaftlichen unterdrückungsinstanzen abgesegnet haben wollen.

fast schon natürlich wirkt die tiefe überzeugung von richter sauter, dass wir schwulen einer fehlhaltung kleinerer bis größerer art unterliegen. unerwartet jedoch ist der missionarische auftrag an die bevölkerung, insbesondere an die schwulen selber, mitzuhelfen, einem mit diesem besonderen fehlverhalten belasteten menschen, für den heterosexuellen produktionsprozess zurückzugewinnen. richter sauter merkt scheinbar gar nicht, dass er der staatsmoral vorauseilt. hat jene noch vor nicht allzu langer zeit begriffen, dass prostitution notwendig ist, – nicht zuletzt zum „schutze“ der heterosexuellen jugend – zieht richter sauter das heterosexuelle bekehrungsprinzip ins feld. zwar gibt es prostitution, doch sollte sich jeder schwule hinter die ohren schreiben, dass im falle des rückgriffs auf diese marktgerechte befriedigungsart, den betroffenen prostituierten, wieder ein stückchen weiter weg bringt, von seiner moralischen wiedereingliederung in die gesellschaft. peter schult hat sich dieses staatsmoralischen vergehens schuldig gemacht. wir haben grund anzunehmen, dass die bekehrungswilligkeit eines hs nicht mit dem alter von 18 jahren erloschen ist.

eigentlich müsste es doch jeder vernünftige mensch einsehen, dass hs etwas schlechtes ist. das penetrante wiederholen der richterlichen sexualsprache (wechselseitige onanie bis zum samenerguss, wer rieb wo was?) soll stillschweigend eine objekttrennung festschreiben und von ideen ablenken, die eine einheit sehen. nun ist dieses richterliche argument die voraussetzung dafür, die logik der hs weiterentwickeln zu können.

wenn dem nämlich so ist, wie der richter sauter es sieht, – und noch dazu seine staatsmoralische brille dem leser förmlich aufdrängt – hat gerade die hs die eigenschaft, triebegoistisch all das sich einzuverleiben, was ihr in den weg kommt. dieses ziellose triebverhalten eines hs macht dann nicht einmal mehr halt vor der heterosexuellen geschlechtsbarriere: ob männchen oder weibchen spielt bis zur geschlechtsreife des kindes keine rolle. die hs des peter schult gibt quasi den grund dafür, dass die aussage der r.g. in den augen des richters stimmen muss. somit sieht das gericht großzügig von einem schärferen strafmass ab, weiß es doch, dank dieser glücklichen kombination der beiden fälle, dass ihm der triumpf bereits in der hand liegt.

somit hat richter sauter freie hand, die ergebnisse der beiden gutachter so auszulegen, wie es ihm gefällt, oder besser, wie es der heterosexuellen staatsmoral nur recht sein kann.

der versuch, die glaubwürdigkeit des kindes mit dieser oder jener aussage untermauern zu wollen, scheint in diesem zusammenhang fast belanglos zu sein. nicht belanglos aber scheint uns die tatsache, dass dem kind – bei annahme der richtigkeit seiner aussage – zwar beinahe alles zu oder abgeschrieben wurde (durchschnittliche intelligenz, suggestibilität, konstanz der aussage, kontrolle der phantasie, auditive merkfähigkeit, sexuelle neugierde, gestörtheit, neurotizismus etc.), die eigentliche frage aber nach der sexuellen erlebnisfähigkeit durch das staatsmoralische hetero-raster unmöglich machte.

spätestens an dieser stelle müßte jeder merken, um was es dem richterspruch geht:

um die leugnung der kindlichen sexualität und damit um den direkten eingriff des staates in die persönliche entwicklung des kindes.

um die zementierung der herrschenden zwangsheterosexualität, – wir sind zwar tolerant und aufgeklärt, aber lass dich ja nicht dabei erwischen, und schon gar nicht als linker!

um den umstand, dass jeder, der diese staatsmoral in frage stellt, genauso gefährlich einzuschätzen ist wie jemand, der die politische moral des staates bezweifelt.

HAM – homosexuelle aktion münchen


Peter Schult Dokumentation, München 1977, 15.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Alternative Szene